Vor kurzem machte in Berlin die Initiative des Antisemitismusbeauftragten Schlagzeilen, Straßen und Plätze umzubenennen, die historischen Personen gewidmet sind, die sich antisemitisch geäußert und betätigt haben. In eindeutigen Fällen soll der Namensgeber vollständig getilgt, bei strittigen die mögliche historische Verstrickung „kontextualisiert“ werden. Solche Verwaltungsakte sind Alternativen zu „wilden“ Tilgungen einer Erinnerung an verpönte Persönlichkeiten, oft am Ende von (Bürger-)Kriegen; aber auch sie unterscheiden zwischen einer kompletten „damnatio memoriae“, die sie dauerhaft dem Vergessen anheimgibt, und einer zeithistorisch fundierten Kommentierung, die ihre Worte und Taten in kritischer Absicht für die Urteilskraft der Nachwelt aufbewahrt. Besonders in den Blick geraten außer Namen von Straßen und Plätzen dann Statuen, Wohnhäuser, Dienststellen und weitere authentisch-auratische Orte.
Interessant ist nun, dass in jüngster Zeit die Rekonstruktion eines den Opfern des 15. Januar 1919 gewidmeten Revolutionsdenkmals auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Erwägung gezogen wird. Während andernorts Erinnerungen an den Kommunismus getilgt werden, soll das 1926 von Ludwig Mies van der Rohe gestaltete Denkmal auf dem Friedhof wiedererrichtet werden. Anstöße dazu gab es bereits mehrfach in jüngerer Vergangenheit, nicht zuletzt von Westberliner und westdeutschen Akteuren. Das Revolutionsdenkmal hat seit der Errichtung unter Ägide der KPD 1926 eine höchst wechselvolle Geschichte hinter sich – nicht nur den Abriss durch die Nationalsozialisten im Jahr 1935, die den großen Stern mit Hammer und Sichel wie eine Trophäe im SA-Museum präsentierten, sondern auch diverse gescheiterte Anläufe zu seiner Erneuerung: der provisorische Nachbau 1946, Pläne für den Nachbau an anderer Stelle in Ost-Berlin, ein gescheiterter Plan Westberliner Architekten und Studenten 1968 für ein Denkmal am Tatort. Am authentischen Ort in Friedrichsfelde findet man heute lediglich eine Gedenktafel und eine Erinnerungsstele mit „Kontextualisierung“.
Den Kommunismus erinnern?

Karl-Marx-Allee Berlin, 2018, Foto: Marek Sliwecki; Quelle: wikipedia.org
Ob und wie man an den Kommunismus erinnern soll, diese Frage stellt sich nicht erst seit 1989. Nachdem Josef Stalin schon 1956 persona non grata geworden war und seiner nur noch in wenigen Gegenden öffentlich gedacht wird (und dort dann eher an den Sieger im „Großen Vaterländischen Sieg“ als an den Parteiführer der KPdSU), fielen mit dem ruhmlosen Untergang der Sowjetunion auch Wladimir Iljitsch Lenin und andere Bolschewiki dem Denkmalssturz anheim; diese Säuberung griff bisweilen zurück auf die Begründer der marxistischen Weltanschauung und Bewegung. Interessant sind aber Fälle, bei denen man an der Denkmalswürdigkeit bewusst festhielt. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bestehen nicht nur Dutzende von Straßen und Plätzen fort, die nach Karl Marx und Friedrich Engels benannt sind und Statuen, die an sie erinnern (vereinzelt auch in Westdeutschland); auch Repräsentanten der KPD wie Ernst Thälmann oder der SED wie Otto Grotewohl haben hier und da ihre Straße behalten dürfen: zur Genugtuung derjenigen, die das Schild abgeschraubt oder zur Genugtuung der anderen, die eine Adresse verteidigt haben – und zur Gleichgültigkeit der meisten Passanten.

Karl Liebknecht; Quelle: dhm.de

Rosa Luxemburg; Quelle: dhm.de
Zu den vom Denkmalssturz Verschonten zählen prominent Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ersterer ist bekannt als Ausrufer der sozialistischen Republik auf dem Berliner Schlossplatz, letztere als auch im Westen geschätzte Kritikerin von Kapitalismus und Imperialismus. Beide verließen im Ersten Weltkrieg die Sozialdemokratie und kritisierten den Burgfrieden; sie gingen dafür ins Gefängnis, initiierten den Spartakusbund, wurden für vogelfrei erklärt und am 15. Januar 1919 von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ermordet. Dieses brutalen Mordes wird seit über 100 Jahren gedacht.
Aus der DDR-Zeit, in der die SED in Friedrichsfelde eine alljährliche Gedenkfeier mit Demonstration und Kranzniederlegung zu Ehren der beiden Revolutionäre ausrichtete, reicht das Ritual in die heutige Bundesrepublik hinein. Alljährlich versammelt die Partei Die Linke Anhänger:innen diverser Organisationen vor der 1951 errichteten „Gedenkstätte der Sozialisten“. Sie stellt sich damit in die Nachfolge der SED, zu der sie ansonsten auf kritische Distanz gegangen ist. Über diese Manifestation linker Kontinuität in einem der von der Linken direkt eroberten Wahlbezirke im Osten Berlins wird regelmäßig in den Hauptnachrichten der Medien berichtet. Seit 2006 findet man hier auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem sowjetkommunistischen Erbe: ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Den Opfern des Stalinismus“, der durch den Förderverein „Erinnerungsstätte der deutschen Arbeiterbewegung“ eingefügt wurde. Teile der Linken wie die „Kommunistische Plattform“ waren damit nicht einverstanden, die Führung der Linkspartei besucht diesen Stolperstein in „Stillem Gedenken“, linksradikale Gruppen führen am Ort weiter Porträts von Josef Stalin und Mao Zedong mit sich. Streitlust, aber auch ideologischer Grabenkampf und Sektierertum sind Markenzeichen der kommunistischen Bewegung.

Mies van der Rohe: Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1926; Quelle: faz.net
Ob eine Rekonstruktion an diesem (übrigens auf dem Friedhof weit abgelegenen) Ort oder eine eher museale Aufbereitung vorzuziehen ist, wird gerade intensiv diskutiert. Architekten:innen und Architekturhistoriker:innen schwanken zwischen der Wertschätzung des Oeuvres von Mies van der Rohe über alle Regime (einschließlich des „Dritten Reiches“) hinweg und der Zurückweisung eines damit verbundenen Opportunismus. Beim Denkmal ist unklar, wem eigentlich gedacht werden soll: dem herausragenden Architekten der Moderne oder der kommunistischen Revolution.
Kommunismus-Mythen…
Davon nicht zu trennen ist die Beantwortung der grundlegenden Frage, wie erinnerungs- und gedenkwürdig die kommunistische Geschichte überhaupt sein soll. Diese Bewertung muss sich erstrecken über den gesamten Zeitraum der KP-Geschichte von der Russischen Revolution und dem Spartakusaufstand beziehungsweise der Gründung der KPD über deren anschließende „Stalinisierung“, das totalitäre Regime Stalins, dessen Terror die Verfolgung deutscher Kommunist:innen einschloss, und die Pflege des Märtyrer-Erbes durch das SED-Regime in der DDR bis hin zu aktuellen neo-kommunistischen Initiativen. Eine engere Bewertung fokussiert auf die beiden 1919 ermordeten Persönlichkeiten und ihre Einordnung in die Geschichte des Sozialismus bis zu diesem Zeitpunkt. Eine breitere Perspektive schließt die postume Deutung der Revolutionsführer im realexistierenden Sozialismus sowie ihren Stellenwert in postkommunistischen Parteien und Bewegungen ein. Zu unterscheiden ist dabei das Paar Liebknecht/Luxemburg als Rebellen gegen das autoritäre System des Wilhelminischen Reiches und den deutschen Militarismus von ihrer späteren Instrumentalisierung durch autoritäre Regime des Sozialismus an der Macht. Für deren Deformation sind sie natürlich nicht verantwortlich, allerdings ist auch in ihrem Denken und Wirken kritisch zu durchleuchten, wo sie eventuell Vorgaben für eine solche Deformation gemacht haben, die Kritiker des Kommunismus a priori in seinen „reinen“ Ideen angelegt sehen.
Dass die SED den seit 1924 durch Lenin angereicherten Liebknecht-Luxemburg-Mythos für Herrschaftszwecke instrumentalisiert hat, verstellt nicht den Blick auf die Abscheulichkeit ihrer Ermordung, ein barbarischer Akt, den man als Keimzelle des Naziterrors gegen die Linke wie generell gegen Andersdenkende ansehen darf. Insofern ist das Gedenken an Liebknecht und Luxemburg zuallererst ein Trauerakt, und er bleibt es, wie auch immer ihn eine Indienstnahme durch spätere Kommunisten beeinträchtigt und beschädigt haben mögen. Und eine solche Indienstnahme muss als solche bezeichnet werden, wie sie übrigens bereits das von Mies van der Rohe geschaffene Revolutionsdenkmal darstellte, das schon mitten in der Phase der Stalinisierung der KPD deren Kampfmythos in Backsteinquader formte, welcher zum Scheitern der Weimarer Republik erheblich beigetragen hat.
… und Kommunismus-Deutungen
Über den Kommunismus, den selbst einer seiner Manifestoren, Karl Marx, nicht so nennen wollte, wurde von Beginn an gestritten. Vier Deutungsmuster der historischen Einordnung kann man grob unterscheiden: Kommunismus als Ausdruck eines gegen die liberale Demokratie gerichteten Extremismus oder Totalitarismus, ein frontal gegen die Ideologie per se gerichteter Antikommunismus und eine antistalinistische Kritik, die der Ursprungsidee eine humanistische Intention nicht abspricht und den Realsozialismus als deren Perversion verurteilt. Und dann gibt es immer wieder marginale neokommunistische Initiativen, die an der Wertigkeit der Idee und ihrer praktischen Umsetzbarkeit festhalten.
Das erste Deutungsmuster, polemisch auf die primitive Formel „rot gleich braun“ verkürzt, sieht in dem keineswegs unzulässigen, aber methodisch voraussetzungsvollen Vergleich der rechts- und linksradikalen Bewegungen Schnittflächen, vor allem dort, wo faschistische und kommunistische Parteien an die Macht gekommen sind, sie als Einparteiensysteme oppositionelle Kräfte und eine per se vielstimmige öffentliche Meinung unterdrücken, die Teilung der Gewalten aufheben und das Privatleben der Bürger:innen massiv kontrollieren. Mit der Willkür von Geheimdiensten, dem Terror gegen Andersdenkende und einer aggressiven Politik nach außen können solche Systeme totalitäre Züge annehmen. Kommunismus und Faschismus sind, was ihre weltanschaulichen Grundlagen betrifft, konträr, können sich aber gegen Akteure und Institutionen liberaler Demokratien partiell und taktisch verbinden. Die beschämendste Kooperation des rechten mit dem linken Totalitarismus stellt der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 dar, in dessen Konsequenz eine größere Zahl deutscher Kommunist:innen dem Terror des NKWD als dem der Gestapo und SS zum Opfer gefallen sind. Nachdem die Totalitarismustheorie lange als politisches Instrument des Kalten Krieges verpönt war, ist sie nicht zuletzt im Rekurs auf Hannah Arendt auch wissenschaftlich wieder zu Ansehen gelangt. Der differenzsensible Vergleich totalitärer Systeme, der diese keineswegs gleichsetzt, sondern auch ihre Unterschiede herausarbeitet, ist der analytische Königsweg.
Ungeachtet möglicher Übereinstimmungen haben zweitens antitotalitäre Autoren in den 1990er Jahren vor allem in Frankreich in direkter Anspielung auf historische Schwarzbücher zum Faschismus ein Schwarzbuch des Kommunismus erstellt, das seinerzeit auf große Resonanz und geharnischte Kritik gestoßen ist und zahlreiche Ungenauigkeiten und Übertreibungen, aber auch einen wahren Kern enthielt. Im Anschluss an ex-kommunistische Dissidenten und sog. „Renegaten“ schon seit den 1930er und 1940er Jahren wurden Menschheitsverbrechen kommunistischer Regime vor allem gegen Kritiker:innen und Gegner:innen angeprangert, die lange aus einem falsch verstandenen Anti-Antikommunismus, wie man die reflexhafte Übersprungreaktion auf den grobschlächtigen Antikommunismus westlicher Provenienz bezeichnen kann, ignoriert, geleugnet oder beschönigt worden waren.
Eine sympathetische Variante der Kommunismuskritik bietet drittens der Antistalinismus, der sich von allen Perversionen und Gewalttaten kommunistischer Potentaten distanziert und zum Teil einen unkontaminierten Kern der kommunistischen Idee zu retten versucht. Protagonisten waren zum einen ehemalige Trotzkisten wie Boris Souvarine und Intellektuelle wie Arthur Koestler, Manès Sperber und weitere sogenannte „Renegaten“, die schon der Idee abschworen. Andere versuchten, in der Partei zu überleben, wie der auf dem Pergolenweg in Friedrichsfelde beerdigte Paul Merker. Anfangs ein Protagonist der Stalinisierung der KPD in den 1920er Jahren, wurde er in den 1950er Jahren als Westemigrant zionistischer Umtriebe beschuldigt und geriet als „französischer Agent“ in die Mühlen des Stalinschen Terrors. Zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, 1956 nur stillschweigend rehabilitiert und als Lektor im Verlag Volk und Welt aufs Abstellgleis geschoben, wurde er posthum immerhin auf einer Briefmarke verewigt. In Friedrichsfelde ruht er unweit der dafür verantwortlichen Genossen aus dem Politbüro (Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Konsorten), die bei Liebknecht-Luxemburg-Ritualen stets indirekt mitgeehrt werden.
Freiheit, Gleichheit und Solidarität
Dass der Kommunismus erinnerungswürdig ist, sollte unbestritten sein. Eine Idee, die Millionen Menschen in ihren Bann geschlagen und mobilisiert hat, und eine machtvolle Bewegung, die zugleich Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, sind schwerlich zu ignorieren. Es geht darum, wie man ohne die lange vorherrschende Hagiografie und Mystifizierung auskommt und die von den Gegnern und Feinden betriebene Propaganda vermeidet. Es bleibt das Spannungsverhältnis zwischen einem auf humanistischen Kategorien aufbauenden Menschenbild und diesen völlig zuwiderlaufenden Praktiken, die an jedem Ort eines „realexistierenden Sozialismus“ aufgetreten sind. Gegenüber der menschlichen Mitwelt wie der natürlichen Umwelt hält der Kommunismus strukturell eine mindestens autoritär-pädagogische, schlimmstenfalls menschenverachtende und naturzerstörerische Hierarchie aufrecht, die ihn zu einem historischen Relikt des 20. Jahrhunderts absinken ließ. Die Kernideen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die der Kommunismus von den bürgerlichen Revolutionen geerbt hat, um sie aus dem Reich der Ideen in die soziale Welt zu übersetzen, sind damit nicht obsolet. Im Sinne einer antitotalitären Lektüre können sie sich mit konvivialistischen Ideen der Gegenwart verbinden und einen Teil seiner Aura und Attraktion bewahren, die Autoren wie Slavoj Žižek oder Dietmar Dath mit verzweifeltem Sarkasmus pflegen, während es der Linkspartei laut einer jüngsten Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung gelungen ist, ein Sympathiepotenzial von mehr als einem Viertel der Deutschen tief unter die Fünfprozenthürde zu drücken.
Was ist also „Kommunismus“, dieses Gespenst, das einst in Europa und der Welt umging, heute: ein antiquarisches Studienobjekt, „nur so eine (in Schönheit gestorbene) Idee“? Oder das Monster, das für immer mit dem GULag assoziiert bleibt? Ein Untoter, der immer wieder idealistische Begeisterung hervorruft? Oder ein Mutant, der gerade die Gestalt des russischen Imperialismus angenommen hat? Von allem etwas wohl. Doch wie sagte Christian Semler, 68er, ex-KPD/AO und graue Eminenz der taz, gerne: Kein Kommunismus ist auch keine Lösung.