
Mit Blick auf Protest und grüne Politik in Deutschland vermischten sich am Ende des Jahres 2021 zwei Eindrücke, die auf den ersten Blick nur schwer zusammenzupassen scheinen: Erstens, nach anderthalb Jahrzehnten in der Opposition, sind die Grünen im Bund wieder an der Regierung, wenn auch nur als zweitstärkste Kraft in einer sozialdemokratisch geführten Ampelkoalition. Zweitens das derzeit am stärksten diskutierte Protestphänomen, die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, zeichnet sich durch eine diffuse Bandbreite an Teilnehmer*innen aus, von denen einige offenbar dem grün-alternativen Milieu zuzurechnen sind. Wissenschaftlich bestätigt wurde dieser Eindruck durch eine von der baden-württembergischen Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie zu den „Quellen des ‚Querdenkertums‘“. Darin kam ein Team um die Basler Sozialwissenschaftler*innen Oliver Nachtwey und Nadine Frei zu dem Ergebnis, dass sich die Zusammensetzung der Corona-Proteste von Bundesland zu Bundesland bisweilen markant unterscheidet. Während sie im Osten Deutschlands stärker von der extremen Rechten geprägt sei und viele AfD-Wähler*innen anspreche, spiele für den deutschen Südwesten das Alternativmilieu sowie das sich damit teils überschneidende anthroposophische Milieu eine größere Rolle. Ein signifikanter Anteil von rund 30 Prozent unter den befragten Teilnehmer*innen, so notiert die vielgelesene Studie, habe früher einmal die Grünen gewählt, teilweise noch bei der Bundestagswahl 2017. Das mutet umso erstaunlicher an, als es im zweiten Corona-Winter vor allem die Grünen sind, die in der noch jungen Bundesregierung zu den prononciertesten Befürworter*innen einer Impfpflicht gehören.
Woraus erklärt sich diese vergangene Nähe? Laut den Basler Forscher*innen ist es die im deutschen Südwesten traditionell starke Verankerung der Anthroposophie, die eine mögliche Brücke von der verbreiteten Impfskepsis in diesem Milieu zur Querdenker*innenbewegung schlägt. Diese Verbindung war und ist möglicherweise für manche ehemalige und nun enttäuschte Grünen-Anhänger*innen tragfähig.
Grund genug, um die historischen Verbindungen zwischen Anthroposophie und Grünen genauer zu prüfen und nach den gemeinsamen Berührungspunkten zur breiteren Alternativbewegung zu fragen. Das führt uns zurück in die Gründungsphase der Grünen als Bewegung und Partei. Einmal mehr erscheinen dabei die 1970er Jahre als historisches Gelegenheitsfenster, in dem sich Alternativkultur, Teile der Anthroposophie und entstehende grüne Bewegung überschnitten, ohne freilich ganz ineinander aufzugehen. Gleichzeitig war diese Zeit ein Fenster in die Zukunft, das ausschnittweise einen Blick auf unsere heutige Gegenwart preisgibt. Im Folgenden sollen einige für die Gründungsphase der Grünen relevante Protagonist*innen und Netzwerke betrachtet werden, die Überschneidungen zum anthroposophischen Milieu aufwiesen und neben bestimmten Ideen auch Elemente einer gemeinsamen politisch-sozialen Praxis miteinander teilten. Inwiefern bildeten sie eine Brücke zur Alternativbewegung und zu den entstehenden Grünen? Und wann wurde diese brüchig?
Alternativer Gemischtwarenladen – die Anthroposophie in den 1970er Jahren
Ein Charakteristikum der frühen grünen Bewegung, die sich im Januar 1980 als Bundespartei gründete, war ihre große Heterogenität, die ideologisch von „ganz links“ bis „ganz rechts“ reichte. Paradigmatisch kam dies im Gründungsslogan „nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ zum Ausdruck. Teil dieses Spektrums war die Anthroposophie, die neben einer an Rudolf Steiner ausgerichteten orthodoxen Richtung etliche Spielarten kennt. Es sind insbesondere ihre zahlreichen Praxisfelder, von der Waldorfschule über die Alternativmedizin bis zur biodynamischen Landwirtschaft, die in den 1970er Jahren eine ungeheure Dynamik entfalteten und Anschlussfähigkeit in unterschiedlichen Milieus ermöglichten. In Anlehnung an den Religionswissenschaftler Helmut Zander, einem der ausgewiesenen Kenner auf diesem Gebiet, lässt sich von „selektiver Nutzung“ sprechen.
Gründungskongress der Grünen in Karlsruhe 1980; Quelle: badische-zeitung.de
Zu den besten Kund*innen des anthroposophischen Gemischtwarenladens mit Selbstbedienung gehörten seinerzeit die Vertreter*innen des nach „1968“ entstehenden und für die 1970er und 1980er Jahre so prägenden Alternativmilieus, das der Konstanzer Zeithistoriker Sven Reichardt umfassend analysiert hat. Es bildete die soziokulturelle Basis für die zur selben Zeit entstehende politische Bewegung der Grünen. Ideologisch waren die Alternativen meist im weiten Umfeld der undogmatischen Linken nach „1968“ verortet, jenseits der Sozialdemokratie, aber auch auf Distanz zu den kommunistischen Experimenten der dogmatischen K-Gruppen. Doch welche konkreten Schnittstellen lassen sich zwischen Grünen, Alternativen und der Anthroposophie ausmachen? Auf organisatorisch-personeller Ebene sind es drei Zusammenhänge, die im Formierungsprozess der Grünen von Bedeutung waren.
Völkische Lebensschützer*innen…
Zunächst gab es Berührungspunkte der Grünen zu völkischem und nationalistischem Denken, wie es in Teilen der traditionellen Lebensschutzbewegung zum Ausdruck kam. Deren Wurzeln reichten vor allem in die Nachkriegszeit und teilweise bis zur Lebensreformbewegung der „langen Jahrhundertwende“ zurück, etwa im Dunstkreis des „Weltbunds zum Schutz des Lebens“ (WSL). Einer ihrer Protagonisten war der ehemalige Nationalsozialist Werner Georg Haverbeck (1909-1999). Bereits in den 1930er Jahren mit der Anthroposophie in Berührung gekommen, war er in den 1950er Jahren Pfarrer in der anthroposophisch inspirierten Christengemeinschaft und stand seit 1974 an der Spitze der deutschen Sektion des WSL. Mit seiner Frau, Ursula Haverbeck-Wetzel (*1928), die seit den 2000er Jahren mehrfach wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung verurteilt wurde, leitete er das „Collegium Humanum“ in Vlotho. In den 1970er Jahren ein wichtiges Forum für unterschiedliche Gruppen der Umweltbewegung wie der entstehenden Grünen, entwickelte sich das Collegium seit den 1980er Jahren immer stärker zu einer Anlaufstelle für Rechtsextremist*innen und wurde 2008 vom Verfassungsschutz verboten. Für den völkischen Ökobauern Baldur Springmann (1912-2003) wiederum, der ebenfalls eine braune Vergangenheit hatte, war Anthroposophie weniger als Theorie denn als Praxis von Interesse: Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte er auf biodynamisches Wirtschaften umgestellt und verstand es, sich bis weit ins linke und alternative Milieu hinein als Pionier einer ökologisch orientierten Landwirtschaft zu inszenieren.

August Haußleiter im ersten Bundesvorstand der Grünen, neben Petra Kelly; Quelle: faz.net
Teile der völkisch grundierten Lebensschutzbewegung gelangten in den Gründungsprozess der Grünen. Die wichtigste organisatorische Brücke bildete die nationalneutralistische Kleinstpartei der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) um ihren umtriebigen Vorsitzenden August Haußleiter (1905-1989), der nach einem kurzen Engagement in der frühen CSU vor allem mit rechten Splitterparteien hervorgetreten war. Nach einem misslungenen Annäherungsversuch an APO und Studentenbewegung gelang es der AUD in den 1970er Jahren, Kontakte zur sich institutionalisierenden Umweltbewegung aufzunehmen. Dadurch wurden sie zu einer der Gründungsorganisationen der Grünen, in deren Frühphase sie eine durchaus markante, aber nicht dominante Rolle spielte.
…und „antiautoritäre Anthroposoph*innen“
Wichtiger als diese punktuellen Überschneidungen sind allerdings zwei andere anthroposophisch beeinflusste Netzwerke im Entstehungsprozess der Grünen. Aufgrund ihrer teils ausgeprägten lebenskulturellen Schnittmengen mit dem Alternativmilieu, bezeichne ich sie als „antiautoritäre Anthroposoph*innen“. Sie bestanden aus zunächst getrennten Organisationszusammenhängen, die in den 1970er Jahren zueinander fanden: Zunächst der Achberger Kreis, dessen institutionelles Zentrum sich im äußersten Südosten Baden-Württembergs unweit des Bodensees befand. Dort entstand an der Wende zu den 1970er Jahren das Internationale Kulturzentrum Achberg, das fortan als Forum radikaldemokratischer Anthroposoph*innen fungieren und im Gründungsprozess der Grünen eine wichtige Plattform darstellen sollte. Es formierte sich um die Idee der „sozialen Dreigliederung“ nach Steiner, die drei voneinander getrennte gesellschaftliche Bereiche unterscheidet und sie mit den Idealen der Französischen Revolution zu verknüpfen sucht: Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Bereich des öffentlichen Rechts und Freiheit im Geistesleben. Was in den Reihen der orthodoxen „Mehrheitsanthroposophie“ im Umfeld der Anthroposophischen Gesellschaft bestenfalls auf Desinteresse stieß, wurde von den Achbergern ins Zentrum ihrer politischen Arbeit gestellt. In ihren Augen galt es, die anthroposophische Lehre, insbesondere deren politisch-gesellschaftliche Aspekte, dem Zeitgeist und den gesellschaftlichen Herausforderungen der 1970er Jahre anzupassen.

Joseph Beuys: „Mensch, Du hast die Kraft zu Deiner Selbstbestimmung“ (o.J.); Wahlplakat für die Grünen, Quelle: tate.org.uk
Darüber kam sie schnell in Kontakt mit einer anderen Gruppe, die ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte: Die 1973 gegründete Freie Internationale Universität (FIU) um Joseph Beuys (1921-1986), der als ihr charismatischer spiritus rector das Drehgelenk zu den Achbergern wurde. Auf die Prägung des Künstlers durch das Werk Steiners und seine ambivalente politische Einordnung wurde bereits vielfach verwiesen, am dezidiertesten von Hans Peter Riegel. Im Laufe der 1970er Jahre fand eine zunehmende Vernetzung von Achberger Kreis und FIU um Joseph Beuys statt. Unabhängig von unterschiedlichen Akzentsetzungen vertraten sie im Grunde dieselben Ideen, die in einem gemeinsamen Habitus und einem spezifischen Politikstil ihren Ausdruck fanden.
Dreigliederung, „Dritter Weg“ und direkte Demokratie
Prägend für beide Gruppen blieb die Neudeutung von Elementen aus der Anthroposophie, die sich auf deren politisch-gesellschaftliche Aspekte konzentrierten. Neben der Idee sozialer Dreigliederung war das insbesondere die Suche nach einem wirtschafts- und gesellschaftspolitischen „Dritten Weg“, worüber es zum Austausch mit Anhänger*innen des niedergeschlagenen Prager Frühlings kam. Über den tschechoslowakischen Dissidenten Milan Horacek entstanden zudem Kontakte zwischen Beuys und Rudi Dutschke, was weitere Brücken zwischen „antiautoritären Anthroposoph*innen“ und der undogmatischen Linken innerhalb der sich formierenden grünen Bewegung schlug.
Neben der Anthroposophie war für Beuys ein weiterer wichtiger Ideenfundus die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells, die dieser ebenfalls um die vorletzte Jahrhundertwende entwickelt hatte. Insbesondere dessen Geldtheorie, die die „Zinswirtschaft“ ablehnte, erlebte in den 1970er Jahren eine begrenzte Renaissance. Dazu gehörten Beuys und sein Achberger Umfeld um den Anthroposophen Wilhelm Schmundt (1898-1992).
Ein letzter zentraler Berührungspunkt zu Grünen und Alternativen bildete schließlich die Idee der direkten Demokratie, welche ein Kernbestandteil im Programm der FIU wie der Achberger war. Sie ging einher mit einer umfassenden Staatsskepsis, die zudem mit einem radikalen Eintreten für menschliche Freiheit und Selbstbestimmung verbunden war. Die vielfache ideelle Anschlussfähigkeit gegenüber Vorstellungen und Überzeugungen, die in der undogmatischen Linken kursierten, wurde nochmals verstärkt auf der Ebene des Habitus und des Verhaltensstils. Er erleichterte die (Selbst-)Verankerung der antiautoritären Anthroposoph*innen im alternativen Milieu der 1970er Jahre.
Grüne und Anthroposophie – was bleibt?
Doch wie sehr und wie anhaltend prägten diese Netzwerke und ihre anthroposophisch inspirierten Programme die Grünen? Organisatorisch gehörten sowohl der Achberger Kreis als auch die FIU zu den Gründungsorganisationen der Europagrünen, die 1979 als Mitte-Rechts-Bündnis bei den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament antraten und dort einen Achtungserfolg erzielten. Mit der Erweiterung um Gruppen der dogmatischen und undogmatischen Linken in der ein Jahr darauf gegründeten Bundespartei verloren sie aber organisatorisch an Einfluss. Das betraf zunächst völkisch-nationalistische Grüne wie Baldur Springmann, die mit konservativen Mitstreiter*innen bereits kurz danach die Partei verließen, um die ÖDP zu gründen, die Ökologisch-Demokratische Partei.

Wahlplakat der Grünen mit Beuys-Kunst im Bundeswahlkampf 1980; Quelle: spiegel.de
Aber auch die Achberger, die FIU und Joseph Beuys selbst verloren im politischen Tagesgeschäft schnell an Resonanz. Bei den Europawahlen 1979 hatte Beuys für die Grünen kandidiert, und bei den Bundestagswahlen 1980 war er sogar als ihr nordrhein-westfälischer Spitzenkandidat ins Rennen gegangen. Nur drei Jahre später verwehrte ihm seine Partei jedoch einen aussichtsreichen Listenplatz. Obgleich er bis zu seinem Tod Mitglied war, blieb seine große Zeit bei den Grünen eine kurze Episode im Formierungsprozess der Partei. Dieses Schicksal teilte er mit den anderen anthroposophisch inspirierten Netzwerken und der Mehrzahl ihrer Protagonist*innen.
Daraus ein abruptes Ende der Wirkungsgeschichte ihrer Ideen und Praktiken im Umfeld der Partei abzulesen, wäre allerdings zu kurz gesprungen. Zwar steht es noch aus, diese empirisch dicht zu erforschen, ein Blick auf die Anhänger- und Wählerschaft der Grünen lässt jedoch auf eine fortbestehende Nähe schließen. Das gilt für das weit gefasste Alternativmilieu ebenso wie für die Anthroposophie und ihre Praxisfelder, von der biodynamischen Landwirtschaft über die Waldorfschulen bis hin zur Alternativmedizin. Für das Selbstverständnis der Partei sind diese weiterhin von Bedeutung – wenn auch für ihre Anhänger*innen offenbar stärker als für ihre gewählten Repräsentant*innen. Dass hier ein regelrechtes Spannungsverhältnis zwischen den Grünen und ihrer Klientel besteht, hat nicht zuletzt die 2019 und 2020 intensiv geführte Debatte um die Rolle von Homöopathie und Alternativmedizin gezeigt. Auch wenn sich deren Anhänger*innen bei den Grünen auf einem Rückzugsgefecht befinden, schlug die Auseinandersetzung inner- und außerhalb der Partei hohe Wellen, bevor sie seit dem Frühjahr 2020 bekanntlich von einem anderen, bestimmenderen gesundheitspolitischen Thema in den Hintergrund gedrängt wurde.