Am 25. Mai 2023 berichtete eine junge Frau auf Instagram und Twitter, dass sie an einem Rammstein-Konzert unter Drogen gesetzt und Verletzungen erlitten habe. Diese Veröffentlichung löste eine Vielzahl weiterer Äußerungen von Konzertbesucherinnen und Mitarbeitenden aus, die Rammstein-Leadsänger Till Lindemann der systematischen Ausnutzung weiblicher Fans und massiver Übergriffe bezichtigten. Diese #metoo-Situation hat eine bislang ungeklärte juristische Seite, die nun voraussichtlich Gegenstand verschiedener Verfahren sein wird, umfasst aber auch moralische und gesellschaftlich-kulturelle Komponenten. Denn nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe wurde in den Medien sofort an eine Debatte um einen Text erinnert, der 2020 in einem Gedichtband Lindemanns erschien. Das Gedicht mit dem Titel „Wenn du schläfst“ schildert aus der Täterperspektive die Vergewaltigung einer mit „etwas Rohypnol im Wein“ wehrlos gemachten Person, und zwar explizit positiv konnotiert: „[…] (so soll das sein so / macht das Spaß)“.
Angesichts der in den Medien kolportierten Praktiken Lindemanns drängt sich die Lesart des Gedichts als Programm, also eine Identität von Text-Ich und real existierendem Autor auf. Die Verteidiger Lindemanns dagegen deuten die Vergewaltigungsfantasie als künstlerisches Spiel mit Tabus, auch wenn sie auf jegliche Reflexionsebene verzichtet und die sprachlichen Mittel des Gedichts bescheiden sind. Muss nicht jede Äußerung des Rammstein-Sängers als Teil einer Performance begriffen werden – eines (wie auch immer drastischen) Gesamtkunstwerks, dessen Narrative keineswegs die Realität beschreiben? Und wer entscheidet, wann ein Text ein Kunstwerk (,Lyrik‘) ist und wann lediglich Pornografie? Es soll hier nicht darum gehen, mit dem Verweis auf die Kulturgeschichte die misogynen Strukturen der Geld- und Machtmaschine Rammstein zu legitimieren. Eine solche historische Linie könnte vom Marquis de Sade über die Expressionisten bis zu Bernardo Bertoluccis Film Der letzte Tango in Paris (zu dem Jahrzehnte danach der Vorwurf laut wurde, dass während der Dreharbeiten ein realer Übergriff stattgefunden habe) oder die HBO-Serie Euphoria reichen, die aufgrund von schockierenden Darstellungen sexualisierter Gewalt oft als ‚Skandalserie‘ bezeichnet wurde. Der Blick in die Kulturgeschichte zeigt vielmehr, welche Argumentationsstrategien und Fragestellungen zu Darstellungen gewaltvoller Sexualität bereits lange vor Rammstein bestehen und wie diese Imaginationen möglicherweise auch eine kritische und progressive Funktion übernehmen können.
Sadismus
1951 veröffentlicht die damals bereits sehr prominente Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir in der Zeitschrift Les temps modernes Ausschnitte eines langen Essays mit dem Titel „Faut-il brûler Sade?“. Für Beauvoir ist die Frage eine rhetorische, denn sie möchte die Schriften des Marquis de Sade – den Namensgeber des Sadismus, der zwischen 1740 und 1814 das Ende des französischen Absolutismus erlebte und eine Vielzahl pornografischer Romane vorlegte – nicht etwa verbrennen (oder ,canceln‘). Vielmehr deutet sie Sades Darstellungen von Massenvergewaltigungen und Folterkellern in abgelegenen Schlössern oder Klöstern als obsessiv-verzweifelten Versuch, „die menschliche Vereinzelung durch eine bewusste Tyrannei aufzuheben“. Gegen eine „abstrakte Moral“, deren Verkehrung in die Terrorherrschaft Sade während der Französischen Revolution beobachten konnte, habe er das schrankenlose Verbrechen gesetzt, in dem sich ‚der Mensch‘ selbst erkenne.
Diese existentialistische Lektüre mag heute befremden, doch Beauvoirs Text ist aus mindestens zwei Gründen auch für die Debatte um Rammstein wieder lesenswert. Erstens macht sie darauf aufmerksam, dass Sade die in seinen Werken beschriebenen Handlungen teilweise auch real ausgeführt hatte, was gesellschaftliche Skandale auslöste und ihn mehrfach ins Gefängnis brachte. Zwar bezweifelt sie, dass der Autor Sade alle sexuellen Möglichkeiten, die er beschreibt, „selbst ausprobiert oder auch nur für seinen eigenen Leib erträumt [hat]“, die literarische Dürftigkeit, der Schematismus und die Redundanz der erzählten Orgien mache es schwer, in ihnen „ein lebendiges Geständnis zu entdecken.“ Dennoch spricht Beauvoir konsequent von „Helfershelfern“ und „Opfern“ und verdeutlicht, dass wir es bei der Person Sade mit einem Kriminellen und nicht mit einem bewundernswerten Libertin zu tun haben. Bereits bei Sade stellt sich also die schwer zu beantwortende Frage, in welchem Verhältnis die Imagination zur Umsetzung in der Realität steht.
Zweitens verweist die Philosophin auf die Tatsache, dass das manische Begehren von Sades zumeist männlichen Protagonisten nicht durch „Hingabe“ aufgelöst werden könne. Beauvoir spricht von der fehlenden „Erschütterung“, denn Sades Helden haben zwar Sex, bleiben dabei aber vollkommen kalt, führen während des Geschlechtsakts philosophische Diskussionen und treten in keiner Weise in Verbindung mit ihrem Gegenüber. Dieser Narzissmus ist eine Charakteristik von Sades Protagonisten. Im Roman Justine erklärt der Lustmörder Clement zum Beispiel zwischen zwei blutigen Auspeitschungen: „Der Despotismus ist an und für sich eine Quelle der Freude, und wenn man sich daher allein als Herr belustigt, genießt man unvergleichlich mehr, als wenn man das Vergnügen teilt. […] Der Mann, welcher auf die Wollust des Weibes Rücksicht nimmt, schmälert seine eigene zugunsten einer Schimäre, ‚Liebe‘ genannt.“ Clement ist Folterknecht und Philosoph, wobei seine philosophischen Exkurse den Terror rechtfertigen, der diese praktisch umsetzt.
Auch wenn gegenüber seitenlang erzählten megalomanischen Orgien und den intellektuellen Ausführungen des Marquis de Sades die Songtexte von Rammstein verknappt und banal daherkommen, gibt es hinsichtlich des Solipsismus der Gewaltfantasien erstaunliche Parallelen. Der Song „Ich tu dir weh“ auf dem Album Liebe ist für alle da (2009) beginnt beispielsweise mit den Zeilen „Nur für mich bist du am Leben […] / Du bist mir ganz und gar ergeben / Du liebst mich, denn ich lieb dich nicht“ und enthält Zeilen wie „Bei dir hab ich die Wahl der Qual / Stacheldraht im Harnkanal“. Die Lyrics zum Song „Wiener Blut“ auf dem gleichen Album sind offensichtlich motiviert vom österreichischen Gewaltverbrecher Josef Fritzl, der von 1984 bis 2008 seine Tochter in einem Keller gefangen hielt, immer wieder vergewaltigte und mit ihr mehrere Kinder zeugte, liest sich jedoch wie eine Kurzversion einer Sade’schen Ego-Fantasie: „Komm mit mir, komm auf mein Schloss / Da wartet Spaß im Tiefgeschoss […] Keiner kann hier unten stören/ Niemand, niemand darf uns hören […] Und bist du manchmal auch allein/ Ich pflanze dir ein Schwesterlein / Die Haut so jung, das Fleisch so fest / Unter dem Haus ein Liebesnest“.
Solche Texte wurden manchmal gerne als übertrieben und darum auch als ironisch-kritische Subversion der dargestellten Gewalt beschrieben – eine Interpretation, die durch die nun bekannten Fakten nicht mehr so leicht aufrechtzuerhalten ist. Bei Rammstein treffen wir aber auch auf ein Ich, dass es spätestens seit Sade in der Kulturgeschichte gibt, den tyrannischen Vergewaltiger, dessen Lust sich aus der Erniedrigung der Opfer speist. Diese Figur löst neben Abscheu und Ekel auch Faszination aus, ohne die Rammstein kaum die kommerziell erfolgreichste deutsche Band geworden wäre.
Überschreitung
Ein Konzept des französischen Philosophen Georges Bataille mag diese Faszination erklären. Wie seine Zeitgenossin Beauvoir beschäftigte sich Bataille mit dem Werks Sades. Dessen Bedeutung sah er vor allem darin, dass es eine konstitutive Gewaltsamkeit menschlicher Existenz offenlegt, die durchaus ‚wirklich‘ ist, vor der wir aber normalerweise zurückschrecken oder die wir sogar verdrängen. Um dies zu verdeutlichen, verfasste Bataille pornografisch-philosophische Erzählungen, in deren Zentrum die so genannte „Überschreitung“ steht. Die „Überschreitung“ verstand er als ekstatische Momente, in denen kulturelle Normen, legale Verbote oder gesellschaftliche Tabus verletzt werden, ohne sie aufzulösen, und die mit Ekel, Schmerz und Gewalt, aber auch mit Lust verbunden sind. Im Vorwort zu seiner Erzählung Madame Edwarda schreibt Bataille, dass es „keine Form des Widerwillens“ gäbe, „bei der ich nicht eine Affinität zum Verlangen ausmachen kann.“ Der Schrecken kann nach Bataille „das Verlangen erregen“. Und: „Wir erreichen die Ekstase nicht, wenn wir nicht – und sei es nur von ferne – den Tod, die Vernichtung vor uns sehen.“
Rammstein kommt diesem Verlangen nach „Entgrenzung“ (ein weiterer Begriff Batailles) in vielen ihrer Lyrics nach, unterstützt vom brachialen Sound. Stellvertretend für das Publikum erzählt der Frontsänger von Verlangen und Vernichtung, wobei ausgeblendet werden muss, dass diese Art von Überschreitung in der Realität immer Opfer produziert. Im bereits erwähnten Song „Wiener Blut“ heißt es in einer Zeile: „Willkommen in der Wirklichkeit“. Aber wie korrespondieren die Songtexte von Rammstein und die Wirklichkeit miteinander? Vielleicht wirken Lindemanns Texte deshalb so stark auf das Publikum, weil sie schon immer ganz ohne Rollenspiel die Perspektive eines ‚echten‘ Verlangens nach „Überschreitung“ offenbaren. Für die Kulturszene war ein solches Verständnis bis vor Kurzem allerdings kaum denkbar.
Rachefantasie
So argumentierte auch Kiepenheuer & Witsch-Verleger Verleger Helge Malchow 2020 mit dem Begriff des ‚lyrischen Ichs‘, um damit Text/Fiktion von realen Handlungen abzugrenzen. Wie die Germanistin Andrea Geier in der FAZ festhielt, liegt der Sinn dieses ‚lyrischen Ichs‘ jedoch in der Literaturtheorie vor allem darin, „unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zwischen fiktionaler und lebensweltlicher Sprechinstanz“ zu fassen und nicht dazu, biografische Kontexte einfach zu verneinen. Im Fall von Lindemanns Vergewaltigungsgedichts nennt Geier den Bezug Malchows und anderer auf das ‚lyrische Ich‘ ein „Deckargument“. Denn: „Im Vertrauen darauf, dass sich der Autor innerhalb eines bestimmten Wertesystems bewegt, wird das Gedicht als Rollenspiel gedeutet, mit dem sich der Autor selbstverständlich nicht gemein mache.“
Auch die französische Autorin Virginie Despentes machte mit schockierenden Darstellungen sexualisierter Gewalt auf sich aufmerksam, jedoch mit ganz anderen Intentionen. Sie beschreibt in all ihren Werken, dass es das gesellschaftliche „Wertesystem“, das Geier nennt, gar nicht gibt. Despentes Essay King Kong Theorie (2006) geht von der autobiografischen Erzählung einer Vergewaltigung als junger Frau aus und beschreibt, wie sich ihre Wut vor allem auf eine Gesellschaft richtet, die Männer als das ,starke‘ und Frauen als das ,schwache‘ Geschlecht versteht, während vermeintlich moralische ,Werte‘ nur dazu da sind, „damit Männer bei ihren Angriffen auf Frauen garantiert und ohne großes Risiko triumphieren.“ Despentes geht es darum zu zeigen, dass sich die Möglichkeiten, sexualisierte Gewalt auszuüben und der vermeintliche Konsens auf Gewaltlosigkeit bedingen. In der Verneinung dieses gesellschaftlichen Konsenses und der imaginierten Umkehr der erlebten Gewalt – etwa im Racheplot ihres pornografischen Romans Baise-moi (1994) und des gleichnamigen Films – liegt für Despentes ein Moment der Ermächtigung. Despentes’ Texte haben teilweise ebenfalls ein affirmatives Verhältnis zur geschilderten Gewalt. Dabei weisen sie aber zum einen etwas auf, was Rammstein in schmerzhafter Weise fehlt: Humor. Zum anderen zeigt die Autorin, dass die Darstellung der umgekehrten Gewalt zwar zunächst befreiend und emanzipatorisch wirken, jedoch vollkommen irreal ist. Im Gegensatz zu Rammstein gibt es bei Despentes kaum eine Möglichkeit, sich mit den Tätern zu identifizieren.
Davon erzählt Despentes unter anderem in ihrer Romantrilogie Vernon Subutex (2015-2017). Eine Episode handelt davon, dass die zwei jungen Frauen Céleste und Aïsha den mächtigen Filmproduzenten Laurent Dopalet, eine Mischung aus Dominique Strauss-Kahn und Harvey Weinstein, überfallen und ihm die Wörter „Mörder“ und „Vergewaltiger“ auf den Körper tätowieren. Es ist zunächst ausgesprochen witzig, wie Dopalet in quälenden Sitzungen im Tattoo-Studio diese Schrift überschreiben lassen muss. Doch dann rächt sich der mächtige Mann wiederum in furchtbarer Weise für diese Rache. Céleste wird von zwei Handlangern gefangen genommen und in einem Schuppen tagelang vergewaltigt, was quälend genau beschrieben wird. Es fehlt hier jegliches triumphale Element, die Gewalt ist einfach nur elend. Diese Wendung macht darauf aufmerksam, dass Despentes’ emanzipatorische Rachefantasien die Wirklichkeit viel weniger genau abbilden als Lindemanns Lyrics. Das heißt, dass es unmöglich ist, die Songtexte von Rammstein ausschließlich als artistische Provokationen zu lesen. Denn ein solches Verständnis würde verkennen, dass Gewaltfantasien immer schon eine Dimension aufweisen, die sich auf eine gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeit bezieht.
Lieber Caspar Battegay, vielen Dank für den spannenden Artikel, der sich traut, noch eine Reflektionsebene höher zu gehen, ohne eine moralische / politische Entscheidung zu treffen. Ich möchte nur kurz der Genauigkeit wegen anmerken, dass die Vergewaltigung von Maria Schneider durch Marlon Brando beim Dreh von „Der letzte Tango in Paris“ kein unbelegter Vorwurf ist, sondern vom Regisseur selbst im Nachhinein als „Regieanweisung“ erläutert worden ist. Ein gutes Beispiel dafür, wie die „künstlerische Freiheit“, in unserer Gesellschaft oft von Männern, Opfer fordert. Herzlich, EL