Subversives Umherschweifen, Flugblatt-Regen, Nachspielen eines „Puddingattentats“ für das Fernsehen, besetzte Hörsäle – was ihre Aktionsformen angeht, war die Studentenbewegung die Protestavantgarde der BRD. Ihre Aktionen waren nicht nur neuartig, sondern auch medienfit. Gretchen Dutschke hat den Aufbruch 1968 als Aktivistin miterlebt und mitgestaltet. In einem Gespräch in ihrer Berliner Wohnung spricht sie über die Protestformen der 68er, deren Verhältnis zur Medienöffentlichkeit und über die Herausforderungen politischen Protests im Zeitalter des Internets.
Dorna Safaian: Frau Dutschke, in Ihrem neuen Buch „1968 – Worauf wir stolz sein dürfen“ beschreiben Sie, wie sich im Juli 1966 3000 Studenten vor und in dem Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin auf den Boden setzen und die Demokratisierung der Universität fordern. Das erste Sit-in in Deutschland. So eine Art des Protests hatte es in Deutschland nicht gegeben. Wie kam es dazu?
Gretchen Dutschke: Die Idee des Sit-ins kam aus den USA. Es gab schon in der ersten Hälfe der 60er Jahre Beziehungen zwischen dem deutschen SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und dem amerikanischen SDS (Students for a Democratic Society). Das waren zwei unabhängige Organisationen, ihre Beziehung war aber sehr eng, weil sie ähnliche Denkweisen hatten. Ein Student aus dem deutschen SDS ging in die USA und hat im amerikanischen SDS mitgearbeitet. Er hat viele Ideen von dort nach Deutschland mitgebracht.
Rudi Dutschke war ein Verfechter solcher „direkter Aktionen“. Sie kamen als amerikanische Studentin nach Deutschland. Haben Sie ihn diesbezüglich beeinflusst?

Sit-in an der University of California, Berkeley im Jahre 1964; Quelle: berkeley.edu
Das kann ich nicht sagen, aber ich kannte neue Protestformen durch die Civil Rights Bewegung in Amerika. Eine Rede von Martin Luther King habe ich damals in Chicago gehört. Die Studentenbewegung fing in den USA erst Ende 1964 an. Ich kam Anfang 1964 nach Deutschland. 1962 und 1963, als ich noch in den USA war, gab es Studentenaufruhr, aber ohne klares Ziel. Man rebellierte gegen eine enge Gesellschaft, ohne zu wissen, was man wollte. An meinem College haben sich eines Tages die Studenten vor dem Gebäude versammelt. Ich bin dann auf einen Telefonmast gestiegen, woraufhin die Menge gejohlt und geschrien hat. Wegen des Lärms rückte die Polizei an, die wir dann mit weicher Erde bewarfen. Als ein Student verhaftet wurde, wollten wir zur Polizeistation marschieren, wurden aber blockiert. Das war meine Demonstrationserfahrung in den USA. Das war rebel without a cause könnte man sagen.
Was man vom Sit-in an der FU nicht sagen kann. Hier wurden politische Forderung ausgedrückt, aber nicht nur. In Ihrem Buch zitieren Sie einen Beteiligten, der von einem „verdammt glücklichen Gefühl der Gemeinsamkeit“ beim Sit-in spricht. Auch anderen Berichten kann man entnehmen, dass neben dem politischen Ziel das persönliche Erleben bei solchen Aktionen eine Rolle spielte. Sit-ins, Go-ins, Teach-ins usw. haben einen individuelleren Ausdruck als Demonstrationen. Machte auch das subjektive Moment für die Bewegung den Reiz solcher Aktionen aus?
In der Tat ist ein Sit-in eine direktere Protestform als eine Demonstration vor dem Gebäude. Zunächst ging es aber um die politische Aussage. Das Glücks- und Solidaritätsgefühl kam dann dazu. Der Kontakt zur Staatsgewalt spielte aber auch eine Rolle, weil man so die Polizei austricksen konnte. Sie musste die sitzenden Studenten wegziehen, die aber zur Hintertür wieder hereinkamen. Man hat der Polizei auf diese Weise die Arbeit schwer gemacht.
Sie sprechen das Konfliktpotential an, das Aktionen provozieren, die direkt in ein Geschehen oder einen Ort eingreifen. Damit haben sie auch einen höheren Nachrichtenwert als die klassische Demonstration.

Plakate gegen den Vietnamkrieg, 1966; Quelle: literaturkritik.de
Ja. Man hat generell schon sehr früh daran gedacht, dass die Medien eine Rolle spielen müssen. Im Grunde schon bei der ersten Plakataktion gegen den Vietnamkrieg Anfang des Jahres 1966. Die Plakate sollten sowohl in München als auch in Berlin aufgehängt werden. Man wollte den Eindruck erwecken, dass wir stärker waren, als es zu dieser Zeit der Fall war. Sie wurden in der Nacht aufgehängt, allerdings auch entdeckt und weggerissen – von Polizisten, wie uns ein Augenzeuge erzählte. Es waren aber am nächsten Morgen einige übriggeblieben. Die Aktion kam in die Presse. Es wurde der ganze Text des Plakates abgedruckt. Man hat auch zur Kenntnis genommen, dass die Aktion in zwei Städten stattfand. Darüber haben wir uns dann gefreut. Man hat also durchaus Aktionen gemacht, die man als pressewirksam einschätzte.
Das Fernsehen etablierte sich in jener Zeit als zentrales Massenmedium, 1967 wurde das Farbfernsehen eingeführt. Die Studentenbewegung hat dieses Medium bewusst genutzt und auch dadurch an Breitenwirkung gewonnen.
Das wurde immer klarer und hat auch viele Konflikte gebracht, weil Rudi sehr oft als Gesprächspartner angefragt wurde. Wenn er im Fernsehen auftrat, konnte er die Protestaktionen erklären. Das hatte seine Wirkung, das war Rudi sehr bewusst. Er wurde aber am meisten angefragt. Das machte andere eifersüchtig. Da kam auch Mobbing vor. Vor allem war Rudi der Überzeugung, dass eine anti-autoritäre Bewegung keine Führungspersönlichkeit haben sollte. Für ihn lag da ein Widerspruch. Denn die Medien haben ihn immer mehr in diese Rolle gedrängt, ohne dass er das wollte. Das ging so weit, dass wir sogar weggehen wollten.
Das heißt, dass Rudi Dutschke bereit war, deswegen seine Wirkungsmöglichkeiten einzuschränken.
Es ging ja nicht darum, für immer zu gehen. Aber für eine bestimmte Zeit, um den Druck herauszunehmen. Rudi wollte damit auch anderen die Chance geben, in die Medien zu kommen.
Die Tendenz der Massenmedien zur Personalisierung entwickelte sich in jenen Jahren. Es fehlte hier auch an Erfahrungswerten. Wie sehr war man eigentlich von der medialen Breitenwirkung überrascht?

Dutschke auf der Titelseite des „Spiegel“, 1967; Quelle: spiegel.de
Ich habe das Problem mit Rudis Rolle in den Medien immer als eine ideologische Frage gesehen. Für ihn standen mit dieser Rolle einfach die anti-autoritären Ideale auf dem Spiel. Was allerdings wirklich überraschend war, war das Interesse der bürgerlichen Presse. Magazine wie „Stern“ und „Spiegel“, die nicht zum Springer-Verlag gehörten, haben nämlich gemischt berichtet, also positiv und negativ. Sie haben auch Geld gezahlt – viel Geld, z.B. für das „Springer-Tribunal“ 1968. Die Gegnerschaft der Springer-Presse gegenüber der Studentenbewegung hat man dagegen früh erfahren. Das fing schon an, bevor überhaupt konkrete Namen genannt wurden, als erst von sogenannten „Linksrandalierern“ berichtet wurde. Eine Ausnahme gab es aber.
Welche?
Die „Berliner Zeitung“, die zum Springer-Verlag gehört, hat 1966 einen Bericht von einer Podiumsdiskussion mit Rudi in der Askanischen Schule in Berlin geschrieben. Der Titel lautete: „Dutschke dreht an einem dollen Ding“. Das klingt erst einmal positiv. Der Artikel war gemischt – da war Kritisches wie Positives. Das war natürlich gut, denn die Zeitung hatte eine große Leserschaft. Der Mann, der den Artikel geschrieben hat, war allerdings nicht mehr lange beim Springer-Verlag.
Der Konflikt mit dem Springer-Verlag hat sich 1968 zugespitzt. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kam es zu Krawallen vor dem Axel-Springer-Hochhaus und vor Druckereien des Konzerns. Eine Spur des Konflikts ist symbolisch ins Berliner Straßenbild eingegangen. Die Axel-Springer- und Rudi-Dutschke-Straße kreuzen sich in Berlin-Kreuzberg. Wie kam es dazu?

Strassenkreuzung am Axel-Springer-Hochhaus; Quelle: wikimedia.org
Das Problem war, dass der Eingang des Axel-Springer-Verlages an der Kochstraße lag, von der ein Teil in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt werden sollte. Das hätte bedeutet, dass der Axel-Springer-Verlag die Rudi-Dutschke-Straße als Adresse gehabt hätte. Das konnten sie einfach nicht akzeptieren. Die Tür zu dieser Straße haben sie dann geschlossen und den Eingang verlegt. Darauf haben sie eine Axel-Springer-Straße gefordert und bekommen, damit sie eine für sie passende Adresse haben. Deswegen gibt es jetzt die Kreuzung Rudi-Dutschke-/Axel-Springer-Straße. Mein Sohn hat übrigens versucht, die Frau von Axel Springer zu kontaktieren, um ein Gespräch zwischen den beiden Familien anzuregen. Das hat sie aber abgelehnt.
Protest wir heutzutage nicht nur auf Straßen, in Zeitung und Fernsehen, sondern auch im Internet sichtbar. Wie steht es Ihrer Meinung nach um Protest als Mittel politischer Partizipation heute?
Inwieweit das Internet als Protestplattform wirkliche Änderungen herbeiführen kann, kann ich nicht einschätzen. Um Information zu verbreiten und als Sammelpunkt für eine Bewegung ist es wohl nützlich. Ob Online-Unterschriftenaktionen wirksam sind, weiß ich nicht. Es gibt wahrscheinlich viel zu viele davon. Um Spenden zu sammeln, könnte es auch nützlich sein. Ich kenne keine Studien, die den Erfolg dieser Art von Internetaktivismus untersuchen. Generell sehe ich es so: Protest ist notwendig, dabei können alle Formen eine Rolle spielen. Die Rechtsextremen benutzen das Internet natürlich auch tüchtig. Wir dürfen es ihnen auf keinen Fall überlassen. Leider hat die extreme Rechte auch einige der Ideen von den provokativen Protestformen von damals übernommen. Ich bleibe dabei: Protest ist notwendig. Nichtstun ändert ja nichts. Rechtsextremen zu erlauben, mit Hassparolen herumzulaufen und punktuell große Demonstrationen dagegen zu organisieren, reicht aber nicht. Man sollte auch andere Protestformen nutzen. Es gibt so viele wichtige Themen, auch die Klimafrage gehört dazu – ich verstehe nicht, warum die jungen Menschen sich nicht gegen alles stellen, was ihr Leben in Zukunft zerstören wird. Demos reichen nicht mehr. Es braucht viel kreativere Methoden wie Boykott und Besetzungen. Es braucht auch einen weit kritischeren Blick auf das Konsumverhalten und die Wirtschaft insgesamt.