Ist Jair Bolsonaro, der neue, mit 55 Prozent der Stimmen triumphal gewählte Präsident Brasiliens, ein „Faschist“? Bolsonaro hat öffentlich Folter befürwortet, bedauert, dass die ehemalige Diktatur seines Landes nicht genügend Menschen getötet habe, und Brasilien einen Bürgerkrieg mit 30.000 Toten gewünscht, in dem sich das Land regenerieren könne. Aber macht ihn das zum Anführer einer „faschistischen Bewegung“? Die Meinungen hierzu gehen auch unter Historikern auseinander. Natürlich ist der Hinweis berechtigt, dass ein vorschnell aus Europa „importierter“ Faschismus-Begriff die Tendenz hat, lokale Faktoren auszublenden: So die einheimische Tradition des Autoritarismus, und vor allem das Militärregime, das von 1964 bis 1985 in Brasilien herrschte und dessen Erbschaft noch immer unaufgearbeitet ist. Und in der Tat ist der neu gewählte Präsident ein ehemaliger Militäroffizier, der in dieser Zeit ausgebildet wurde und seine Nostalgie für das Regime nie versteckt hat.
Dennoch besitzt Brasilien eine eigene, unzweifelhaft faschistische Tradition. Hier entstand in den 1930er Jahren die weltweit zweitgrösste Sektion der NSDAP, die nicht zuletzt Mitglieder aus der deutschen Einwanderungsgemeinschaft des Landes anzog. Dazu tauchte in den 1930er Jahren die „Brasilianische Integralistische Aktion“ auf: Eine Bewegung, die eine auf katholischen, ländlichen und männlichen Werten basierende „nationale Ordnung“ verteidigen sollte. Die Bewegung reklamierte dabei offen ihre Zugehörigkeit zum italienischen Faschismus und besaß eine starke antisemitische Strömung. Mit mehr als einer Million Mitgliedern in einem Land, das damals etwa 35 Millionen Einwohner zählte, wurde sie zur größten Massenbewegung Brasiliens dieser Zeit.
Bolsonaros persönliche Geschichte und seine ideologischen Überzeugungen sind mit dem modernen Erbe dieser Zwischenkriegserfahrungen eng verknüpft. Seine Freundschaft mit dem Neonazi Marco Antônio Santos ist bekannt: Auf einem Foto, das in jüngster Zeit häufig zirkulierte, ist Santos neben Bolsonaro als Hitler verkleidet zu sehen. Und auch der Kampagnenslogan von Bolsonaro, „Brasil acima de tudo“, ist eine direkte Übersetzung von „Deutschland über alles“. Die Wendung wurde 1969 vom „Nativistischen Funken“ (Centelha Nativista) nach Brasilien importiert, einer von Nazi-Symbolen faszinierten Gruppierung am radikalen Rand des Militärs, die auf mehr Hardliner-Autoritarismus drängte. Dank politischer Persönlichkeiten wie dem neu gewählten Präsidenten hat diese Strömung den demokratischen Wandel gut überlebt und trägt heute neue Blüten.
Ähnlichkeiten mit dem Europa der Zwischenkriegszeit
Mit der neuen Bewegung Bolsonaros haben damit Elemente des „klassischen“ Faschismus europäischer Prägung Einzug in Brasilien gehalten. Dazu gehört nicht nur der ausgiebige Personenkult um Bolsonaro, der von seinen Anhängern kurz „der Mythos“ genannt wird. Dazu gehört auch eine Ästhetik der Gewalt, mit der auch der „Finger-Revolver“ spielt: an beiden Händen hochgereckte Daumen und gestreckte Zeigefinger sind zum Zeichen der Bewegung geworden, und die Bilder von Anhängern mit in die Luft zeigenden „Revolver“-Händen erinnern stark an die kollektive Mimik des faschistischen Grußes. Wenn Bolsonaro dazu aufruft, die Mitglieder der Arbeiterpartei PT zu „erschiessen“, oder wenn ein gewählter Abgeordneter damit droht, linke Mitglieder der Staatsversammlung von Rio de Janeiro „abzufeuern“, dann wird der politische Konkurrent zum Feind erklärt, den es zu vernichten gilt – auch dies bestens kongruent mit faschistischen Vorstellungswelten.
Auch ohne die Existenz organisierter „Kampfverbände“ agierte ein Teil seiner glühendsten Anhänger nicht anders als Mussolinis Schwarzhemden und beging Hunderte von Gewalttaten gegen PT-Aktivisten, Homosexuelle, Transsexuelle und Indigene – einschließlich mindestens dreier Morde. Hakenkreuze und Graffiti, die mit dem Mord an Schwarzen und LGBT+ drohen, wurden in die Straßen, in Schulen und sogar an Kirchenmauern gesprüht, was ein Klima der Einschüchterung während der Wahlen schuf. Zudem basierte die offizielle Kampagne auf der Manipulation der Massen durch eine große Fake News-Industrie, die in sozialen Netzwerken wie Whatsapp und Facebook Falschmeldungen verbreitete. Kandidaten und Führer der Linken wurden darin mit Anschuldigungen wegen Korruption, Sexualisierung von Kindern, Vergewaltigung und sogar Satanismus verleumdet.

„Finger-Revolver“, Quelle: jungewelt.de
Moralische Verunglimpfung und politische Verfolgung haben sich zu einer Hysterie hochgesteigert, die dem politischen Klima der europäischen Zwischenkriegszeit in nichts nachsteht. Unmittelbar nach dem Sieg von Bolsonaro forderte einer seiner Kongressabgeordneten Schüler dazu auf, mit ihren Handys Lehrer zu filmen, die „linke Indoktrination“ praktizieren würden. Die Feindseligkeit gegen die „Roten“ hat sich in einen totalitären Wahn verwandelt, in dem selbst konservative Denker wie Francis Fukuyama als „Kommunist“ verabscheut und Menschen auf der Straße angegriffen werden, nur weil sie rote Kleidung tragen. Diese Hexenjagd gegen die Linke – ein Wort, das von seiner eigentlichen politischen Bedeutung entleert wurde – hat die Form einer irrationalen Suche nach Sündenböcken für die brasilianische Wirtschaftskrise angenommen; einer Suche, die beunruhigende Ähnlichkeiten mit der ersten historischen Phase der faschistischen Schikanen gegen religiöse und ethnische Minderheiten aufweist.
„Faschismus“: ein passendes Etikett?
Gleichwohl gibt es auch gute Gründe, vorsichtig zu sein, bevor man den „Bolsonarismus“ (nennen wir ihn so, bis die Debatte beendet ist) mit dem Etikett „Faschismus“ versieht. Bolsonaro besitzt nicht Hitlers dogmatische Substanz, und seine ungefähre Syntax liegt weit hinter Mussolinis berühmten intellektuellen und literarischen Fähigkeiten. Er ist ein weiteres Beispiel für den rätselhaften Erfolg rechtsextremer Persönlichkeiten auf der ganzen Welt – Matteo Salvini in Italien, Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump in den USA –, deren mittelmäßiges Auftreten und ungeschliffene Sprache in scharfem Kontrast zum rhetorischen Stil faschistischer Führer der Zwischenkriegszeit stehen. Ein anderer bemerkenswerter Unterschied ist das Fehlen einer Massenpartei: Die Sozialliberale Partei (PSL), der Bolsonaro erst im März 2018 beitrat, war lediglich eine der wenigen Splittergruppen, die ihn dazu einluden, sie in der Präsidentenwahl zu vertreten.

Anhängerin von Jair Bolsonaro © Silvia Izquierdo/AP/dpa, Quelle: zeit.de
Erst in den letzten Tagen der Kampagne wuchs sie zur zweitstärksten politischen Kraft Brasiliens heran, und ihr fehlen noch immer die strukturierenden Rituale und die militärische Organisation früherer faschistischer Bewegungen. Schließlich scheint der Bolsonarismus nicht wie der europäische Faschismus den Anspruch auf territoriale Expansion zu erheben. Aber dieser letzte Punkt muss im geografischen Kontext Brasiliens diskutiert werden, eines Landes mit einer Fläche von 8,5 Millionen Quadratkilometern, dessen riesiges Inneres von den autoritären Bewegungen des Lands immer als leerer Raum betrachtet wurde, den es zu unterwerfen gelte, damit die Nation überleben und wachsen könne. Daher können Bolsonaros Versprechen, die Entwaldung zu verstärken und indigene Gebiete zu verkleinern, durchaus als eine tropische Version des faschistischen Strebens nach „Lebensraum“ interpretiert werden.
Der Blick der Historiker und Erklärungen der ganz kurzen Dauer
Auch wenn sich „geographische“ Argumente dafür finden lassen, in der Sozialliberalen Partei unter Jair Bolsonaro eine „brasilianisierte“ Variante des Faschismus zu sehen, so sind die historischen Entwicklungen, die zu ihrem Durchbruch geführt haben, sehr viel schwieriger zu erfassen. Zahlreiche Historikerinnen und Historiker Brasiliens haben die autoritäre Tendenz ihrer Regierungsinstitutionen spätestens mit der verfassungswidrigen Amtsenthebung gegen die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 erkannt. Dennoch kam auch für die Historiker der Erfolg Bolsonaros in der ersten Präsidentschaftsrunde überraschend. Noch eine Woche vor dem ersten Wahlgang war Bolsonaro in den Meinungsumfragen nicht Favorit gewesen: Ein erheblicher Anteil jener Wähler, die ihm das spektakuläre Ergebnis von 46 Prozent der Stimmen bescherten, entschied sich erst in den letzten 48 Stunden für ihn. Insofern versagen lang- und mittelfristige Erklärungen des Wahlsieges, wie Historiker sie gewöhnlich kennen, weitgehend, auch wenn sich entsprechende Erklärungen selbstverständlich finden lassen. Hierzu gehören etwa das Rachebedürfnis jener reaktionären Elite, deren Wohlstand auf dem strukturellen Erbe der Sklaverei beruht, aber auch die Deklassierungsmacht einer seit vier Jahren durchgreifenden Wirtschaftskrise sowie der Zusammenbruch des gesamten politischen Systems aufgrund ungeheurer Korruptionsskandale.
Auch die zunehmend engeren Bündnisse mit evangelikalen Priestern im Zeichen von Bolsonaros Projekt der Wiederherstellung einer patriarchalischen Familienordnung haben gegen Ende der Kampagne eine wichtige Rolle gespielt. Ihr politischer Einfluss ist das Ergebnis von inzwischen fünfzig Jahren erfolgreicher Basisarbeit dieser Kirchen in den sozial segregierten Stadtvierteln, die sich geschickt die Mittel der modernen Unterhaltungsindustrie und digitalen Welt zu eigen machten, um ihr Dogma zu verbreiten. Doch solche lang- und mittelfristigen Entwicklungen reichen nicht aus, um den „Blitzkrieg“ Bolsonaros in vielen Teilen Brasiliens zu erklären: Im Bundesstaat Rio de Janeiro zum Beispiel wuchs der Stimmanteil von Bolsonaros engen Verbündeten und Gouverneurskandidaten Wilson Witzel in 24 Stunden von 14 Prozent (in der für ihn günstigsten Umfrage) auf 41 Prozent in weniger als 24 Stunden.
Der Aufstieg des digitalen Faschismus
Was der historische Blick nicht erkennen kann, ist die entscheidende Rolle digitaler Technologie, die bei der Wahl die Auswirkungen längerfristiger sozialer und politischer Entwicklungen in kürzester Zeit duplizierte und beschleunigte. Laut der Daten, die das Meinungsforschungsinstitut Datafolha am 28. Oktober 2018 veröffentlichte, gaben 65 Prozent der brasilianischen Wähler an, sich politisch durch „Nachrichten“ auf Whatsapp zu informieren, wobei 47 Prozent ergänzten, diese Nachrichten auch zu glauben. In dieser Konstellation gelang es Bolsonaro mit seiner Kampagne, eine neue Form des Faschismus zu erfinden, deren Geburtsort nicht die Straße, sondern die sozialen Netzwerke waren.
Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sich Lügen digital verbreiten ließen, machte die faschistische Massenpartei als Instrument zur Manipulation der Gesellschaft obsolet. Stattdessen wurde, wie die Zeitung Folha de São Paulo bereits am 18. Oktober 2018 enthüllte, eine zentral geplante Propagandakampagne über die Sozialen Netzwerke initiiert, in der Hunderte von Geschäftsleuten einen massiven Wahlbetrug zugunsten der PSL vorantrieben. Obwohl vollständig illegal investierten diese Unternehmen jeweils bis zu vier Millionen Dollar, um Benutzerdaten der Sozialen Netzwerken zu erhalten, Whatsapp-Gruppen zu gründen und Millionen von Privatkonten mit Diffamierungen gegen Kandidaten der Arbeiterpartei zu bombardieren. Diese Kampagne wurde mit viel illegalem Geld in Gang gesetzt, aber sie entfaltete Kraft, weil von den Massen selbst getragen wurde. Kaum war dieses Gift in die digitale Welt eingeführt, wurde die Manipulation der Massen zu einem partizipativen Prozess: Durch ihre Mobiltelefone verbreiteten die Brasilianer jene gefälschten Nachrichten, die geschaffen worden waren, um ihre Wahlentscheidung zu beeinflussen, inmitten des alltäglichen Flusses von Emoticons, persönlichen Nachrichten und anderen, unpolitischen Informationen an Verwandte, Freunde und Kollegen.

Protest gegen Bolsonaro; Quelle: zeit.de
Diese Konstruktion eines durch Interaktivität verflüssigten Faschismus, der sich über die sozialen Medien immer wieder spontan bildet, könnte Bolsonaro und seine Clique davon abhalten, in Zukunft einen staatlichen Überwachungs- und Repressionsapparat zu bauen. Der brasilianische Journalist Fausto Salvadori hat in einer der besten Analysen nach dem zweiten Wahlgang auf diese Gefahr hingewiesen, als er danach fragte, wer schon Zensur und eine politische Polizei brauche, wenn Schüler Lehrer ganz direkt mit ihren Handys filmten. Und welche Diktatur, liesse sich im Anschluss daran fragen, braucht planvolle Techniken staatlicher Gewalt, wenn Hunderttausende von anonymen „Trollen“ das Internet nutzen, um Aufrufe zur Vergewaltigung oder Ermordung von Angehörigen ethnischer und sexueller Minderheiten zu verbreiten, wie es in den letzten Wochen geschehen ist? Darin könnte auch der entscheidende Grund dafür liegen, warum klassische faschistische Rhetorik im Bolsonarismus kaum eine Rolle spielt: In der Welt der sozialen Netzwerke, in denen Kommunikation aus schnellen Sätzen, manchmal mit einer streng begrenzten Anzahl von Zeichen (Twitter), und einer syntaktisch unterkomplexen Sprache besteht, sind die Sprachbilder des klassischen Faschismus ebenso unpassend wie unnötig. Digitale Rhetorik produziert keine charismatischen Volkstribune, sondern „Influencer“, die in ihrer spontanen Alltagssprache sprechen, mit provokanten Erklärungen auf sich aufmerksam machen, sich durch Instagram-Bilder und Live-Videos aus ihrem Krankenzimmer oder vom heimischen Sofa zu Wort melden und damit jenes digitale Summen erzeugen, das die Kampagne von Bolsonaro zum Erfolg führte.
Wie Historiker des klassischen Faschismus hervorgehoben haben, kann es viele Arten von faschistischen Bewegungen geben. Bolsonarismus ist die erste, die eine digitale Form annimmt. Doch das macht sie nicht weniger totalitär in ihrem Projekt der politischen Verfolgung, wie die fast surrealistische Rede Bolsonaros am 22. Oktober 2018 zeigte. Während tausende Unterstützer für die Rede in die Hauptstraße Sao Paulo’s gekommen waren, wandte sich der Kandidat per Internetvideo an den Mob: gefilmt mit einem Mobiltelefon stand er in zufälligen Hausklamotten an einem Ort, der wie die Waschküche seines Hauses aussah. Der Inhalt der Rede jedoch war Faschismus der grausamsten Art: Bolsonaro riet seine politischen Gegner, „das Land zu verlassen oder ins Gefängnis zu gehen“ und versprach, „sie alle nach Ponta da Praia zu schicken“, eine Militärbasis, die während der Diktatur als Folterzentrum diente.
Es ist Zeit, vom Faschismus zu sprechen
Seit Ende der 1980er Jahre hat das Aufkommen des Rechtspopulismus in der europäischen Parteienlandschaft zu einer inflationären Nutzung des Faschismus-Vergleichs in Politik und Medien geführt. Viele Historiker hat dies bewegt, den häufigen Übertreibungen in der politischen Diskussion entgegenzutreten und das Etikett Faschismus nur sehr sparsam für rechtsradikale Bewegungen zu verwenden. Jetzt ist es an der Zeit, es auch für die Gegenwart wieder zu nutzen, denn Bolsonaro ist nicht nur der „Trump der Tropen“. Ihm geht es um einen rechtsextremen Totalitarismus, auch wenn sein Plan einer rechten Diktatur in der digitalen Welt der gegenseitigen Vernetzung weitaus schwerer zu erkennen ist als in Zeiten, in denen diese Politik noch von traditionellen faschistischen Strukturen verkörpert wurde. Den Bolsonarismus als digitalen Faschismus zu erkennen, ist deshalb keine Frage des akademischen Fachjargons. Es ist ein adäquater historischer Vergleich, der uns über die Risiken dessen informiert, was derzeit geschieht. Denn Faschismus produziert Blutvergießen, vor allem wenn die internationale Gemeinschaft ihn nicht in seinem Frühstadium identifiziert.