Geschichtsschreibung ist immer zweierlei: Sie schreibt über Vergangenes – aber sie schreibt in der Gegenwart. Sie befragt Geschichte aus der Perspektive und vom Standpunkt der Gegenwart aus, und sie evoziert Vergangenes mit den Schreibpraktiken und Sprachen, in den Medien und Denkräumen des Heute. Sie trägt damit aber auch das Risiko aller Gegenwart: Nicht zu wissen, ob das, was heute als ein sinnvoller, aufschlussreicher oder kritischer Blick auf – zum Beispiel – die Vergangenheit gelten kann, auch morgen, über den Tag hinaus, noch so erscheinen und Bestand haben wird.
Was in diesem Sinne eine bloße, letztlich triviale Rahmenbedingung jeder Geschichtswissenschaft sein mag, wird dann, wenn HistorikerInnen sich mit KulturwissenschaftlerInnen in ein Boot setzen, von einer Äußerlichkeit zum Konzept, von einer Trivialität zum Programm. Wir Herausgeberinnen und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart sind akademisch an den Universitäten Zürich und Basel tätig und kommen aus der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft und den Gender Studies. Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren, seit es GdG gibt und wir wöchentlich zwei von uns ausführlich besprochene und lektorierte Texte publizieren, dieses ständige cross-over über die Grenzen unserer Disziplinen hinweg als etwas Selbstverständliches, als etwas geradezu auf der Hand Liegendes erlebt. Wie kommt das?
Es gibt dazu eine einfache und eine komplizierte Antwort. Die einfache lautet: Geschichte der Gegenwart ist ein Freizeitprojekt jenseits unserer akademischen Pflichten, ein von institutionellen Zwängen befreiter Ort, um Neues auszuprobieren und als ZeitgenossInnen auf die Gegenwart zu reagieren. Das hat, wie wir ausführen werden, nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine letztlich politisch zu nennende Dimension – und es führt auch zu der eher komplizierten Antwort auf die Frage nach dem Konzept unseres postdisziplinären cross-over.
Genealogische und kulturanalytische Blicke
Der Titel „Geschichte der Gegenwart“ ist Programm und verweist zum einen auf den Anspruch, einem breiteren Publikum die Gegenwart als Ergebnis früherer Entwicklungen und Verhältnisse lesbar und verständlicher zu machen. Zum anderen legt er es nahe, die „Geschichten der Gegenwart“ – unsere Hauptrubrik – immer auch als Produkte des heutigen Schreibens von Gegenwart zu verstehen. Doch weil dieses Schreiben meist nicht ohne Blick in die Vergangenheit auskommen kann, gibt es keine wirkliche Grenze, keine systematische Trennlinie zwischen diesen beiden Perspektiven. In jedem Fall geht es darum, sich mit historischem Sachverstand der Gegenwart zuzuwenden. Man könnte mit einem Bonmot einer unserer Autoren auf Twitter sagen: „Alles was ich von der Gegenwart weiß, weiß ich aus der Vergangenheit“ – oder mit Karl Marx darauf hinweisen, dass die Vergangenheit wie ein „Alp auf den Gehirnen der Lebenden lastet“ und Gegenwart immer in den „Kostümen“ der Vergangenheit inszeniert wird.
Doch wie dem auch sei. Unser Blick in die Geschichte beschränkt sich nicht auf unmittelbare Vorgeschichten. Wir begreifen Geschichte vielmehr in genealogischer Perspektive als ein kaum überschaubares Konglomerat ganz unterschiedlicher Entwicklungslinien und Vorkommnisse, in dem auch Abgebrochenes und Vergessenes oder lange zurückliegende Ereignisse relevant sind. Genealogie, wie wir sie verstehen, ist nicht „Erinnerungsgeschichte“, nicht „Aufarbeitung“ des Vergangenen (wogegen gar nichts gesagt sei), sondern die Rekonstruktion der Herkunft dessen, was uns jetzt beschäftigt. Das können ebenso Texte zur mittelalterlichen Geschichte des Islam sein (Almut Höfert, 21.5.2017) wie zur Staatenlosigkeit als dem rechtlichen Erbe zweier Weltkriege (Miriam Rürup, 24.9.2017) oder zu „Reizwörtern“ – eine andere Rubrik – wie „konservativ“ (Martina Steber, 4.3.2018) oder „Kulturkreis“, „Identität“, „Arbeit“, „Populismus“, „Meinungsfreiheit“ etc.
Viele dieser Texte sind nicht primär auf die Geschichte und historische Fragestellungen ausgerichtet, sondern stellen kulturanalytische Fragen nach dem gegenwärtigen Gebrauch von Sprache und Bildern, Zeichen und Medialität ins Zentrum, gepaart mit den unweigerlich politischen Fragen nach Machteffekten und Machtverhältnissen. Entsprechend finden sich im Kreis der bis heute rund 180 Autorinnen und Autoren viele Stimmen aus den Kultur-, Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie aus den Künsten. So schrieb etwa der Germanist Philippe Wampfler einen „Bericht“ über seine Gespräche – oder Gesprächsversuche – mit Verschwörungstheoretikern (28.2.2018), der Wissenschaftsforscher Michael Hagner über „Open Access“ (25.9.2016) oder der Völkerrechtler Oliver Diggelmann über das schwierige Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Zeitalter der Globalisierung (26.4.2017). Wir führten „Gespräche“ – eine weitere Rubrik – mit dem Theatermacher Georg Genoux über seine Inszenierungen mit „displaced people“ in der Ukraine (27.7.2016) oder mit der Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates, die 2017 in Berlin eine liberale Moschee gründete (28.1.2018), um nur zwei Beispiele zu nennen. In all diesen Texten und Gesprächen erweist sich die Frage nach der Gegenwart als eine Frage danach, in welcher Zeit, in welcher Epoche, in welchem historischen Umbruch wir gerade leben. Das ist die Frage, die Geschichtswissenschaft intrinsisch mit den anderen in unserem Online-Magazin präsenten Disziplinen verbindet – eine Vorrangstellung hat dabei keine.
Social Media
Geschichte der Gegenwart ist bewusst nur im Netz zu finden. Dies hat unterschiedliche Gründe. Einer liegt in den gegenwärtigen Entwicklungen des Medienmarktes, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz, wo die Pluralität der Presselandschaft in den letzten Jahren unter Druck geraten ist und die Vielfalt des Feuilletons gelitten hat. Doch auch abgesehen davon eröffnet diese Form des Publizierens inhaltliche und formale Möglichkeiten, die uns die großen Tages- und Wochenzeitungen naturgemäß nicht bieten könnten. Wir sind frei, nur das zu veröffentlichen, was uns relevant, überraschend, aufschlussreich und neu erscheint, und wir können auch jüngeren Kolleginnen und Kollegen eine Plattform für Texte bieten, die keine Chance hätten, im Feuilleton einer großen Zeitung unterzukommen. Für die Qualität bürgen wir – und versuchen dabei, ein Publikum jenseits der Fachöffentlichkeiten zu erreichen. Unsere Beiträge sind allgemein verständlich geschrieben, frei von Fußnoten und Fachjargon, und sie sind mit dem Anspruch verfasst, zum eigenen Weiterdenken anzuregen.
Als Online-Magazin muss GdG sich stets aufs Neue sein Publikum suchen – und wir finden es vor allem in den Sozialen Medien. Die Texte von Geschichte der Gegenwart sind zum Liken, Teilen und Kommentieren gedacht, zum praktischen Gebrauch in den neuen Foren gesellschaftlicher Diskussion. Und dies geschieht durchaus rege: Vielbeachtete Artikel erreichen auf der Website von Geschichte der Gegenwart manchmal über 10.000 Leserinnen und Leser innerhalb der ersten Tage, davon die Mehrheit aus Deutschland, gefolgt von der Schweiz; der Rest ist geographisch sehr breit gestreut. Die Sprache definiert das Publikum, nicht die nationalen Grenzen; die Artikel intervenieren, mit anderen Worten, in durchaus unterschiedliche nationale Diskussionszusammenhänge. Zugleich ziehen sie auch immer wieder das Interesse klassischer Medien auf sich, die einzelne Artikel aufgreifen oder weiterverfolgen. Geschichte der Gegenwart ist kein Projekt, das sich als Gegensatz zum klassischen Kulturjournalismus versteht, sondern eine Art intellektueller Dienstleister für aktuelle Debatten.
Das heißt aber auch: Wir betreiben keine Wissenschaftspopularisierung. Historikerinnen und Kulturwissenschaftler haben zuhanden der Öffentlichkeit noch mehr und anderes beizutragen als die konkreten Ergebnisse ihrer Forschungen: nicht nur oder nicht vornehmlich ihr Fachwissen, sondern ihre spezifischen Fähigkeiten des Fragens und Analysierens. Als ExpertInnen für Heterogenität und Kontingenz, für quellenkritische Genauigkeit und Ambivalenzen können sie aktuelle Kontroversen um Sichtweisen bereichern, die ansonsten oft zu wenig Raum erhalten. Auch das ist daher Programm: die Genauigkeit im Sprachgebrauch, das Freilegen verschleiernder Sprechweisen und die Dekonstruktion ideologischer Begriffe und Konzepte.
Publizieren im rauen Wind
Einen expliziten, gar ideologisch gefestigten politischen Standpunkt hat Geschichte der Gegenwart nicht – auch wenn wir zuweilen auch Kommentare und tagesaktuelle Interventionen publizieren, etwa zum Wahlerfolg der AfD (Kijan Espahangizi, 1.10.2017), zur Förderpolitik des Schweizerischen Nationalfonds (Sylvia Sasse, 6.7.2016) oder zum Verhältnis der Schweiz zu Saudi-Arabien (Bernard Schär, 18.10.2017). Verständigt haben wir uns jedoch auf einen Begriff von „Kritik“, der von der Kontingenz des Gewordenen ausgeht, gegenwärtige Ansprüche auf Wahrheit und Geltung durch historisch-genealogische Analysen hinterfragt und die Räume des Denkens zu erweitern versucht.
Damit macht man sich nicht immer Freunde, wie wir selbst erfahren haben, aber in der heutzutage so überaus polarisierten politischen Landschaft bewegt man sich unweigerlich im rauen Wind, wenn man den Kopf zum akademischen Fenster hinaushält. Mit der Ruhe des historischen „Rückblicks“ und der gelehrten geisteswissenschaftlichen Analyse im geschützten Raum der Universität jedenfalls war es schnell vorbei, als wir uns im Februar 2016 während eines in der Schweiz besonders heftig geführten Abstimmungskampfes über eine SVP-Initiative an die Öffentlichkeit wagten. Seither besteht die Herausforderung für GdG darin, in diesen kühlen, wechselnden Winden auf rauer See weder die Segel zu streichen noch einfach einen „klaren Kurs“ zu fahren. GdG ist kein politisches Projekt aufgrund einer bestimmten Programmatik, sondern wegen seiner kritischen Perspektive auf die Gegenwart. Mit offenem Ausgang.
Dieser Text erschien zuerst im VHD-Journal vom Juli 2018.