Karin Harrasser: Surazo, Berlin: Matthes & Seitz 2022.
Surazo ist eines der rasantesten Bücher, die ich je gelesen habe. Karin Harrasser nimmt ihre Leser*innen mit auf die Reise von einer österreichischen Kleinstadt tief hinein in die Machtstrukturen alter Missionarskulturen in Bolivien und deren politische Verwicklungen. Sie zeichnet Geschichten der sogenannte Rattenlinie nach, den Fluchtlinien von Nazis nach 1945, entlang der Biografie von Hans Ertl, Naturfilmer und ehemals Kameramann von Leni Riefenstahl. Sichtbar wird so, wie Alt-Nazis öffentlich auftraten und ihre Vernetzungen in der lateinamerikanischen Politik ausspielten, mitsamt ihren wirtschaftlichen Allianzen. Ebenso sichtbar werden die Widerstandbewegungen, die im Falle Ertls dessen Tochter Monika vollzieht, als sie sich der linken Guerillaorganisation ELN anschließt. Diese ineinander verschlungenen Geschichten, in denen Karin Harrasser auch ein Stück ihrer Geschichte erzählt, die im Herkunftsort von Ertl beginnt, und ihre Reisebegegnungen in Bolivien einflechtet, ergeben ein eigensinniges Gefüge, das die Verstrickungen zwischen rechter Politik, Religion und Kolonialkultur offenlegt. Ein Buch, fast filmisch verfasst, im Umherschwenken, im Heranzoomen, in Kippbildern, geschrieben in Suchbewegungen, die an den Rändern ansetzen und in ihrem Mäandern den Bann schlagen. (Jule Govrin)
***
David Graeber: Bullshit Jobs. A Theory, New York: Simon & Schuster 2018 (deutsch: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stuttgart: Klett-Cotta 2019)
Wenn Kafka in heiterer Stimmung eine signifikante Veränderung der Arbeitswelt der Gegenwart zum Thema eines Textes gemacht hätte, wäre vielleicht Bullshit Jobs dabei herausgekommen. Es handelt sich um ein Buch, das unter vielen anderen Bullshit Jobs auch den Unterschied zwischen Verwalten und Managen (im Geist von Public Management) wunderbar verdeutlicht. Wo z.B. einst in einer Institution eine Dienstleistung erbracht wurde, etwa eine Rechnung bezahlt, wird heute ein Tool erstellt, in dessen Bedienung die Rechnungssteller:in zunächst geschult wird, um die Rechnung dann entsprechend der Vorgaben des Systems selbst ins System einzupflegen, was wiederum von anderer Stelle überwacht (controlling) werden muss. So wird eine professionelle Verwaltungskratt durch drei bzw. vier Bullshit Jobs ersetzt, von denen keiner der Bezahlung von Rechnungen dient. An den vielen neuen Schnittstellen können zudem vermehrt Fehler auftreten, was eine stetige Weiterentwicklung des Tools erfordert, aber erst nach erfolgter Evaluation (Bullshit Job Nummer 5). Man liest und fühlt sich verstanden und das entspannt zutiefst. Denn schliesslich liegen am Grund der meisten ungelösten Konflikte zwei Probleme: nicht verstanden zu werden und nicht anerkannt zu werden. Leider erleben die Inhaber:innen von Bullshit Jobs beides täglich ebenfalls: niemand versteht sie und die Anerkennung ist auch rar. Und, anstatt die 15-Stundenwoche einzuführen, was möglich wäre, arbeiten (wir) alle immer mehr. Bullshit! (Gesine Krüger)
***
Flix: Das Humboldt-Tier, Carlsen Verlag 2022.
Zidrou / Frank Pé: Die Bestie, Carlsen Verlag 2021.
In seinem Handbuch der fantastischen Zoologie (1957) hat Jorge Luis Borges ein imaginäres Tierchen vergessen: Nämlich das aus den Tiefen des palumbianischen Dschungels stammende Marsupilami. Dieses amphibische Wesen mit gelbem Fell, schwarzen Punkten und einem neun Meter langen Schwanz (der erstaunliche Dinge vollbringen kann) besitzt eine große Portion Neugier und ist, wie sein Name Marsupil-ami sagt, der beste Freund einsamer Kinder. Zum ersten Mal tauchte es im Januar 1952 in André Franquins legendären Comics von Spirou und Fantasio auf, doch erfreulicherweise erlebt es immer wieder neue Abenteuer. Es ist eine der interessantesten Entwicklungen der Comic-Szene, dass klassische Figuren wie Spirou oder das Marsupilami anspruchsvolle Aktualisierungen erleben. Zu empfehlen wäre da erstens der großformatige und spektakulär gezeichnete Band der belgischen Autoren Zidrou und Frank Pé: Die Bestie (2021). Im düsteren Belgien der Nachkriegsjahre taucht ein Marsupilami auf, das in seiner Wildheit alle Normen der Gesellschaft in Frage stellt und genau deshalb dem vaterlosen Außenseiter François Hoffnung gibt. Zweitens sollte der Band Das Humboldt-Tier (2022) des deutschen Zeichners Flix auf keiner Geschenkliste für Kinder von 8 bis 88 fehlen. Mit dieser Publikation erfahren wir, dass bereits Alexander von Humboldt das Marsupilami nach Berlin bringt, wo es einen magischen hundertfünfzigjährigen Schlaf tut, nur um in den 1930er-Jahren wieder aufzuwachen. Das Marsupilami (das noch gar nicht so heißt) verdrischt Nazis, vor allem aber freundet es sich mit der kleinen Mimmi Löwenstein an, die sich ebenfalls sehnlichst einen Papa wünscht. Also eine Weihnachtsgeschichte der besten Art! Besonders empfehlenswert ist auch die aufwendig gestaltete Deluxe-Version, in der durchgehend die Skizzen mit den farbigen Seiten gegenübergestellt sind. (Caspar Battegay)
***
Emily St. John Mandel: Station Eleven, New York: Picador 2014 (deutsch: Station Eleven. Das Licht der letzten Tage, aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn, Berlin: Ullstein 2022)
Station Eleven. Creator: Patrick Somerville, USA, HBO 2021.
Wenn es einen postapokalyptischen Roman gibt, der Zukunft nicht nur als Gegenwart, sondern als Geschichte der Gegenwart erzählt, dann ist es Emily St. John Mandels Station Eleven von 2014. Dieses Buch ist zwar schon lange kein Geheimtipp mehr, was mit seiner etwas unheimlichen Karriere zu tun hat. Station Eleven wurde im Frühling 2020 von der Wirklichkeit eingeholt – wenn auch zum Glück nicht überholt: Im Roman stirbt 99 Prozent der Weltbevölkerung innert weniger Tage an einem äußerst aggressiven Grippevirus. Der Weg zum Beststeller war damit vorgezeichnet, und die – bereits vor der Covid19-Pandemie geplante – klug gemachte und melancholisch-berührende Adaption als TV-Serie auf HBO trug den Rest zum Erfolg bei.
Warum ich Station Eleven als transmediales Gesamtpaket aus Roman und Serie dennoch sehr empfehlen möchte, liegt daran, dass es darin gar nicht so sehr um die Pandemie geht, sondern um die Suche nach anderen Formen von Zeitlichkeit. Roman und Serie brechen aus der Linearität des Erzählens aus, indem sie Elemente aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verflechten, auf ebenso kunstvolle wie verstörende Weise. Hamlet und King Lear sind genauso lebendig wie die vielen toten Eltern und Geliebten, die sich geisterhaft auf die Bühnen drängen, wenn Shakespeares Dramen von einer postpandemischen Wanderschauspieler:innentruppe aufgeführt werden. Ebenso untot sind die alten technologischen Gagdets im «Museum of Civilization» oder ein die Science-Fiction-Welt eines erfundenen Comics mit dem Titel Station Eleven. Medien, die immer wieder ihren Aggregatszustand wechseln, die ständig zwischen Geistern und lebendigen Körpern zirkulieren und aus Fiktionen, Fantasien und Erinnerungen Wirklichkeit schaffen, sind die eigentlichen Hauptfiguren von Station Eleven. So gelingt ein Entwurf einer von digitalen Raumfantasien geprägten Gesellschaft – in einer Zukunft, in der Technologie Vergangenheit ist. (Christine Lötscher)
***
Ian McEwan: Lektionen, Roman, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Zürich: Diogenes 2022 (London 2022).
Der große britische Autor Ian McEwan hat einen vom Zürcher Diogenes-Verlag in handlicher Form präsentierten 700-Seiten-Roman geschrieben, der sich so leicht liest wie eine unterhaltsame Novelle und der so tiefsinnig ist wie ein Traktat über die großen Fragen des Lebens. Verwoben mit den durch Radio, Fernsehen und vielfältige Erinnerungen in den Alltag eindringenden weltgeschichtlichen Ereignissen vom Zweiten Weltkrieg bis zur Corona-Pandemie, entfaltet McEwan in leichtfüßig wechselnden Vor- und Rückblenden die Lebensgeschichte des nicht besonders erfolgreichen Dichters Roland Baines. Dessen Drama – ist es wirklich eines? – beginnt 1958 in einer Klavierstunde bei einer übergriffigen Klavierlehrerin, die künftig seine Träume und Fantasien besetzen wird, und zugleich im Jahr 1986, als die Wolke von Tschernobyl sich Großbritannien nähert und Roland gerade zusammen mit dem vier Monate alten Baby von seiner Frau Alissa verlassen wurde. Warum tat sie das? Und war Rolands Schmerz den Preis wert, dass sie später zu einer wirklich bedeutenden Autorin wird? Roland jedenfalls, dessen Biografie in Teilen jener von McEwan gleicht, hat allen Grund, sich zu fragen, was einem im Leben prägt. Die Kindheit als Sohn eines britischen Offiziers in Libyen? Die Klavierlehrerin? Das Internat in England, in das seine Eltern ihn mit elf verfrachtet haben? Von Alissa verlassen zu werden? Oder sind es die „großen“, die globalen Ereignisse wie der Mauerfall in Berlin, den er in Ostberlin erlebt? Es ist jedenfalls vieles, was man nicht selbst gewählt hat. Das eigene, unspektakuläre Leben deshalb geringzuschätzen, stünde dennoch allem entgegen, was uns McEwans Kunst lehren kann. (Philipp Sarasin)
***
Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen, Zürich: Limmat Verlag 2021.
Es sind merkwürdige Figuren, denen wir in den Erzählungen von Adelheid Duvanel begegnen. Alle sind sie vom Leben gezeichnet, von Erfahrungen, die sie verschroben gemacht haben. Mit einer geradezu unheimlichen Genauigkeit beschreibt Duvanel in ihren kurzen Geschichten das – wie soll man es nennen? – Schicksal ihrer Figuren, die im Grunde blind sind für die Verhältnisse, in denen sie stecken. Unheimlich ist der Blick auf sie, weil mit jeder Erzählung von Neuem völlig rätselhaft bleibt, aus welchem (seinerseits wohl verschrobenen) Winkel die Welt dieser Geschöpfe und der oft unvermeidlich scheinende Lauf ihrer Existenz geschaffen und beschrieben wird. Was wird da – im Lesen wiederum – wirklich?
Duvanel selbst behauptete von ihren Figuren, sie seien „wie schwebend“: „Als wären sie losgelöst von der Erde und würden, ja, schweben.“ Man könnte auch sagen: als hätte man ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Vor einem Jahr haben Elsbeth Dangel-Pelloquin und Friederike Kretzen die mehrheitlich zwischen 1980 und dem Tod der Basler Autorin 1996 entstandenen Erzählungen wieder zugänglich gemacht: 251 Stück auf gut 700 Seiten. Man hat diese Wiederentdeckung im vergangenen Jahr gefeiert. Die Scham darüber, dass man die Autorin und ihre unfassbar gut geschriebenen Texte überhaupt vergessen oder zuvor ignorieren konnte, ist geblieben. Was man dagegen tun kann? Lesen! (Sandro Zanetti)
***
Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror, Roman, Berlin: Suhrkamp 2021.
Als im September 1991 in Hoyerswerda junge Männer die Unterkünfte von Arbeitsmigrant:innen und Geflüchteten angriffen, schien vielen Beobachtern im Westen die Sache klar: Diese Gewalt sei Erbe der DDR, in deren erzwungener Enge die Gewalttäter aufgewachsen waren. Die Dokumentarfilmerin Grit Lemke hat nun ein Buch über die Kinder von Hoy geschrieben. Selbst in Hoyerswerda aufgewachsen, erzählt sie vom Großwerden in einer Stadt, die der Takt der Schichtarbeit ebenso bestimmte wie ein Gefühl des Aufbruchs. Stadtmodelle veranschaulichen ihre Versprechungen, die die zahllosen Arbeitskräfte anziehen. Doch dort, wo einmal Kulturpalast und Kaufhalle entstehen sollen, klaffen noch Brachflächen. Planen und Improvisieren gehören in Hoyerswerda zusammen. Beides öffnet Zusammenhalt im Kollektiv und Räume zur Selbstentfaltung, die Lemke und ihre Clique in Freizeitlagern, den gigantischen Wohnkomplexen und Baulücken ebenso finden wie in Theater und Musik. Nur die kinderlosen Ausländer, die ebenfalls im Gaswerk «Schwarze Pumpe» arbeiten, bleiben außen vor.
Lemkes Roman, der auf Gesprächen mit ihren Jugendfreund:innen gründet, ist romantische Kindheitserinnerung und kritische Selbstbefragung. Die Gespräche, aus denen das Buch ausführlich zitiert, verdichtete sie zu einem fesselnden Portrait gemeinsamer Erfahrung, das lange Zeit das Portrait einer ganzen Generation ist – bis es Mauerfall, Wende und das rassistische Pogrom zu dem einer Minderheit werden lassen, die die Gewalt nicht hat kommen sehen, sie ebenso wenig versteht wie die Beobachter im Westen, aber nun unter ihr in Angst und Ohnmacht lebt. Aufbruch findet sich nur noch andernorts. Nicht mehr in der gerade erst fertigen Industriestadt, deren Rückbau nun beginnt. Es dauert, bis die Stadtjugend in Hoyerswerda neue Freiräume für neue Aufbrüche findet. Ein großartiges Buch über Kindheit und Freundschaft, über Hoffnungen und Enttäuschung, die Zwänge und Freiheiten der DDR, über Rassismus und Gewalt und die Kraft, die sich in Kunst und Kultur finden lässt.(Janosch Steuwer)
***
Joe Muggs (Text), Brian David Stevens (Photos): Bass, Mids, Tops. An Oral History of Sound System Culture, London: Strange Attractor Press 2020.
Die britische Clubkultur passt nicht in die herkömmliche Erzählung über elektronische Tanzmusik auf ihrem Weg von Chicago und Detroit über Kontinentaleuropa und schließlich rund um den Erdball. Die maßgeblichen musikalischen Wurzeln liegen hier woanders – nämlich in den musikalischen Ästhetiken und Praktiken der karibischen, v.a. jamaikanischen Migrant:innen ab den 1970er Jahren, die ihre eigene Populärmusik, den Reggae und Dub, in ihren Communities über selbstgebaute Anlagen, die sogenannten Soundsystems, öffentlich abspielten. Ebenjene „Sound System Culture“ sieht der Musikjournalist Joe Muggs als prägend für eine ganze Traditionslinie von Musikstilen und -szenen, die ab den späten 1980er Jahren die britische Clubkultur dominierten und immer wieder auch international ausstrahlten – Acid House, Jungle, Trip-Hop, Drum & Bass, Dubstep, Grime und weitere von Bass und Breakbeats dominierten Spielarten elektronischer Tanzmusik. Die ästhetischen, personellen und performativen Kontinuitäten und Brüche dieses Traditionsstranges legt dieser Interviewband mit Protagonist:innen der letzten 40 Jahre anschaulich offen.
Man muss weder Fan noch Musik-Nerd sein, um sich der Faszination dieser knapp 500 Seiten hinzugeben. Die von Muggs befragten Protagonist:innen – von Dub-Urgesteinen wie Dennis Bovell und Adrian Sherwood, über Held:innen der Trip-Hop-Welle der 1990er wie Nicolette und Rob Smith, bis hin zu jungen Post-Dubstep- und Grime-DJanes und -Produzentinnen wie Cooly G und Barely Legal – legen einen Blick auf die lebensweltlichen, politischen und alltagspraktischen Verortungen ihrer musikalischen Karrieren offen. Und es ist ein Vergnügen, ihnen dabei zu folgen – durch die Londoner Punk- -WGs, die Lagerhallen-Raves in Manchester, die Hochhaussiedlungen in Tottenham und die Kellerclubs in Croydon. Es ist nicht nur ein Einblick in einen zentralen und wirkmächtigen Traditionsstrang europäischer Popkultur, sondern auch Materialsteinbruch für eine Kultur- und Alltagsgeschichte des (post-)thatcherschen, selbstverständlich multikulturellen, dabei aber sozial atomisierten Großbritannien, wo Vergemeinschaftung über Musikkultur eine umso größere Rolle spielt, zugleich aber auch ihre in Wellen aufkommende Überkommerzialisierung und das immer wieder darauffolgende Abtauchen in den «Untergrund». In diesem Spannungsfeld sind die hier geschilderten Karrieren und Lebensläufe angesiedelt – zwischen extremem Do-It-Yourself (man staunt beim Lesen immer wieder, wie jung die Protagonist:innen auf dem Höhepunkt ihres Schaffens waren und mit welch technisch primitiven Mitteln ihre Musik entstand) und zuweilen ebenso extremen Erwartungen, mit dem neuen Stil das «nächste große Ding» zu landen, was, v.a. im Falle von UK Garage in den frühen 2000ern, zu (Selbst-)Ausbeutung, Drogen, Gewalt und einer Implosion der Szene führte. Über Monate hinweg war der Band meine Nachttisch-Lektüre, und ich kann ihn allen an Musikkulturen Interessierten nur empfehlen – nicht zuletzt, um beim Phänomen der Clubkultur den Blick nicht nur über den Atlantik, sondern auch über den Ärmelkanal zu richten. (Gleb J. Albert)
***
Im Krieg. Ukraine, Belarus, Russland, Leipzig: Spector Books 2022.
Seit wir Geschichte der Gegenwart 2016 ins Leben gerufen haben, haben wir uns auch immer wieder mit der Ukraine, Belarus und Russland beschäftigt. Etwa in einem Interview mit dem Theatermacher Georg Genoux, der mit der ukrainischen Regisseurin Natalya Vorozhbyt 2015 das „Theatre of Displaced People“ gründete. Oder in einem Gespräch mit dem russischen Philosophen Michail Ryklin, der vom Putinismus als eine Politisierung der Geheimdienstmethoden gesprochen hat. Oder in Artikeln über die Agentengesetze in Russland, die Revolution in Belarus, über das Verbot von Memorial im Dezember 2021.
Als uns im Frühling der Leipziger Verlag spector books vorgeschlagen hat, unsere Artikel auch als Buch zu bringen, haben wir zugestimmt. Jetzt ist das Buch da: Geschichte der Gegenwart Reader: Im Krieg. Ukraine, Belarus, Russland.
Das Buch versammelt die Essays und Interviews in rückläufiger Chronologie und reflektiert damit den Standpunkt, von dem aus wir auf diese Texte heute schauen: zurück in eine Vergangenheit, in der der weitere Gang der Geschichte noch offen war. Wie ist es, die Beiträge heute wieder zu lesen? Was an ihnen ist noch immer aktuell, was erwies sich als Trugschluss? Wie hat sich unser Blick auf den Krieg in den letzten Jahren gewandelt? Rückwärts gelesen enthält der Band damit nicht nur noch immer gültige Analysen und Beobachtungen der russischen Aggression in der Ukraine, des Widerstands in Belarus und in Russland und des zunehmenden Faschismus unter Putin. Er lädt auch zu einer Begegnung mit vergangenen Analysen, Beobachtungen und Vorhersagen ein, die davon erzählen, was man vom Krieg wissen konnte und nicht wusste. (GdG)