Heidi steht für die ungetrübte Idylle in den Alpen, Pinocchio ist ein Symbol für alle, die sich das Lügen nicht verkneifen können, und Pippi Langstrumpf macht jenen Mut, die sich die Welt so machen wollen, wie sie ihnen gefällt. Populäre Klassiker der Kinderliteratur entwickeln im Lauf ihrer Rezeptionsgeschichte bekanntlich ein Eigenleben – sobald die Stoffe für die Bühne, fürs Kino und fürs Fernsehen adaptiert werden und Comics und Videospiele dazu entstehen, lösen sich die Figuren aus dem Kontext ihrer ursprünglichen Erzählung und werden zu Projektionsflächen. Manchmal, wie im Fall der Pippi-Fernsehserie (1969) oder in Roberto Benignis herrlich überdrehter Pinocchio-Adaption, lebt die anarchische Energie auch auf dem Bildschirm weiter.
Doch wer hat schon Lust, sich in Carlo Collodis abgründigen Klassiker zu vertiefen, nachdem Pinocchio mit der langen Nase zum Symbol für Donald Trumps Lügen geworden ist? Im Fall von Johanna Spyris Heidi wird eine ursprünglich vielschichtige kinderliterarische Figur zur Werbeikone für Milch, Käse und Aufschnitt, mit der sich außerdem die halbe Schweiz als ländliche, konservativen Werten anhängende Tourismusdestination verkaufen lässt. Das ist bedauerlich, weil der ganze Kitsch nicht unbedingt zur Lektüre der beiden Heidi-Romane (1880 und 1881) animiert, geschweige denn dazu, Spyris Gesamtwerk zu entdecken. Es hat den Ruf, frömmlerisch, konservativ und apolitisch zu sein, blind für die soziale Ungleichheit, unter der vor allem auch Spyris Protagonist:innen, die Kinder in der Schweiz des späten 19. Jahrhunderts, zu leiden hatten.

Quelle: zvab.com
Das ist nicht falsch – am Ende greift tatsächlich immer der liebe Gott oder eine reiche Dame aus Genf ein, und alles wird gut –, doch Spyris Texte sind höchst ambivalent und von einer starken subversiven Gegenströmung durchzogen. Immer wieder erzählt sie auf drastische Weise davon, wie brutal mit Kindern verfahren wird, deren Eltern nicht für sie aufkommen können oder die keine Eltern haben. Etwa da, wo ein kleiner Junge, weil der Vater bei der Arbeit verunglückt ist, ganz allein mit einer Kuhherde auf die Alp geschickt wird, einen Sommer lang, und dort in eine tiefe Depression verfällt (Der Toni vom Kandergrund, 1882). Oder da, wo so eindringlich beschrieben wird, wie ein wildes, leidenschaftliches Mädchen mit Kämmen und Kleidern und bösen Worten diszipliniert wird, dass es weh tut beim Lesen (Cornelli wird erzogen, 1890). Spyris Texte blühen auf in der euphorischen Feier der kindlichen Bewegungsfreiheit – in enger Verflochtenheit mit Tieren, Pflanzen und Landschaften. Das lässt sich auch zu Beginn von Heidis Lehr- und Wanderjahre nachlesen, wo Heidi sich ihre dicke Kleiderrüstung vom Leib reisst und einfach mit der Geissenherde davonläuft.
Beissende Dienstmädchen

Quelle: wikipedia.org
So richtig in Wallung gerät das Blut der Kinderliteraturforscherin aber dann, wenn populäre Kinderbuchfiguren für Verschwörungstheorien herhalten müssen. Pippi Langstrumpfs Liedzeile „Ich mach wir die Welt widdewiddewie wie sie mir gefällt“, der Titelsong der TV-Serie und in den 70ern einmal eine feministische Parole, gilt jetzt als das „Lied der Impfgegner“, und die Haltung, die Realität zugunsten einer alternativen Wirklichkeit zu ignorieren, wird als Pippi-Langstrumpf-Syndrom bezeichnet. Was Pippi in Astrid Lindgrens Romanen wirklich tut, ist etwas ganz anderes. Pippi ist weit davon entfernt, die Realität zu verleugnen. Vielmehr legt sie in ihren Aktionen eine ziemlich scharfsinnige Gesellschaftsanalyse und -kritik vor. Pippi zieht sich nicht in eine Parallelwelt zurück, sondern arbeitet sich konsequent an dem ab, was da ist. Sie erkennt die Regeln, nach der die Welt der Erwachsenen funktioniert und macht sich in ihren Spielen darüber lustig, treibt sie buchstäblich ad absurdum. In den Episoden der dreiteiligen Romanreihe spielt Pippi eine ganze Reihe avantgardistischer Verfahren durch – vom Nonsense über das Spiel mit dem surrealistischen objet trouvé bis hin zur Performance und zur Improvisation.
Im neunten Kapitel des ersten Bandes geht Pippi an ein Kaffeekränzchen bei Frau Settergren, der Mutter von Tommy und Annika. Anstatt brav mit den Kindern zu spielen und die Damen in Ruhe plaudern zu lassen, mischt sie, als exaltierte Lady verkleidet, das Kaffeekränzchen auf. Als die Damen ausgiebig über den Ärger mit ihren Dienstboten zu klagen beginnen, schaltet sich Pippi mit der Gegenerzählung von Malin, dem verrückten Dienstmädchen ihrer Großmutter, ein, die in ihrer grotesken Übertreibung die Bösartigkeit der sogenannt besseren Gesellschaft zutage fördert. Als Frau Alexandersson jammert, dass sie so viel schimpfen müsse und Frau Berggren in die Klage einstimmt, weil ihre Rosa so launisch sei, dass sie sich kaum traue, ihr Arbeiten aufzutragen, nimmt Pippi den Faden auf macht daraus eine anarchische Performance: „Meine Großmutter hatte einmal ein Mädchen, das hieß Malin. Sie hatte Frostbeulen an den Füßen, aber sonst war sie wohlgeraten. Das einzige Dumme war, dass sie, sobald Gäste kamen, hinlief und sie ins Bein biss. Und dann bellte sie. Himmlische Mächte, wie sie bellte! Man konnte es im ganzen Viertel hören. Aber das tat sie nur, weil sie spielen wollte.“ Wenn Pippi spielt, entsteht keine geschlossene Gegenwelt, sondern die Welt, die schon da ist, gerät gehörig ins Wanken. Wenn Pippi tut, was ihr gefällt, bedeutet das, dass sie sich als radikale Anarchistin für nichts einspannen lässt.
Unruhe im Kaninchenloch
Ganz ähnlich verhält es sich mit Lewis Carrolls Alice-Büchern. Ein Beispiel ist der Titel des ersten Kapitels von Alice’s Adventures in Wonderland (1865), „Down the Rabbithole“, der zur Chiffre für das Abtauchen von Verschwörungstheoretiker:innen in alternative Universen geworden ist. Florian Keller hat den Widersinn dieser Alice-Interpretation in der WOZ herausgearbeitet und gezeigt, dass es sich gerade umgekehrt verhält: im Wunderland wird alles radikal hinterfragt, und Nonsense lässt sich per definitionem nicht ideologisch vereinnahmen.

John Tenniel: Cheshire Cat in the Tree Above Alice, o..J.; Quelle: themorgan.org
Gerade die Verfahren des Nonsense, wie sie Carroll praktiziert, verweigern sich mit einer radikalen Konsequenz jeder Form von geschlossenen Narrativen. Wenn Alice ganz, ganz langsam ins Kaninchenloch fällt und sich unterwegs immer absurdere Gedanken durch den Kopf gehen lässt, geht es nicht darum, dass physikalische Gesetze in Frage gestellt und durch alternative Regeln ersetzt werden. In Frage steht vielmehr, wie in den Alice-Büchern überhaupt, der Prozess des Verstehens – und zwar angesichts der Unmöglichkeit, überhaupt jemals zu einer abschließenden Erkenntnis zu kommen. Alice bewegt sich nicht, wie oft behauptet wird, passiv durch das Wunderland, um sich von rauchenden Raupen, einem Lächeln ohne Katze und den Gästen der verrückten Teeparty herumkommandieren zu lassen. So wie sich Pippi alles, was sie vorfindet, in ihr eigenes Spiel verwandelt, bewegt sich Alice als philosophische Leserin durch das Wunderland.
Der Nonsense, dem sie begegnet, verweist immer auf die Kontingenz gesellschaftlicher Regeln und auf die Flüchtigkeit des Signifikanten. Die Episoden von Alice im Wunderland brechen denn auch weniger mit der Logik einer vermessbaren Wirklichkeit, sondern, wie Gilles Deleuze herausgearbeitet hat, mit der Logik des Sinns. Aber auch mit der Logik des Erzählens. Von Kinderbüchern wird erwartet, dass sie ihre Leser:innen an der Hand nehmen, großen Wert auf Folgerichtigkeit der Handlung sowie Konsistenz der Figuren legen und beim literarischen Wissen des Publikums ansetzen. Doch all das wird in den Alice-Büchern konsequent unterlaufen. Die Idee des „kindgerechten“ Erzählens erscheint plötzlich als pädagogischer Schraubstock, dem die kindliche Protagonistin erfolgreich zu entkommen versucht. Kaum glaubt Alice, eine Regel durchschaut zu haben, wird sie wieder über den Haufen geworfen – so kommt das Abenteuer im Wunderland niemals zu Ruhe. Mit der Zeit lernt Alice, sich auf die permanente Unruhe einzulassen, und sie beginnt wie Pippi zu improvisieren und mit eigenem Unsinn auf den Nonsense zu reagieren, dem sie begegnet. Als sie im zweiten Band, Through the Looking-Glass (1871), auf ein Gedicht in Spiegelschrift stösst, den berühmten „Jabberwocky“, findet sie bald heraus, dass es sich mit Hilfe des Spiegels entziffern lässt. Was aber nicht bedeutet, dass sie den Text nun besser versteht:
’Twas brillig, and the silthy toves
Did gyre and gimble in the wabe;
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.
Musikalisch ist das Gedicht eingängig, und die Form suggeriert, worum es gehen könnte. Alice gefällt es denn auch, auch wenn sie zugeben muss, dass sie es nicht so recht versteht: „Somehow it seems to fill my head with ideas – only I don’t exactly know what they are!“
Die Abgründe der Kindheitsidylle
Vielleicht ist die Disney-Adaption von 1951 mit ihrem Song „A World of My Own“ daran schuld, dass sich das Wunderland nicht als Ort der Dekonstruktion von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten und der radikalen Reflexion über Sinn und Unsinn etabliert hat, sondern als Parallelwelt für die Pflege alternativer Wahrheiten. Weil das Phänomen der Banalisierung und der missbräuchlichen Verwendung zur Kritik an undemokratischen, aber auch naiven politischen Positionen aber viele Kinderbuchklassiker betrifft, scheint etwas anderes dahinter zu stecken. Im Umgang mit Kinderliteratur, aber auch mit Kindheit generell steckt eine tiefe Ambivalenz, die in solchen Zuschreibungen zum Ausdruck kommt. Dass Kinder, so magisch ihr Denken auch sein mag, nicht in einer anderen, heilen Welt leben, sondern in unserer Welt, mit allen Konsequenzen, ist schwer zu ertragen. Daher kommt die Vorstellung, dass Kinder in alternativen, besseren Welten leben – die sie aber gefälligst zu verlassen haben, wenn sie Jugendliche werden. Undemokratische und totalitäre politische Positionen haben allerdings nichts mit kinderliterarischen Welten zu tun, ganz im Gegenteil. Denn Alice und Pippi, ja sogar Heidi üben verspielte, aber im Grunde radikale Kritik an in sich geschlossenen politischen Narrativen, die vor allem auch Kinder in ihrer freien Entfaltung einschränken. Die missgedeuteten Klassiker der Kinderliteratur produzieren deshalb selbst keine Verschwörungstheorien. Vielmehr sind die Abgründe der Kindheitsidylle eins der grossen Themen von Kinder- und Jugendmedien, und dies, wie Carrolls Alice und Spyris Heidi zeigen, schon seit dem 19. Jahrhundert. Deshalb lohnt es sich, die Texte immer wieder neu zu lesen.