Ende Dezember 2020 trat in Russland ein „Neujahrspaket“ an Gesetzesänderungen in Kraft. Eine dieser Änderungen im „Gesetz über Einwirkungsmaßnahmen auf Personen, die gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen“, sieht vor, dass sich Privatpersonen, die sich im Internet politisch betätigen und hierfür finanzielle oder materielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen. Sollten sie dieser Pflicht und der anschließenden halbjährlichen Rechenschaftspflicht über die Verwendung der erhaltenen Unterstützung nicht nachkommen, droht ihnen eine Strafe zwischen 300.000 Rubeln und 5 Jahren Gefängnis.
Victoria Lomasko, Zeichnung aus „Die Unsichtbaren und die Zornigen“, Zürich: Diaphanes 2018.
Der neue juristische Status haftet dann jeder öffentlichen Verlautbarung des „Agenten“ an: Jeder Post und jeder Kommentar im Netz, aber auch jedes offizielle Schreiben – etwa eine Bewerbung – müssen nun mit dem Hinweis versehen werden, dass er von „einer natürlichen Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt“, verfasst oder weitergeleitet wurde. Auch öffentliche Ämter dürfen die Betroffenen nicht mehr bekleiden. Wie das alles in der Praxis umgesetzt und kontrolliert werden soll, ist noch vollkommen unklar.
Die Zeichnerin Victoria Lomasko, die in ihren Graphic Reportages über marginalisierte Gruppen – Demonstrant:innen, illegale Arbeitsmigrant:innen oder LGBT-Aktivist:innen – zivilgesellschaftliche Brennpunkte aufzeigt, fürchtet nun wie viele andere den Verlust ihrer Arbeitsgrundlage:
Bis 2012 arbeitete ich als künstlerische Reporterin mit Menschenrechtsorganisationen, NGOs und verschiedenen Medien hauptsächlich in Russland zusammen. Als zwischen 2012 und 2014 Zensur und Repression begannen, habe ich meine gesamte Arbeit verloren. Einige Organisationen mussten schließen, bei anderen gab es einen Wechsel der Führung und der Agenda. Es gibt viele Kunst- und Kulturschaffende in Russland, die wegen ihrer politischen Ansichten arbeitslos wurden, und wir alle waren gezwungen, Unterstützung und Möglichkeiten zu suchen, in anderen Ländern zu veröffentlichen und auszustellen. Jetzt versperrt uns das Gesetz über ‚ausländische Agenten‘ auch diesen Weg. In das Register eingetragen zu werden bedeutet, mit einem Schild um den Hals herumzulaufen, auf dem in großen Lettern ‚Verräter‘ und ‚Spion ‘ steht. Die meisten Menschen, die sich nicht allzu sehr für Politik interessieren, werden ‚ausländische Agenten‘ bestenfalls meiden, sodass mir kaum jemand mehr ein Interview geben wird. Außerdem werden ‚ausländische Agenten‘ einer derartigen Überwachung und Kontrolle unterworfen, dass die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nahezu verunmöglicht wird. Im Grunde genommen findet durch das Gesetz eine Rückkehr zur Situation in der Sowjetunion statt, in der bereits eine einfache Beschreibung der Realität ein Verbrechen darstellte.
Wo „ausländische Agenten“ im Gesetz zu finden sind
Der Begriff „ausländische Agenten“, der Lomasko seit Jahren die Arbeit erschwert, versteckt sich in verschiedenen Gesetzen, die in den letzten Jahren erlassen worden sind. Er tauchte zum ersten Mal 2012 im „Gesetz über nichtkommerzielle Organisationen“ auf und verpflichtet diese, sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren, wenn sie eine politische Tätigkeit ausüben und hierfür finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Was genau unter politischer Tätigkeit verstanden wird, wurde jedoch nicht definiert, sodass diese Regelung in der Praxis ausgesprochen weit auslegbar ist. Hierzu können etwa „die Teilnahme an und die Organisation von öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen, Wahlbeobachtung, Posts im Internet, nachbarschaftliches Engagement, Meinungsäußerungen über staatliche Maßnahmen, Beeinflussung der öffentlichen Meinung“ gehören, wie der Anwalt Maxim Krupski erklärt.
Ein Blick in das aktuell 75 Organisationen umfassende „Register nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen“, zeigt denn auch ganz unterschiedliche Tätigkeitsfelder: die Prävention von häuslicher Gewalt oder Aids, Pressefreiheit, Umweltschutz, unabhängige Meinungsforschung, LGBT-Rechte oder die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors. Hier geht es also um Bereiche, in denen es staatliche Organisationen an Engagement fehlen lassen.
2017 wurde der Begriff der „ausländischen Agenten“ durch eine Änderung im „Gesetz über die Massenmedien“ auf Print- und Onlinemedien, Radiosender sowie Fernsehkanäle ausgeweitet. Seit 2019 können auch einzelne Journalist:innen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, wenn sie Materialien von „Agenten-Medien“ – besonders im Internet – verbreiten oder für diese arbeiten und hierfür Geld aus dem Ausland erhalten: Durch diese juristischen Definitionen wurde das abstruse Konstrukt einer „natürlichen Person, die als Massenmedium gilt und die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt“, geschaffen.
In der praktischen Umsetzung der Gesetze geht jedoch der juristisch eigentlich zwingende Kausalzusammenhang zwischen der Ausübung der politischen bzw. journalistischen Tätigkeit und deren Finanzierung durch ausländische Geldgeber:innen (seien das staatliche Quellen, NGOs oder Privatpersonen) verloren. Es reiche fatalerweise bereits aus, so Anwalt Krupski, dass beide Bedingungen gleichzeitig erfüllt seien, ganz gleich, ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hat.
Darja Apachontschitsch, „Vulva-Ballett“, Sankt Petersburg 2020, Foto: David Frenkel
Das zeigt auch das Beispiel der feministisch-künstlerischen Aktivistin Darja Apachontschitsch, die als eine der ersten Privatpersonen in das „Register für ausländische Massenmedien, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen“, eingetragen wurde. Im Sommer 2020 organisierte Apachontschitsch das „Vulva-Ballett“, eine Straßenperformance zur Unterstützung der LGBT-Aktivistin Julia Zwetkowa, die wegen ihrer als pornografisch eingestuften Zeichnungen mehrfach angeklagt wurde. Für diese Performance wurde Apachontschitsch wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, in letzter Instanz aber freigesprochen. Nur wenige Tage nach ihrem Freispruch wurde sie dann als „ausländische Agentin“ eingestuft, obwohl sie nicht journalistisch tätig ist und keine ausländische Finanzierung für ihre Aktionen erhält: „Ich habe nur mal eine Überweisung von einer Freundin aus dem Ausland erhalten, und das war ein Geburtstagsgeschenk, kein Honorar von irgendeiner Organisation.“
Doch Apachontschitsch hat ihre Performance über Facebook und Instagramm verbreitet, die der Gesetzgeber mittlerweile als Massenmedien einstuft – interessanterweise in einer Anerkennung ihrer Reichweite und ihres Einflusses bei der öffentlichen Meinungsbildung, vor allem unter der protestbereiten jüngeren Bevölkerung. Durch die Nutzung der neu deklarierten Massenmedien, aka Social Media, kann nun jede:r, wie durch einen Wink mit dem repressiven Zauberstab, zum/r Journalist:in werden. Und irgendeine Überweisung oder sonstige Unterstützung aus dem Ausland findet sich im Zweifelsfall sicherlich auch. Der Staat erschafft folglich mit den neuen Verordnungen eine Gummi-Gesetzgebung, die willkürlich immer dann angewendet werden kann, wenn es opportun erscheint – wenn, wie in Apachontschitschs Fall, die Anklage nicht zur Verurteilung führt und ein anderes Abschreckungsmittel her muss –, die aber nicht unbedingt angewendet werden muss, solange kein Bedarf besteht.
Von der Sichtbarmachung zur Unsichtbarmachung
In Anlehnung an das alte Bild vom „sowjetischen Volksfeind“, vom „inneren Feind“ soll das reaktivierte Label des „ausländischen Agenten“ die soziale (Selbst‑)Stigmatisierung der Betroffenen vorantreiben, denn „ausländische Agenten“ galten in der Sowjetunion als Gefahr und Bedrohung, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden sollten. Nach Stalins Machtübernahme waren die Bürger:innen ab Mitte der 1920er Jahre dazu aufgefordert, „schädliche“ Äußerungen oder Aktivitäten zu melden. Aber damit nicht genug: Sie sollten auch ständig überprüfen, ob sie sich selbst „feindlich“ oder „schädlich“ verhalten und dies öffentlich machen. Offiziell verpackt wurde diese Selbstdenunziation und die Denunziation der anderen als „Kritik und Selbstkritik“. Doch greift dieser Wiederbelebungsversuch drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion überhaupt noch, wenn die ideologische Basis fehlt?
Victoria Lomasko, Zeichnung aus „Die Unsichtbaren und die Zornigen“, Zürich: Diaphanes 2018.
Die Wahrheit der Partei war in der Sowjetunion unantastbar. Davon kann gegenwärtig aber keine Rede mehr sein. Ungeachtet des Entzugs einiger Sendelizenzen und dem Auf-Linie-Bringen zahlreicher Printmedien herrscht in Russland, insbesondere im Internet, eine große Medienvielfalt. Um dagegen vorzugehen wird seit Jahren versucht, jegliche Kritik als Russophobie lesbar zu machen, als etwas, das von außen kommt, das nur von Spionen kommen kann. Die heutige Suche nach „ausländischen Agenten“ schließt also direkt an die Logik der „Kritik und Selbstkritik“ an: Die Selbstanzeige ist die neue „Selbstkritik“. Die Betroffenen sollen selbst ihre „Deckung“ aufgeben und – so die Idee – anschließend in der Versenkung verschwinden, weil sie in Russland keine Kooperationspartner:innen oder Stellen mehr finden.
Die Realität aber straft die Hoffnungen des Gesetzgebers auf eine erneute Verinnerlichung der Mechanismen der sowjetischen „Selbstkritik“ Lügen: Apachontschitsch hat sich nicht in einem Akt der Selbstenttarnung angezeigt. Sie wurde in das Register eingetragen, noch bevor das Gesetz endgültig verabschiedet worden war. Der Staat ist sich also offenbar seines eigenen Wunschdenkens bewusst und wird sicherheitshalber doch lieber selbst tätig. In der desillusionierten, ideologiefreien postsowjetischen Zeit wäre im Gegensatz zur Ära der sowjetischen Schauprozesse, als die Angeklagten sich in einer unheiligen Mischung aus Folter und ideologischer Überzeugung zum Wohle des Sowjetstaats opferten, niemand mehr bereit, sich für hehre politische Ziele wie ein Schaf selbst zur Schlachtbank zu schleppen.
Gefahr für die nationale Sicherheit durch Wirklichkeit
In der Begründung für die Gesetzesänderungen im „Neujahrspaket“ heißt es, die zusätzlichen Kontrollmechanismen – u.a. von Privatpersonen – dienten der „Eindämmung von Bedrohungen der nationalen Sicherheit“. Die nationale Sicherheit scheint mittlerweile zu einem Totschlagargument geworden zu sein, alles hat sich ihrem Schutz unterzuordnen. Laut der 2015 beschlossenen Nationalen Sicherheitsstrategien der Russischen Föderation soll sogar die Kultur dazu beitragen, die „moralischen und sittlichen Normen“ als Teil der nationalen Sicherheitsinteressen zu erhalten und traditionelle russische geistlich-moralische Werte vor einer Schwächung durch die „Expansion äußerer“ Kulturen – also: die Infiltration durch „ausländische Agenten“ – zu schützen. Diese gefürchtete Infiltration durch „ausländische Agenten“ soll u.a. durch die Anklage wegen Verleumdung und übler Nachrede (kleveta), besonders im Internet, eingedämmt werden. Hierfür wurde die mögliche Haftstrafe empfindlich auf zwei, unter bestimmten Bedingungen auf fünf Jahre erhöht.
Victoria Lomasko, Zeichnung aus „Die Unsichtbaren und die Zornigen“, Zürich: Diaphanes 2018.
Verleumdung war auch in der Sowjetunion ein beliebter Anklagepunkt, meinte aber weniger die Rufschädigung einer Person durch die Verbreitung falscher Tatsachen. Im Parade-Prozess gegen die Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel 1966 wurde deutlich, dass es vielmehr um literarische Texte ging, die die Grundfesten der sowjetischen Gesellschaft (Partei, Armee usw.) nicht der Parteilinie und der Doktrin des Sozialistischen Realismus („Die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“) entsprechend darstellten. Der Prozess gegen Pussy Riot 2012 hat ebenfalls gezeigt: Eine realistische Kritik der Wirklichkeit, die nicht der Wahrheit des Staates entspricht – etwa die einer korrumpierten und politisch instrumentalisierten Staatskirche –, wird zur „Verleumdung“ umgewertet und als soziales Hassdelikt geahndet.
Obwohl die Anklage wegen Verleumdung heute eher gegen Korruptionsenthüllungen gerichtet sein dürfte, ist ihre Reichweite doch bedeutend grösser: Für Lomasko war die möglichst wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Realität bislang ein Mittel, um Meinungsbildung mit dem Ziel der Meinungsvielfalt zu betreiben. Es sind zum Teil kriminalisierte und abgeschirmte Bereiche wie Jugendgefängnisse, Bordelle oder Kleinstädte im Nirgendwo, in denen sie sich bewegt und wo jede Aussage über die miserablen herrschenden Verhältnisse nun unter üble Nachrede zu fallen droht.
Lomasko bezeichnet sich bei ihrer Arbeit selbst auch als Sogljadataj, als Späherin, Kundschafterin oder Spionin. Durch die Verordnungen über „ausländische Agenten“ und die Verschärfung des Gesetzes über Verleumdung könnte sich diese Selbstbezeichnung gegen sie wenden. Es bleibt, meint sie, entweder in Russland nicht mehr zu veröffentlichen, weder on- noch offline, nicht mehr mit ausländischen Verlagen zusammenzuarbeiten oder zu emigrieren. Sie hätte – im Gegensatz zu den sowjetischen Bedingungen – perfiderweise die Wahl, doch die Folgen wären in jedem Fall ihre Marginalisierung und Mundtotmachung.