Die Vorwürfe gegen Rammstein haben Sprengkraft für das Showbusiness. Aber sie werfen auch die Frage nach der Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Imagination sexualisierter Gewalt auf. In der Kulturgeschichte existieren solche Darstellungen bereits sehr lange und haben unterschiedliche Funktionen.

  • Caspar Battegay

    Caspar Battegay ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er leitet die Fachgruppe Kultur und Kommunikation an der Hochschule für Technik der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zudem unterrichtet er Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel. Seine Habilitation ist 2018 unter dem Titel „Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ‚jüdische Frage‘“ im Wallstein Verlag erschienen.

Am 25. Mai 2023 berich­tete eine junge Frau auf Insta­gram und Twitter, dass sie an einem Rammstein-Konzert unter Drogen gesetzt und Verlet­zungen erlitten habe. Diese Veröf­fent­li­chung löste eine Viel­zahl weiterer Äuße­rungen von Konzert­be­su­che­rinnen und Mitar­bei­tenden aus, die Rammstein-Leadsänger Till Linde­mann der syste­ma­ti­schen Ausnut­zung weib­li­cher Fans und massiver Über­griffe bezich­tigten. Diese #metoo-Situation hat eine bislang unge­klärte juris­ti­sche Seite, die nun voraus­sicht­lich Gegen­stand verschie­dener Verfahren sein wird, umfasst aber auch mora­li­sche und gesellschaftlich-kulturelle Kompo­nenten. Denn nach dem Bekannt­werden der Vorwürfe wurde in den Medien sofort an eine Debatte um einen Text erin­nert, der 2020 in einem Gedicht­band Linde­manns erschien. Das Gedicht mit dem Titel „Wenn du schläfst“ schil­dert aus der Täter­per­spek­tive die Verge­wal­ti­gung einer mit „etwas Rohypnol im Wein“ wehrlos gemachten Person, und zwar explizit positiv konno­tiert: „[…] (so soll das sein so / macht das Spaß)“.

Ange­sichts der in den Medien kolpor­tierten Prak­tiken Linde­manns drängt sich die Lesart des Gedichts als Programm, also eine Iden­tität von Text-Ich und real exis­tie­rendem Autor auf. Die Vertei­diger Linde­manns dagegen deuten die Verge­wal­ti­gungs­fan­tasie als künst­le­ri­sches Spiel mit Tabus, auch wenn sie auf jegliche Refle­xi­ons­ebene verzichtet und die sprach­li­chen Mittel des Gedichts bescheiden sind. Muss nicht jede Äuße­rung des Rammstein-Sängers als Teil einer Perfor­mance begriffen werden – eines (wie auch immer dras­ti­schen) Gesamt­kunst­werks, dessen Narra­tive keines­wegs die Realität beschreiben? Und wer entscheidet, wann ein Text ein Kunst­werk (,Lyrik‘) ist und wann ledig­lich Porno­grafie? Es soll hier nicht darum gehen, mit dem Verweis auf die Kultur­ge­schichte die miso­gynen Struk­turen der Geld- und Macht­ma­schine Ramm­stein zu legi­ti­mieren. Eine solche histo­ri­sche Linie könnte vom Marquis de Sade über die Expres­sio­nisten bis zu Bernardo Berto­luccis Film Der letzte Tango in Paris (zu dem Jahr­zehnte danach der Vorwurf laut wurde, dass während der Dreh­ar­beiten ein realer Über­griff statt­ge­funden habe)  oder die HBO-Serie Euphoria reichen, die aufgrund von scho­ckie­renden Darstel­lungen sexua­li­sierter Gewalt oft als ‚Skan­dal­serie‘ bezeichnet wurde. Der Blick in die Kultur­ge­schichte zeigt viel­mehr, welche Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gien und Frage­stel­lungen zu Darstel­lungen gewalt­voller Sexua­lität bereits lange vor Ramm­stein bestehen und wie diese Imagi­na­tionen mögli­cher­weise auch eine kriti­sche und progres­sive Funk­tion über­nehmen können.

Sadismus

1951 veröf­fent­licht die damals bereits sehr promi­nente Philo­so­phin und Femi­nistin Simone de Beau­voir in der Zeit­schrift Les temps modernes Ausschnitte eines langen Essays mit dem Titel „Faut-il brûler Sade?“. Für Beau­voir ist die Frage eine rheto­ri­sche, denn sie möchte die Schriften des Marquis de Sade – den Namens­geber des Sadismus, der zwischen 1740 und 1814 das Ende des fran­zö­si­schen Abso­lu­tismus erlebte und eine Viel­zahl porno­gra­fi­scher Romane vorlegte – nicht etwa verbrennen (oder ,canceln‘). Viel­mehr deutet sie Sades Darstel­lungen von Massen­ver­ge­wal­ti­gungen und Folter­kel­lern in abge­le­genen Schlös­sern oder Klös­tern als obsessiv-verzweifelten Versuch, „die mensch­liche Verein­ze­lung durch eine bewusste Tyrannei aufzu­heben“. Gegen eine „abstrakte Moral“, deren Verkeh­rung in die Terror­herr­schaft Sade während der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion beob­achten konnte, habe er das schran­ken­lose Verbre­chen gesetzt, in dem sich ‚der Mensch‘ selbst erkenne.

Diese exis­ten­tia­lis­ti­sche Lektüre mag heute befremden, doch Beau­voirs Text ist aus mindes­tens zwei Gründen auch für die Debatte um Ramm­stein wieder lesens­wert. Erstens macht sie darauf aufmerksam, dass Sade die in seinen Werken beschrie­benen Hand­lungen teil­weise auch real ausge­führt hatte, was gesell­schaft­liche Skan­dale auslöste und ihn mehr­fach ins Gefängnis brachte. Zwar bezwei­felt sie, dass der Autor Sade alle sexu­ellen Möglich­keiten, die er beschreibt, „selbst auspro­biert oder auch nur für seinen eigenen Leib erträumt [hat]“, die lite­ra­ri­sche Dürf­tig­keit, der Sche­ma­tismus und die Redun­danz der erzählten Orgien mache es schwer, in ihnen „ein leben­diges Geständnis zu entde­cken.“ Dennoch spricht Beau­voir konse­quent von „Helfers­hel­fern“ und „Opfern“ und verdeut­licht, dass wir es bei der Person Sade mit einem Krimi­nellen und nicht mit einem bewun­derns­werten Libertin zu tun haben. Bereits bei Sade stellt sich also die schwer zu beant­wor­tende Frage, in welchem Verhältnis die Imagi­na­tion zur Umset­zung in der Realität steht.

Zwei­tens verweist die Philo­so­phin auf die Tatsache, dass das mani­sche Begehren von Sades zumeist männ­li­chen Prot­ago­nisten nicht durch „Hingabe“ aufge­löst werden könne. Beau­voir spricht von der fehlenden „Erschüt­te­rung“, denn Sades Helden haben zwar Sex, bleiben dabei aber voll­kommen kalt, führen während des Geschlechts­akts philo­so­phi­sche Diskus­sionen und treten in keiner Weise in Verbin­dung mit ihrem Gegen­über. Dieser Narzissmus ist eine Charak­te­ristik von Sades Prot­ago­nisten. Im Roman Justine erklärt der Lust­mörder Clement zum Beispiel zwischen zwei blutigen Auspeit­schungen: „Der Despo­tismus ist an und für sich eine Quelle der Freude, und wenn man sich daher allein als Herr belus­tigt, genießt man unver­gleich­lich mehr, als wenn man das Vergnügen teilt. […] Der Mann, welcher auf die Wollust des Weibes Rück­sicht nimmt, schmä­lert seine eigene zugunsten einer Schi­märe, ‚Liebe‘ genannt.“ Clement ist Folter­knecht und Philo­soph, wobei seine philo­so­phi­schen Exkurse den Terror recht­fer­tigen, der diese prak­tisch umsetzt.

Auch wenn gegen­über seiten­lang erzählten mega­lo­ma­ni­schen Orgien und den intel­lek­tu­ellen Ausfüh­rungen des Marquis de Sades die Song­texte von Ramm­stein verknappt und banal daher­kommen, gibt es hinsicht­lich des Solip­sismus der Gewalt­fan­ta­sien erstaun­liche Paral­lelen. Der Song „Ich tu dir weh“ auf dem Album Liebe ist für alle da (2009) beginnt beispiels­weise mit den Zeilen „Nur für mich bist du am Leben […] / Du bist mir ganz und gar ergeben / Du liebst mich, denn ich lieb dich nicht“ und enthält Zeilen wie „Bei dir hab ich die Wahl der Qual / Stachel­draht im Harn­kanal“. Die Lyrics zum Song „Wiener Blut“ auf dem glei­chen Album sind offen­sicht­lich moti­viert vom öster­rei­chi­schen Gewalt­ver­bre­cher Josef Fritzl, der von 1984 bis 2008 seine Tochter in einem Keller gefangen hielt, immer wieder verge­wal­tigte und mit ihr mehrere Kinder zeugte, liest sich jedoch wie eine Kurz­ver­sion einer Sade’schen Ego-Fantasie: „Komm mit mir, komm auf mein Schloss / Da wartet Spaß im Tief­ge­schoss […] Keiner kann hier unten stören/ Niemand, niemand darf uns hören […] Und bist du manchmal auch allein/ Ich pflanze dir ein Schwes­ter­lein / Die Haut so jung, das Fleisch so fest / Unter dem Haus ein Liebesnest“.

Solche Texte wurden manchmal gerne als über­trieben und darum auch als ironisch-kritische Subver­sion der darge­stellten Gewalt beschrieben – eine Inter­pre­ta­tion, die durch die nun bekannten Fakten nicht mehr so leicht aufrecht­zu­er­halten ist. Bei Ramm­stein treffen wir aber auch auf ein Ich, dass es spätes­tens seit Sade in der Kultur­ge­schichte gibt, den tyran­ni­schen Verge­wal­tiger, dessen Lust sich aus der Ernied­ri­gung der Opfer speist. Diese Figur löst neben Abscheu und Ekel auch Faszi­na­tion aus, ohne die Ramm­stein kaum die kommer­ziell erfolg­reichste deut­sche Band geworden wäre.

Über­schrei­tung

Ein Konzept des fran­zö­si­schen Philo­so­phen Georges Bataille mag diese Faszi­na­tion erklären. Wie seine Zeit­ge­nossin Beau­voir beschäf­tigte sich Bataille mit dem Werks Sades. Dessen Bedeu­tung sah er vor allem darin, dass es eine konsti­tu­tive Gewalt­sam­keit mensch­li­cher Exis­tenz offen­legt, die durchaus ‚wirk­lich‘ ist, vor der wir aber norma­ler­weise zurück­schre­cken oder die wir sogar verdrängen. Um dies zu verdeut­li­chen, verfasste Bataille pornografisch-philosophische Erzäh­lungen, in deren Zentrum die so genannte „Über­schrei­tung“ steht. Die „Über­schrei­tung“ verstand er als eksta­ti­sche Momente, in denen kultu­relle Normen, legale Verbote oder gesell­schaft­liche Tabus verletzt werden, ohne sie aufzu­lösen, und die mit Ekel, Schmerz und Gewalt, aber auch mit Lust verbunden sind. Im Vorwort zu seiner Erzäh­lung Madame Edwarda schreibt Bataille, dass es „keine Form des Wider­wil­lens“ gäbe, „bei der ich nicht eine Affi­nität zum Verlangen ausma­chen kann.“ Der Schre­cken kann nach Bataille „das Verlangen erregen“. Und: „Wir errei­chen die Ekstase nicht, wenn wir nicht – und sei es nur von ferne – den Tod, die Vernich­tung vor uns sehen.“

Ramm­stein kommt diesem Verlangen nach „Entgren­zung“ (ein weiterer Begriff Batailles) in vielen ihrer Lyrics nach, unter­stützt vom brachialen Sound. Stell­ver­tre­tend für das Publikum erzählt der Front­sänger von Verlangen und Vernich­tung, wobei ausge­blendet werden muss, dass diese Art von Über­schrei­tung in der Realität immer Opfer produ­ziert. Im bereits erwähnten Song „Wiener Blut“ heißt es in einer Zeile: „Will­kommen in der Wirk­lich­keit“. Aber wie korre­spon­dieren die Song­texte von Ramm­stein und die Wirk­lich­keit mitein­ander? Viel­leicht wirken Linde­manns Texte deshalb so stark auf das Publikum, weil sie schon immer ganz ohne Rollen­spiel die Perspek­tive eines ‚echten‘ Verlan­gens nach „Über­schrei­tung“ offen­baren. Für die Kultur­szene war ein solches Verständnis bis vor Kurzem aller­dings kaum denkbar.

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Rachefan­tasie

So argu­men­tierte auch Kiepen­heuer & Witsch-Verleger Verleger Helge Malchow 2020 mit dem Begriff des ‚lyri­schen Ichs‘, um damit Text/Fiktion von realen Hand­lungen abzu­grenzen. Wie die Germa­nistin Andrea Geier in der FAZ fest­hielt, liegt der Sinn dieses ‚lyri­schen Ichs‘ jedoch in der Lite­ra­tur­theorie vor allem darin, „unter­schied­liche Verhält­nis­be­stim­mungen zwischen fiktio­naler und lebens­welt­li­cher Sprech­in­stanz“ zu fassen und nicht dazu, biogra­fi­sche Kontexte einfach zu verneinen. Im Fall von Linde­manns Verge­wal­ti­gungs­ge­dichts nennt Geier den Bezug Malchows und anderer auf das ‚lyri­sche Ich‘ ein „Deckar­gu­ment“. Denn: „Im Vertrauen darauf, dass sich der Autor inner­halb eines bestimmten Werte­sys­tems bewegt, wird das Gedicht als Rollen­spiel gedeutet, mit dem sich der Autor selbst­ver­ständ­lich nicht gemein mache.“

Auch die fran­zö­si­sche Autorin Virginie Despentes machte mit scho­ckie­renden Darstel­lungen sexua­li­sierter Gewalt auf sich aufmerksam, jedoch mit ganz anderen Inten­tionen. Sie beschreibt in all ihren Werken, dass es das gesell­schaft­liche „Werte­system“, das Geier nennt, gar nicht gibt. Despentes Essay King Kong Theorie (2006) geht von der auto­bio­gra­fi­schen Erzäh­lung einer Verge­wal­ti­gung als junger Frau aus und beschreibt, wie sich ihre Wut vor allem auf eine Gesell­schaft richtet, die Männer als das ,starke‘ und Frauen als das ,schwache‘ Geschlecht versteht, während vermeint­lich mora­li­sche ,Werte‘ nur dazu da sind, „damit Männer bei ihren Angriffen auf Frauen garan­tiert und ohne großes Risiko trium­phieren.“ Despentes geht es darum zu zeigen, dass sich die Möglich­keiten, sexua­li­sierte Gewalt auszu­üben und der vermeint­liche Konsens auf Gewalt­lo­sig­keit bedingen. In der Vernei­nung dieses gesell­schaft­li­chen Konsenses und der imagi­nierten Umkehr der erlebten Gewalt – etwa im Rache­plot ihres porno­gra­fi­schen Romans Baise-moi (1994) und des gleich­na­migen Films – liegt für Despentes ein Moment der Ermäch­ti­gung. Despentes’ Texte haben teil­weise eben­falls ein affir­ma­tives Verhältnis zur geschil­derten Gewalt. Dabei weisen sie aber zum einen etwas auf, was Ramm­stein in schmerz­hafter Weise fehlt: Humor. Zum anderen zeigt die Autorin, dass die Darstel­lung der umge­kehrten Gewalt zwar zunächst befreiend und eman­zi­pa­to­risch wirken, jedoch voll­kommen irreal ist. Im Gegen­satz zu Ramm­stein gibt es bei Despentes kaum eine Möglich­keit, sich mit den Tätern zu identifizieren.

Davon erzählt Despentes unter anderem in ihrer Roman­tri­logie Vernon Subutex (2015-2017). Eine Episode handelt davon, dass die zwei jungen Frauen Céleste und Aïsha den mäch­tigen Film­pro­du­zenten Laurent Dopalet, eine Mischung aus Domi­nique Strauss-Kahn und Harvey Wein­stein, über­fallen und ihm die Wörter „Mörder“ und „Verge­wal­tiger“ auf den Körper täto­wieren. Es ist zunächst ausge­spro­chen witzig, wie Dopalet in quälenden Sitzungen im Tattoo-Studio diese Schrift über­schreiben lassen muss. Doch dann rächt sich der mäch­tige Mann wiederum in furcht­barer Weise für diese Rache. Céleste wird von zwei Hand­lan­gern gefangen genommen und in einem Schuppen tage­lang verge­wal­tigt, was quälend genau beschrieben wird. Es fehlt hier jegli­ches trium­phale Element, die Gewalt ist einfach nur elend. Diese Wendung macht darauf aufmerksam, dass Despentes’ eman­zi­pa­to­ri­sche Rachefan­ta­sien die Wirk­lich­keit viel weniger genau abbilden als Linde­manns Lyrics. Das heißt, dass es unmög­lich ist, die Song­texte von Ramm­stein ausschließ­lich als artis­ti­sche Provo­ka­tionen zu lesen. Denn ein solches Verständnis würde verkennen, dass Gewalt­fan­ta­sien immer schon eine Dimen­sion aufweisen, die sich auf eine gesell­schaft­liche und indi­vi­du­elle Wirk­lich­keit bezieht.