GdG geht in die Winterpause: Zum Jahresende legen auch wir die Füße hoch. Wir verabschieden uns mit Lektüretipps. Für den Fall, dass Ihnen bis zum 8. Januar der Lesestoff ausgeht oder Sie noch auf der Suche nach letzten Weihnachtsgeschenken sind.

  • GdG-Team

    Dies ist das gemeinsame Profil des Teams von Geschichte der Gegenwart. Die Liste aller Mitglieder finden Sie hier.

Karin Harrasser: Surazo, Berlin: Matthes & Seitz 2022.

Surazo ist eines der rasan­testen Bücher, die ich je gelesen habe. Karin Harrasser nimmt ihre Leser*innen mit auf die Reise von einer öster­rei­chi­schen Klein­stadt tief hinein in die Macht­struk­turen alter Missio­nar­s­kul­turen in Boli­vien und deren poli­ti­sche Verwick­lungen. Sie zeichnet Geschichten der soge­nannte Ratten­linie nach, den Flucht­li­nien von Nazis nach 1945, entlang der Biografie von Hans Ertl, Natur­filmer und ehemals Kame­ra­mann von Leni Riefen­stahl.  Sichtbar wird so, wie Alt-Nazis öffent­lich auftraten und ihre Vernet­zungen in der latein­ame­ri­ka­ni­schen Politik ausspielten, mitsamt ihren wirt­schaft­li­chen Alli­anzen. Ebenso sichtbar werden die Wider­stand­be­we­gungen, die im Falle Ertls dessen Tochter Monika voll­zieht, als sie sich der linken Gueril­la­or­ga­ni­sa­tion ELN anschließt. Diese inein­ander verschlun­genen Geschichten, in denen Karin Harrasser auch ein Stück ihrer Geschichte erzählt, die im Herkunftsort von Ertl beginnt, und ihre Reise­be­geg­nungen in Boli­vien einflechtet, ergeben ein eigen­sin­niges Gefüge, das die Verstri­ckungen zwischen rechter Politik, Reli­gion und Kolo­ni­al­kultur offen­legt. Ein Buch, fast filmisch verfasst, im Umher­schwenken, im Heran­zoomen, in Kipp­bil­dern, geschrieben in Such­be­we­gungen, die an den Rändern ansetzen und in ihrem Mäan­dern den Bann schlagen. (Jule Govrin)

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David Graeber: Bull­shit Jobs. A Theory, New York: Simon & Schuster 2018 (deutsch: Bull­shit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stutt­gart: Klett-Cotta 2019)

Wenn Kafka in heiterer Stim­mung eine signi­fi­kante Verän­de­rung der Arbeits­welt der Gegen­wart zum Thema eines Textes gemacht hätte, wäre viel­leicht Bull­shit Jobs dabei heraus­ge­kommen. Es handelt sich um ein Buch, das unter vielen anderen Bull­shit Jobs auch den Unter­schied zwischen Verwalten und Managen (im Geist von Public Manage­ment) wunderbar verdeut­licht. Wo z.B. einst in einer Insti­tu­tion eine Dienst­leis­tung erbracht wurde, etwa eine Rech­nung bezahlt, wird heute ein Tool erstellt, in dessen Bedie­nung die Rechnungssteller:in zunächst geschult wird, um die Rech­nung dann entspre­chend der Vorgaben des Systems selbst ins System einzu­pflegen, was wiederum von anderer Stelle über­wacht (control­ling) werden muss. So wird eine profes­sio­nelle Verwal­tungs­kratt durch drei bzw. vier Bull­shit Jobs ersetzt, von denen keiner der Bezah­lung von Rech­nungen dient. An den vielen neuen Schnitt­stellen können zudem vermehrt Fehler auftreten, was eine stetige Weiter­ent­wick­lung des Tools erfor­dert, aber erst nach erfolgter Evalua­tion (Bull­shit Job Nummer 5). Man liest und fühlt sich verstanden und das entspannt zutiefst. Denn schliess­lich liegen am Grund der meisten unge­lösten Konflikte zwei Probleme: nicht verstanden zu werden und nicht aner­kannt zu werden. Leider erleben die Inhaber:innen von Bull­shit Jobs beides täglich eben­falls: niemand versteht sie und die Aner­ken­nung ist auch rar. Und, anstatt die 15-Stundenwoche einzu­führen, was möglich wäre, arbeiten (wir) alle immer mehr. Bull­shit! (Gesine Krüger)

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Flix: Das Humboldt-Tier, Carlsen Verlag 2022.
Zidrou / Frank Pé: Die Bestie, Carlsen Verlag 2021.

In seinem Hand­buch der fantas­ti­schen Zoologie (1957) hat Jorge Luis Borges ein imagi­näres Tier­chen vergessen: Nämlich das aus den Tiefen des palum­bia­ni­schen Dschun­gels stam­mende Marsu­pi­lami. Dieses amphi­bi­sche Wesen mit gelbem Fell, schwarzen Punkten und einem neun Meter langen Schwanz (der erstaun­liche Dinge voll­bringen kann) besitzt eine große Portion Neugier und ist, wie sein Name Marsupil-ami sagt, der beste Freund einsamer Kinder. Zum ersten Mal tauchte es im Januar 1952 in André Fran­quins legen­dären Comics von Spirou und Fantasio auf, doch erfreu­li­cher­weise erlebt es immer wieder neue Aben­teuer. Es ist eine der inter­es­san­testen Entwick­lungen der Comic-Szene, dass klas­si­sche Figuren wie Spirou oder das Marsu­pi­lami anspruchs­volle Aktua­li­sie­rungen erleben. Zu empfehlen wäre da erstens der groß­for­ma­tige und spek­ta­kulär gezeich­nete Band der belgi­schen Autoren Zidrou und Frank Pé: Die Bestie (2021). Im düsteren Belgien der Nach­kriegs­jahre taucht ein Marsu­pi­lami auf, das in seiner Wild­heit alle Normen der Gesell­schaft in Frage stellt und genau deshalb dem vater­losen Außen­seiter Fran­çois Hoff­nung gibt. Zwei­tens sollte der Band Das Humboldt-Tier (2022) des deut­schen Zeich­ners Flix auf keiner Geschenk­liste für Kinder von 8 bis 88 fehlen. Mit dieser Publi­ka­tion erfahren wir, dass bereits Alex­ander von Humboldt das Marsu­pi­lami nach Berlin bringt, wo es einen magi­schen hundert­fünf­zig­jäh­rigen Schlaf tut, nur um in den 1930er-Jahren wieder aufzu­wa­chen. Das Marsu­pi­lami (das noch gar nicht so heißt) verdrischt Nazis, vor allem aber freundet es sich mit der kleinen Mimmi Löwen­stein an, die sich eben­falls sehn­lichst einen Papa wünscht. Also eine Weih­nachts­ge­schichte der besten Art! Beson­ders empfeh­lens­wert ist auch die aufwendig gestal­tete Deluxe-Version, in der durch­ge­hend die Skizzen mit den farbigen Seiten gegen­über­ge­stellt sind. (Caspar Battegay)

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Emily St. John Mandel: Station Eleven, New York: Picador 2014 (deutsch: Station Eleven. Das Licht der letzten Tage, aus dem Ameri­ka­ni­schen von Wibke Kuhn, Berlin: Ullstein 2022)
Station Eleven. Creator: Patrick Somer­ville, USA, HBO 2021. 

Wenn es einen post­apo­ka­lyp­ti­schen Roman gibt, der Zukunft nicht nur als Gegen­wart, sondern als Geschichte der Gegen­wart erzählt, dann ist es Emily St. John Mandels Station Eleven von 2014. Dieses Buch ist zwar schon lange kein Geheim­tipp mehr, was mit seiner etwas unheim­li­chen Karriere zu tun hat. Station Eleven wurde im Früh­ling 2020 von der Wirk­lich­keit einge­holt – wenn auch zum Glück nicht überholt: Im Roman stirbt 99 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung innert weniger Tage an einem äußerst aggres­siven Grip­pe­virus. Der Weg zum Best­steller war damit vorge­zeichnet, und die – bereits vor der Covid19-Pandemie geplante – klug gemachte und melancholisch-berührende Adap­tion als TV-Serie auf HBO trug den Rest zum Erfolg bei.

Warum ich Station Eleven als trans­me­diales Gesamt­paket aus Roman und Serie dennoch sehr empfehlen möchte, liegt daran, dass es darin gar nicht so sehr um die Pandemie geht, sondern um die Suche nach anderen Formen von Zeit­lich­keit. Roman und Serie brechen aus der Linea­rität des Erzäh­lens aus, indem sie Elemente aus Vergan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft verflechten, auf ebenso kunst­volle wie verstö­rende Weise. Hamlet und King Lear sind genauso lebendig wie die vielen toten Eltern und Geliebten, die sich geis­ter­haft auf die Bühnen drängen, wenn Shake­speares Dramen von einer post­pan­de­mi­schen Wanderschauspieler:innentruppe aufge­führt werden. Ebenso untot sind die alten tech­no­lo­gi­schen Gagdets im «Museum of Civi­liza­tion» oder ein die Science-Fiction-Welt eines erfun­denen Comics mit dem Titel Station Eleven. Medien, die immer wieder ihren Aggre­gats­zu­stand wech­seln, die ständig zwischen Geis­tern und leben­digen Körpern zirku­lieren und aus Fiktionen, Fanta­sien und Erin­ne­rungen Wirk­lich­keit schaffen, sind die eigent­li­chen Haupt­fi­guren von Station Eleven. So gelingt ein Entwurf einer von digi­talen Raum­fan­ta­sien geprägten Gesell­schaft – in einer Zukunft, in der Tech­no­logie Vergan­gen­heit ist. (Chris­tine Lötscher)

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Ian McEwan: Lektionen, Roman, aus dem Engli­schen von Bern­hard Robben, Zürich: Diogenes 2022 (London 2022).

Der große briti­sche Autor Ian McEwan hat einen vom Zürcher Diogenes-Verlag in hand­li­cher Form präsen­tierten 700-Seiten-Roman geschrieben, der sich so leicht liest wie eine unter­halt­same Novelle und der so tief­sinnig ist wie ein Traktat über die großen Fragen des Lebens. Verwoben mit den durch Radio, Fern­sehen und viel­fäl­tige Erin­ne­rungen in den Alltag eindrin­genden welt­ge­schicht­li­chen Ereig­nissen vom Zweiten Welt­krieg bis zur Corona-Pandemie, entfaltet McEwan in leicht­füßig wech­selnden Vor- und Rück­blenden die Lebens­ge­schichte des nicht beson­ders erfolg­rei­chen Dich­ters Roland Baines. Dessen Drama – ist es wirk­lich eines? – beginnt 1958 in einer Klavier­stunde bei einer über­grif­figen Klavier­leh­rerin, die künftig seine Träume und Fanta­sien besetzen wird, und zugleich im Jahr 1986, als die Wolke von Tscher­nobyl sich Groß­bri­tan­nien nähert und Roland gerade zusammen mit dem vier Monate alten Baby von seiner Frau Alissa verlassen wurde. Warum tat sie das? Und war Rolands Schmerz den Preis wert, dass sie später zu einer wirk­lich bedeu­tenden Autorin wird? Roland jeden­falls, dessen Biografie in Teilen jener von McEwan gleicht, hat allen Grund, sich zu fragen, was einem im Leben prägt. Die Kind­heit als Sohn eines briti­schen Offi­ziers in Libyen? Die Klavier­leh­rerin? Das Internat in England, in das seine Eltern ihn mit elf verfrachtet haben? Von Alissa verlassen zu werden? Oder sind es die „großen“, die globalen Ereig­nisse wie der Mauer­fall in Berlin, den er in Ostberlin erlebt? Es ist jeden­falls vieles, was man nicht selbst gewählt hat. Das eigene, unspek­ta­ku­läre Leben deshalb gering­zu­schätzen, stünde dennoch allem entgegen, was uns McEwans Kunst lehren kann. (Philipp Sarasin)

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Adel­heid Duvanel: Fern von hier. Sämt­liche Erzäh­lungen, Zürich: Limmat Verlag 2021.

Es sind merk­wür­dige Figuren, denen wir in den Erzäh­lungen von Adel­heid Duvanel begegnen. Alle sind sie vom Leben gezeichnet, von Erfah­rungen, die sie verschroben gemacht haben. Mit einer gera­dezu unheim­li­chen Genau­ig­keit beschreibt Duvanel in ihren kurzen Geschichten das – wie soll man es nennen? – Schicksal ihrer Figuren, die im Grunde blind sind für die Verhält­nisse, in denen sie stecken. Unheim­lich ist der Blick auf sie, weil mit jeder Erzäh­lung von Neuem völlig rätsel­haft bleibt, aus welchem (seiner­seits wohl verschro­benen) Winkel die Welt dieser Geschöpfe und der oft unver­meid­lich schei­nende Lauf ihrer Exis­tenz geschaffen und beschrieben wird. Was wird da – im Lesen wiederum – wirklich?

Duvanel selbst behaup­tete von ihren Figuren, sie seien „wie schwe­bend“: „Als wären sie losge­löst von der Erde und würden, ja, schweben.“ Man könnte auch sagen: als hätte man ihnen den Boden unter den Füßen wegge­zogen. Vor einem Jahr haben Elsbeth Dangel-Pelloquin und Frie­de­rike Kretzen die mehr­heit­lich zwischen 1980 und dem Tod der Basler Autorin 1996 entstan­denen Erzäh­lungen wieder zugäng­lich gemacht: 251 Stück auf gut 700 Seiten. Man hat diese Wieder­ent­de­ckung im vergan­genen Jahr gefeiert. Die Scham darüber, dass man die Autorin und ihre unfassbar gut geschrie­benen Texte über­haupt vergessen oder zuvor igno­rieren konnte, ist geblieben. Was man dagegen tun kann? Lesen! (Sandro Zanetti)

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Grit Lemke: Kinder von Hoy. Frei­heit, Glück und Terror, Roman, Berlin: Suhr­kamp 2021.

Als im September 1991 in Hoyers­werda junge Männer die Unter­künfte von Arbeitsmigrant:innen und Geflüch­teten angriffen, schien vielen Beob­ach­tern im Westen die Sache klar: Diese Gewalt sei Erbe der DDR, in deren erzwun­gener Enge die Gewalt­täter aufge­wachsen waren. Die Doku­men­tar­fil­merin Grit Lemke hat nun ein Buch über die Kinder von Hoy geschrieben. Selbst in Hoyers­werda aufge­wachsen, erzählt sie vom Groß­werden in einer Stadt, die der Takt der Schicht­ar­beit ebenso bestimmte wie ein Gefühl des Aufbruchs. Stadt­mo­delle veran­schau­li­chen ihre Verspre­chungen, die die zahl­losen Arbeits­kräfte anziehen. Doch dort, wo einmal Kultur­pa­last und Kauf­halle entstehen sollen, klaffen noch Brach­flä­chen. Planen und Impro­vi­sieren gehören in Hoyers­werda zusammen. Beides öffnet Zusam­men­halt im Kollektiv und Räume zur Selbst­ent­fal­tung, die Lemke und ihre Clique in Frei­zeit­la­gern, den gigan­ti­schen Wohn­kom­plexen und Baulü­cken ebenso finden wie in Theater und Musik. Nur die kinder­losen Ausländer, die eben­falls im Gaswerk «Schwarze Pumpe» arbeiten, bleiben außen vor.

Lemkes Roman, der auf Gesprä­chen mit ihren Jugendfreund:innen gründet, ist roman­ti­sche Kind­heits­er­in­ne­rung und kriti­sche Selbst­be­fra­gung. Die Gespräche, aus denen das Buch ausführ­lich zitiert, verdich­tete sie zu einem fesselnden Portrait gemein­samer Erfah­rung, das lange Zeit das Portrait einer ganzen Gene­ra­tion ist – bis es Mauer­fall, Wende und das rassis­ti­sche Pogrom zu dem einer Minder­heit werden lassen, die die Gewalt nicht hat kommen sehen, sie ebenso wenig versteht wie die Beob­achter im Westen, aber nun unter ihr in Angst und Ohnmacht lebt. Aufbruch findet sich nur noch andern­orts. Nicht mehr in der gerade erst fertigen Indus­trie­stadt, deren Rückbau nun beginnt. Es dauert, bis die Stadt­ju­gend in Hoyers­werda neue Frei­räume für neue Aufbrüche findet. Ein groß­ar­tiges Buch über Kind­heit und Freund­schaft, über Hoff­nungen und Enttäu­schung, die Zwänge und Frei­heiten der DDR, über Rassismus und Gewalt und die Kraft, die sich in Kunst und Kultur finden lässt.(Janosch Steuwer)

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Joe Muggs (Text), Brian David Stevens (Photos): Bass, Mids, Tops. An Oral History of Sound System Culture, London: Strange Attractor Press 2020.

Die briti­sche Club­kultur passt nicht in die herkömm­liche Erzäh­lung über elek­tro­ni­sche Tanz­musik auf ihrem Weg von Chicago und Detroit über Konti­nen­tal­eu­ropa und schließ­lich rund um den Erdball. Die maßgeb­li­chen musi­ka­li­schen Wurzeln liegen hier woan­ders – nämlich in den musi­ka­li­schen Ästhe­tiken und Prak­tiken der kari­bi­schen, v.a. jamai­ka­ni­schen Migrant:innen ab den 1970er Jahren, die ihre eigene Popu­lär­musik, den Reggae und Dub, in ihren Commu­ni­ties über selbst­ge­baute Anlagen, die soge­nannten Sound­sys­tems, öffent­lich abspielten. Eben­jene „Sound System Culture“ sieht der Musik­jour­na­list Joe Muggs als prägend für eine ganze Tradi­ti­ons­linie von Musik­stilen und -szenen, die ab den späten 1980er Jahren die briti­sche Club­kultur domi­nierten und immer wieder auch inter­na­tional ausstrahlten – Acid House, Jungle, Trip-Hop, Drum & Bass, Dubstep, Grime und weitere von Bass und Break­beats domi­nierten Spiel­arten elek­tro­ni­scher Tanz­musik. Die ästhe­ti­schen, perso­nellen und perfor­ma­tiven Konti­nui­täten und Brüche dieses Tradi­ti­ons­stranges legt dieser Inter­view­band mit Protagonist:innen der letzten 40 Jahre anschau­lich offen.

Man muss weder Fan noch Musik-Nerd sein, um sich der Faszi­na­tion dieser knapp 500 Seiten hinzu­geben. Die von Muggs befragten Protagonist:innen – von Dub-Urgesteinen wie Dennis Bovell und Adrian Sher­wood, über Held:innen der Trip-Hop-Welle der 1990er wie Nico­lette und Rob Smith, bis hin zu jungen Post-Dubstep- und Grime-DJanes und -Produ­zen­tinnen wie Cooly G und Barely Legal – legen einen Blick auf die lebens­welt­li­chen, poli­ti­schen und alltags­prak­ti­schen Veror­tungen ihrer musi­ka­li­schen Karrieren offen. Und es ist ein Vergnügen, ihnen dabei zu folgen – durch die Londoner Punk- -WGs, die Lagerhallen-Raves in Manchester, die Hoch­haus­sied­lungen in Tottenham und die Keller­clubs in Croydon. Es ist nicht nur ein Einblick in einen zentralen und wirk­mäch­tigen Tradi­ti­ons­strang euro­päi­scher Popkultur, sondern auch Mate­ri­al­stein­bruch für eine Kultur- und Alltags­ge­schichte des (post-)thatcherschen, selbst­ver­ständ­lich multi­kul­tu­rellen, dabei aber sozial atomi­sierten Groß­bri­tan­nien, wo Verge­mein­schaf­tung über Musik­kultur eine umso größere Rolle spielt, zugleich aber auch ihre in Wellen aufkom­mende Über­kom­mer­zia­li­sie­rung und das immer wieder darauf­fol­gende Abtau­chen in den «Unter­grund». In diesem Span­nungs­feld sind die hier geschil­derten Karrieren und Lebens­läufe ange­sie­delt – zwischen extremem Do-It-Yourself (man staunt beim Lesen immer wieder, wie jung die Protagonist:innen auf dem Höhe­punkt ihres Schaf­fens waren und mit welch tech­nisch primi­tiven Mitteln ihre Musik entstand) und zuweilen ebenso extremen Erwar­tungen, mit dem neuen Stil das «nächste große Ding» zu landen, was, v.a. im Falle von UK Garage in den frühen 2000ern, zu (Selbst-)Ausbeutung, Drogen, Gewalt und einer Implo­sion der Szene führte. Über Monate hinweg war der Band meine Nachttisch-Lektüre, und ich kann ihn allen an Musik­kul­turen Inter­es­sierten nur empfehlen – nicht zuletzt, um beim Phänomen der Club­kultur den Blick nicht nur über den Atlantik, sondern auch über den Ärmel­kanal zu richten. (Gleb J. Albert)

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Im Krieg. Ukraine, Belarus, Russ­land, Leipzig: Spector Books 2022.

Seit wir Geschichte der Gegen­wart 2016 ins Leben gerufen haben, haben wir uns auch immer wieder mit der Ukraine, Belarus und Russ­land  beschäf­tigt.  Etwa in einem Inter­view mit dem Thea­ter­ma­cher Georg Genoux, der mit der ukrai­ni­schen Regis­seurin Natalya Vorozhbyt 2015 das „Theatre of Displaced People“ grün­dete. Oder in einem Gespräch mit dem russi­schen Philo­so­phen Michail Ryklin, der vom Puti­nismus als eine Poli­ti­sie­rung der Geheim­dienst­me­thoden gespro­chen hat. Oder in Arti­keln über die Agen­ten­ge­setze in Russ­land, die Revo­lu­tion in Belarus, über das Verbot von Memo­rial im Dezember 2021.

Als uns im Früh­ling der Leip­ziger Verlag spector books vorge­schlagen hat, unsere Artikel auch als Buch zu bringen, haben wir zuge­stimmt. Jetzt ist das Buch da: Geschichte der Gegen­wart Reader: Im Krieg. Ukraine, Belarus, Russ­land.

Das Buch versam­melt die Essays und Inter­views in rück­läu­figer Chro­no­logie und reflek­tiert damit den Stand­punkt, von dem aus wir auf diese Texte heute schauen: zurück in eine Vergan­gen­heit, in der der weitere Gang der Geschichte noch offen war. Wie ist es, die Beiträge heute wieder zu lesen? Was an ihnen ist noch immer aktuell, was erwies sich als Trug­schluss? Wie hat sich unser Blick auf den Krieg in den letzten Jahren gewan­delt? Rück­wärts gelesen enthält der Band damit nicht nur noch immer gültige Analysen und Beob­ach­tungen der russi­schen Aggres­sion in der Ukraine, des Wider­stands in Belarus und in Russ­land und des zuneh­menden Faschismus unter Putin. Er lädt auch zu einer Begeg­nung mit vergan­genen Analysen, Beob­ach­tungen und Vorher­sagen ein, die davon erzählen, was man vom Krieg wissen konnte und nicht wusste. (GdG)