Die verwackelte Kamera, das schiefe, grobkörnige Bild, der schlechte Ton: Schon auf der ästhetischen Ebene erinnert das sechsminütige Video an eine Traumsequenz. Noch surrealer, ist nur sein Inhalt: Der rechtsextreme FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache erklärt vor laufenden – allerdings versteckten – Kameras ausführlich, wie er einer vermeintlichen lettischen Nichte eines russischen Oligarchen künftig Staatsaufträge zu überhöhten Preise vergeben werde, wenn sie dafür die Krone, Österreichs größte Boulevardzeitung, kauft, unliebsame Journalisten – „zack, zack, zack“ – gegen willfährige austauscht und so seine Partei hochschreiben läßt, auf dass die FPÖ bei den Nationalratswahlen im Oktober 2017 zur stärksten Kraft im österreichischen Parlament würde. Zugespitzt formuliert: Ein angeblich demokratischer Politiker erklärt, dass er die Pressefreiheit mit einem Handstreich abschaffe würde, wenn er denn könnte.

Quelle: sueddeutsche.de
Das Surreale dieses Filmmaterials, das das deutsche Nachrichtenmagazin der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und das Wiener Wochenmagazin Falter in wenigen Auszügen gemeinsam am Freitag, den 17. Mai im Internet veröffentlichten, besteht darin, dass es zwar eine Täuschung inszeniert, dadurch aber eine Realität dokumentiert, die anders nie ans Tageslicht gelangt wäre. Kein Wunder also, dass in Zeiten von „Fake News“ und „Alternative Truth“ sofort ein kollektives „Whodunit?“ ausbrach. Seither überschlagen sich die Spekulationen darüber, wer die Urheber der Aufnahmen und was ihre Motive gewesen sein könnten: War es der deutsche Satiriker Jan Böhmermann? Oder waren es von der politischen Konkurrenz beauftragte „Schmutzkampagnen“-Experten wie der Israeli Tal Silberstein? Vermeintliche FPÖ-Parteifreunde? Investigative Journalisten? Der Mossad? Polit-Kunst-Aktivisten wie das Zentrum für Politische Schönheit? Um nur die am häufigsten verdächtigten Kandidaten zu nennen. Im Verlauf der vergangenen Woche verdichteten sich diese Spekulationen schließlich zu drei Haupt-Theorien: Entweder es handelte sich um investigativen Journalismus à la Günther Wallraff oder um ein Kompromat à la KGB & Co. oder um eine Kunstaktion à la The Yes Men. –
Und auch wenn es doch ganz anders gewesen sein könnte, diese drei zentralen Spekulationen sind es wert, rekonstruiert und analysiert zu werden. Denn sie sagen viel darüber aus, welches Ausmaß an Phantasie in der Politik am Werk ist, wie solche Spekulationen für unterschiedliche politische Agenden instrumentalisiert werden und wie dabei abgelenkt wird von dem, worum es bei der ganzen Enthüllung eigentlich geht: Den Kampf um Pressefreiheit und Demokratie.
Verdächtige und mediale Schlammschlachten
Schon im ersten Satz seiner Rücktrittserklärung vom 18. Mai bringt HC Strache zwei Verdächtige ins Spiel, um von seiner erwiesenen Demokratiefeindlichkeit und Korruptionsbereitschaft abzulenken: Entweder hätte ihm ein ausländischer Geheimdienst die Falle gestellt oder es war „Dirty-Campaigning“ in „Silberstein-Manier“. Am Tag nach Straches Rücktritt hatte auch Sebastian Kurz, zu dem Zeitpunkt noch Bundeskanzler Österreichs, im Interview mit der BILD-Zeitung spekuliert: „Wenn wir über die Methoden reden, dann erinnert mich das sehr an Tal Silberstein, den Wahlkampfhelfer der SPÖ 2017. Er hat ähnliche Methoden in aller Welt angewandt.“ Sowohl der scheidende FPÖ-Vizekanzler Strache als auch der ÖVP-Bundeskanzler und Regierungschef Kurz griffen somit vom ersten Moment an auf die bewährte „Silberstein“-Methode zurück, um sich „als Saubermann zu generieren und unterschwellig Antisemitismus zu suggerieren“, wie Armin Thurnher, Herausgeber des Falter, es formuliert.

Quelle: welt.de
Der Israeli Tal Silberstein war im österreichischen Nationalratswahlkampf 2017 von der SPÖ als Spindoktor angeheuert worden. In ihrem Auftrag entwickelte er eine Negativkampagne, in deren Verlauf der damals amtierende Außenminister Sebastian Kurz mittels zweier gefakter Facebook-Accounts diskreditiert wurde. Im August 2017 wurde dieser Versuch der SPÖ, den politischen Gegner durch die Schmutzkampagne zu schwächen, von Journalisten aufgedeckt. Die Aktion, die als „Silberstein-Affäre“ bekannt wurde, ging nach hinten los: Anstatt der SPÖ den Wahlsieg zu sichern, steigerte sie die Popularität der ÖVP und machte Kurz zum stärksten Mann. Bereits am Abend der Veröffentlichung des Strache-Videos hatte Peter Puller, Silbersteins einstiger SPÖ-Kontaktmann, allerdings via Twitter erklärt: „Ich schwöre, der Silberstein und ich haben nichts damit zu tun. Wenn dem so wäre, wär ich schon geplatzt vor Stolz.“ Und auch Silberstein selber wies auf Nachfrage eines Magazins am Montagabend per Mail eine Beteiligung von sich: „Ich lehne diese falschen und grundlosen Anschuldigungen gegen mich ab.“
Also musste aus Sicht der FPÖ dringend ein anderer Sündenbock her. Und niemand bot sich dafür besser an, als der zweite Mann im Spiel, der im Video so anschaulich erklärt, was eine Pistole der Marke „Glock“ ist: Johann Gudenus. Der einstige Wiener Vize-Bürgermeister und bis zur Enthüllung Fraktionspräsident der FPÖ im Nationalrat hatte schließlich seinem langjährigen Freund, Förderer und Chef HC Strache das ganze Schlamassel eingebrockt, da er den Kontakt zwischen Strache und den Lockvögeln herstellt hatte. Und so gab Gudenus am Dienstag, den 21.5. der Tageszeitung Die Presse und der österreichischen Nachrichtenagentur APA Interviews. Darin entschuldigt er sich reuevoll bei Strache dafür, dass er ihn in diese Situation gebracht habe. Zugleich stellt er sich als unschuldiges und schuldunfähiges Opfer dar, dem man in seinen Cocktail aus Alkohol, Energy Drinks und „psychotropen Substanzen“ – sprich: Drogen – „womöglich zusätzlich K.O.-Tropfen“ gemischte habe, was zu einem mehrstündigen Verlust seiner Erinnerung führte. Die gleiche Argumentationsfigur, mit der HC Strache sich in seiner Rücktrittserklärung aus der Affäre zu ziehen versucht hatte: „A b’soffene G’schicht.“
Sehr gut erinnern konnte Gudenus sich dafür an den Anwalt, der den Kontakt zur vermeintliche Nachwuchsoligarchin im März 2017 hergestellt hatte, sowie an deren ständigen Begleiter, an den angeblichen Münchner Geschäftsmann. Umgehend kündigten FPÖ-freundliche Blogs, Online-Portale und Boulevardzeitungen daraufhin die Enttarnung der Quelle an. Keine 24 Stunden später fanden sich der volle Name des Anwalts und des als Detektiv enttarnten Geschäftsmanns sowie ungeschwärzte Frontalfotos der beiden Männer im Netz. Die Hetzjagd der FPÖ und ihrer Anhänger auf die angeblichen Täter war somit eröffnet. Um das Ausmaß des vermeintlichen Verbrechens – der Erstellung des verhängnisvollen Videos – weiter aufzublasen, wurde verkündet, wie teuer laut „Informanten“ das ganze Unterfangen angeblich gewesen sei: Mindestens 600‘000 bis 1 Mio. Euro! Eine lächerliche Übertreibung, wie bereits unmittelbar nach Veröffentlichung die österreichischen Polit-Kunst-Aktivistinnen der Burschenschaft Hysteria vorgerechnet hatten. In Zeiten von Airbnb, Charterflügen und relativ billiger, schnell vernetzter Digitaltechnologie ist kein grosser Aufwand nötig, um einen wesentlich grösseren Medieneffekt zu erzielen.

Quelle: bild.de
Am Mittwochabend wurde zur Beglaubigung der unbelegten Anschuldigungen gegen den Detektiv und den Anwalt auch noch ein höchst dubioser „Sicherheitsexperte der Unterwelt“ in der Talkshow Fellner! Live des Privatsenders oe24 präsentiert. Seine Funktion: Er bezeugte mit seiner Person angeblich, dass die beiden wirklich hinter den Videos steckten. Der Beweis: Das Video trage exakt seine Handschrift. Er selbst sei einst der Chef des Detektivs gewesen und habe ihm alles beigebracht, was er nun mit diesem Video meisterhaft zur Schau stelle. Wie die BILD-Zeitung zwei Tage später berichtete, berät dieser „Sicherheitsexperte“ die Unterwelt allerdings nicht nur, sondern ist selbst tief in sie verstrickt. Die österreichischen Behörden würden gegen ihn wegen Industriespionage ermitteln und die Aussagen in der Talkshow hätten einen einzigen Zweck: durch die Beschuldigung seines angeblichen Ex-Mitarbeiters die Anerkennung als Kronzeuge zu erlangen und seiner eigenen Verurteilung zu entkommen. Ein weiteres „Glanzstück“ des „Fellnerismus“, wie Falter-Herausgeber Armin Thurnher diese von dem Wiener Medienmacher Wolfgang Fellner perfektionierte Version eines unseriösen, kommerziellen Journalismus nennt.
Geheimdienste und das „Kompromat“
Während im Schmierentheater des Boulevards das Ablenkungsmanöver mit immer abstruseren Geschichten vorangetrieben wurde, bekam der rechtsextreme Ex-Vizekanzler interessanterweise zusätzlich Schützenhilfe von ganz anderer Seite: von deutschen Politikern und Ex-Geheimdienstlern sowie von Jean-Philippe Gaudin, dem amtierenden Chef des schweizerischen Nachrichtendienst (NDB), und – natürlich – von Roger Köppel, als Politiker der rechtspopulistischen SVP Mitglied im Schweizerischen Nationalrat und nebenbei Chefredakteur und Herausgeber der Weltwoche.

Quelle: weltwoche.ch
Unter dem Titel „Ibiza ist überall“ machte Köppel im Editorial der ersten Ausgabe der Weltwoche nach der Veröffentlichung des Videos nichts anderes, als Strache weißzuwaschen. Zwar sei er erstaunt über die „kolossale Dummheit“, mit der der FPÖ-Politiker einer Unbekannten „brisanteste Vertraulichkeiten“ erzählt habe, aber kriminell seien diese „brisanten Vertraulichkeiten“ natürlich nicht: alles „im Suff“ nur „daher geschwafelt“, von einem „amtslosen Oppositionsführer“. Wirklich schlimm hingegen sei, dass Straches „theoretische Aussagen“, zu denen er sich „im Verlauf eines siebenstündigen Wodka-Abends“ von einer „bildhübschen Russin“ habe verleiten lassen, bei Politikern des linken und bürgerlichen Lagers – sogar in der Schweiz! – ganz alltäglich seien und es folglich dort, und zwar nur dort, echte Korruption gebe. Die einzige Straftat bei diesem „politischen Auftragsmord“, wie Köppel gewohnt drastisch und skrupellos zürnt, sei die heimliche Aufzeichnung des Videos, bei der die „Strache-Killer“ sich „illegaler KGB-, Gestapo- und Mafia-Methoden“ bedient hätten. Rechtspopulistischer Propagandajournalismus pur.
Zwar hält Köppel sich nicht mit Spekulationen über die Hintermänner auf, aber auch er bedient sich klar des beliebten Erklärungsansatzes „Geheimdienste“, indem er „illegale KGB-, Gestapo- und Mafia-Methoden“ am Werk sieht. Und auch dem NDB-Chef Jean-Philippe Gaudin war seine Vermutung, dass hinter dem Video ein ausländischer Nachrichtendienst stecke, eine Pressekonferenz wert. Dass er in ähnliche Richtung spekuliere, das verriet auch der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kurz nach der Veröffentlichung des Videos: „Irgendwie riecht’s nach irgendwas wie ein Geheimdienst.“

Quelle: nzz.ch
Dieser Hautgout erklärt sich dadurch, dass das Video alle Kriterien eines sogenannten „Kompromats“ erfüllt. Ursprünglich wurde diese geheimdienstliche Methode vom sowjetischen KGB entwickelt: Mit Hilfe von Drogen-, Liebes- und sonstigen Fallen heimlich angefertigtes, kompromittierendes Material, mit dem man potentielle und tatsächliche Gegner erpressen kann. Der russische Präsident Vladimir Putin und sein aktueller Geheimdienst FSB hätten diese Methode zur „Kunst des Kompromats“ perfektioniert, wie die Journalistin Julia Ioffe es nennt, und sie scheuten sich nicht, sie anzuwenden.
Aber wenn es ein Geheimdienst war, welcher könnte es gewesen sein und – warum? Das fragt sich auch Rudolf Adam, Ex-Vizepräsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND). Gleichermassen berauscht von seinem eigenen Insiderwissen wie getriggert durch die Geheimniskrämerei der Enthüllungsjournalisten, die jede Auskunft über ihre Quellen mit Verweis auf Informantenschutz und Redaktionsgeheimnis verweigern, lässt Adam sich zu den wildesten Spekulationen hinreissen, und das deutsche Polit-Magazin Cicero veröffentlicht sie auch noch, sogar im Internet. In seinem Text kommt der Ex-BND-Mann, nachdem er alle europäischen, amerikanischen, russischen, chinesischen und arabischen Geheimdienste durchgespielt und ausgeschlossen hat, zu dem Schluss: „Bleibt nur ein Staat, der die menschlichen und technischen Fähigkeiten zu einer derartigen Operation und ein eindeutiges Motiv hat: Israel.“ Sprich: Der Mossad war’s! Vielleicht hat der Ex-Geheimdienstmann seine Spekulationen wirklich nicht so antisemitisch gemeint, wie sie instrumentalisiert werden. FPÖ-Fans jedenfalls verlinken fleissig auf Adams Artikel, schließlich ist für sie der israelische Geheimdienst synonym mit „jüdischer Weltverschwörung“.

Quelle: cicero.de
Wenn es der Mossad nicht war, welcher Geheimdienst sollte es sonst gewesen sein? Herbert Kickl, der im Zuge der Ibiza-Affäre entlassene ehemalige FPÖ-Innenminister suggerierte bei Fellner!Live die perfekte Spekulation für die seit Kurz’ Aufkündigung der Koalition tobende Schlammschlacht um die Macht: Der österreichische Geheimdienst! Kann es sein, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), der österreichische Nachrichtendienst, hinter alledem steckt, fragt sich Kickl laut zur Primetime im Fernsehen und raunt von „alten ÖVP-Seilschaften“ im Innenministerium, dem auch das BVT untersteht.
Auf ein pikantes Detail des Erklärungsansatzes „Geheimdienst“ hat der deutsche Publizist Sascha Lobo hingewiesen: Ausgerechnet im Fall des Strache-Videos erinnern sich Politiker und Ex-Geheimdienstleute, die normalerweise bei ihren Ermittlungen soviel Überwachung wie nur möglich einsetzen wollen, an das Persönlichkeitsrecht des illegal Gefilmten und fordern wie der ehemalige deutsche Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen „schonungslose Aufklärung“ über die Hintermänner des Videos.
Der einzige Ex-Geheimdienstler, der der Theorie von den staatlichen Spionen widersprach, war Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler. Gegenüber der BILD-Zeitung erklärte er:
Der wenig ausgereifte Technikeinsatz spricht eher gegen einen Nachrichtendienst. Bei hinreichender Beschränktheit einer Zielperson bedarf es keiner aufwendigen nachrichtendienstlichen Operation. Alkohol und eine schöne Frau genügen ja. Diese Mittel einsetzen kann jeder – nicht nur Nachrichtendienste.
Der öffentliche Rundfunk, Böhmermann, Zentrum für politische Schönheit…
Kommen wir zur vielleicht absurdesten Spekulation über die Drahtzieher in der Ibiza-Affäre, mit der Björn Höcke seinem Gesinnungsfreund HC Strache zu Hilfe eilte. Höcke ist im thüringischen Landtag Fraktionsvorsitzender der AfD, der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland. In einem Facebook-Post zwei Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos war für ihn offensichtlich: Hinter dieser Falle steckt der „extremistisch politisch-mediale Komplex“, die Täter stammten ganz klar aus dem „linksextremistischen Milieu im Medienbetrieb“. Aber nicht den Spiegel und die SZ verdächtigt er, Höcke hat eine viel grössere Verschwörung im Sinn: „Ist es auszuschließen, daß diese Inszenierung, die letztlich ein regelrechter Staatsstreich war, mit Mitteln, Personal und / oder Ausrüstung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchgeführt wurde?“ Oder noch etwas konkreter gefragt: „Wieviel ZDF steckt hinter dem Staatsstreich in Österreich?“ Ernsthaft: das ZDF, das Zweite Deutsche Fernsehen?!

Quelle: youtube.com
AfD-Mann Höcke hat natürlich seine Gründe, warum er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verdächtigt. Für Höcke, Strache und alle anderen Rechtspopulisten ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Wurzel allen Übels. Was sie am meisten fürchten, ist gebührenfinanzierter, unabhängiger, kritischer Qualitätsjournalismus. Deswegen kämpfen sie wo und wann immer sie können gegen Rundfunkgebühren, siehe die Hintergründe der No-Billag-Initiative in der Schweiz im vergangenen Jahr. Allerdings gibt es noch einen anderen, amüsanteren Grund, der die eigentliche Agenda hinter Höckes Spekulation über das ZDF als Drahtzieher kaschierte, und dieser Grund heisst: Jan Böhmermann.
Am Tag vor der Veröffentlichung des Strache-Videos hatte der deutsche Satiriker, Politaktivist und Polizistensohn die aktuelle Folge seiner vom ZDF produzierten Sendung Neo Magazin Royale mit einem Trailer beworben, in dem er sagt: „Kann sein, dass morgen Österreich brennt.“ Und tatsächlich brannte am nächsten Tag die politische Szene des Nachbarlandes. Aber es gab noch eine andere Videobotschaft Böhmermanns, die sich nach der Ibiza-Enthüllung wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien verbreitete: Sie stammt von der Verleihung des österreichischen Film- und Fernsehpreises Romy. Darin entschuldigt sich Böhmermann vor einer EU-Flagge sitzend am 13. April 2019 dafür, dass er der Gala fernbleibt, mit den Worten:
Ich kann heute Abend leider nicht persönlich bei Ihnen sein (…) Ich hänge gerade ziemlich zugekokst und Red Bull betankt bei FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchen-Villa auf Ibiza rum und verhandle darüber, ob und wie ich die Kronen-Zeitung übernehmen und die Meinungsmache in Österreich an mich reißen kann, aber darüber darf ich leider noch nicht reden. (…)
Böhmermann wusste also bereits einen Monat vor der Veröffentlichung von der Existenz des Videos. Hatte er die Falle vielleicht sogar selbst gestellt?
Solche Spekulationen sind nicht ganz unbegründet. Seit Beginn der türkis-blauen Regierungskoalition in Österreich bekämpft Böhmermann mittels Satire die FPÖ und ihre Anhänger aufs Heftigste. Sein Feldzug gegen den österreichischen Rechtspopulismus begann im Dezember 2017 mit dem Magazin-Beitrag „Red Bull Refugee Challenge“. Es ist eine so brachiale wie clevere Demontage des Weltbildes von Dietrich Mateschitz. Dieser ist nämlich nicht nur der reichste Mann Österreichs, der sein Vermögen dem Energydrink Red Bull und dessen verantwortungslos spektakulärem Marketing verdankt. Mateschitz ist auch ein guter „Spezl“ von HC Strache (der sich selbst im Video übrigens als „Red Bull Brother from Austria“ bezeichnet) und gegen Flüchtlinge und Überfremdung wettert. Den zweiten Treffer landete Böhmermann bei der Romy-Verleihung 2018. Mit Hilfe eines Werbevideos hatte er seine Fans dazu gebracht, so oft für ihn zu stimmen, dass er tatsächlich die Romy in der Kategorie „Show“ erhielt. Bei der Preisverleihung in Wien bedankte er sich live vor dem versammelten Publikum im Saal und zu Hause vor den Fernsehgeräten u.a. mit dem Worten:
Ich freu mich immer als Deutscher in einem Land mich ausruhen und erholen zu können, das vom Zweiten Weltkrieg und der Verantwortung für den Nationalsozialismus so unberührt ist wie Österreich.
Und genau ein Jahr später verrät Böhmermann per Videobotschaft sein Insiderwissen über das Strache-Video.
Die Tatsache, dass der polit-aktivistische Brachialkomiker Jan Böhmermann zweifellos über Insiderwissen verfügte und dass es sich bei dem Strache-Video um eine Inszenierung und Täuschung mit politischer Sprengkraft handelte, hatte aber auch schnell eine ganz andere Spekulation aufkommen lassen: Steckte hinter der ganzen Ibiza-Affäre vielleicht ein politaktivistisches Satire- und Kunst-Kollektiv wie z.B. die US-amerikanische Gruppe The Yes Men? Mit ihren hyperaffirmativen Aktionen, in denen sie z.B. Top-Manager durch groteskeste neoliberale Behauptungen täuschten und zugleich entlarvten, hat diese Netzkunst- und Kommunikationsguerilla-Gruppe seit 1999 immer wieder weltweites mediales Aufsehen erregt.
Weil die Yes Men sich aber wohl kaum für österreichische Innenpolitik interessieren dürften, musste in diesem Falle eine andere Gruppierung hinter der Falle stecken. In Frage kam somit eigentlich nur das Zentrum für Politische Schönheit, eine Vereinigung von Aktivisten, die den Kampf für Menschenrechte mit Aktionskunst verbinden wollen und für ihre künstlerischen Aktionen wie „Bau das Holocaust-Mahnmal vor Höckes Haus!“ bekannt sind. Die Künstler dementierten zwar unmittelbar nach Veröffentlichung die Urheber des Strache-Videos gewesen zu sein. Ein Enthüllungs-Tweet eines deutschen Journalisten sorgte jedoch für neues Aufsehen: Der Twitter-Account @kurzschluss14 sei am Freitag, den 17.5. um 17:46 Uhr erstellt worden, also kurz vor der Veröffentlichung des Videos durch Spiegel, SZ und Falter. Von @kurzschluss14 aus wurde angeblich vorübergehend auf noch unveröffentlichtes Videomaterial aus der ibizenkischen Villa verlinkt.
Das Zentrum für Politische Schönheit sei der erste Follower des Accounts gewesen und hätte durch einen Tweet die Seite überhaupt erst bekannt gemacht. Inzwischen ist jedes noch nicht offiziell veröffentliche Filmmaterial über das Treffen von HC Strache mit der vermeintlichen Oligarchen-Nichte an dieser Stelle im Netz aber wieder verschwunden. Alles was man dort noch sehen kann, sind Großaufnahmen von ein paar Linien weissen Pulvers auf einem Glastisch. Dass das Zentrum für Politische Schönheit in die Veröffentlichung des Strache-Videos zwar auf irgendeine Weise involviert gewesen sei, das berichtete nach eigenen Recherchen inzwischen auch das ZDF-Polit-Magazin Frontal 21.

Quelle: facebook
Offizielle Stellungnahmen dazu gibt es vom Zentrum für Politische Schönheit jedoch immer noch nicht, auch wenn ein bloggender FPÖ-Vasalle und die Frankfurter Allgemeine Zeitung Spekulationen in diese Richtung weiter kräftig anheizen. Am Freitag, den 24.5., also genau eine Woche nach der Veröffentlichung des Strache-Videos, meldete sich dafür der Anwalt, der laut Gudenus den Kontakt zur Oligarchen-Nichte hergestellt hatte, mit einer Pressemeldung zu Wort. Darin erklärt wiederum der Anwalt des Anwalts, dass sein Mandat mitteile: „Es handelt sich um ein zivilgesellschaftlich motiviertes Projekt, bei dem investigativ-journalistische Wege beschritten wurden.“ Dieser Satz wurde nicht nur in der FPÖ-nahen Boulevardpresse als „Geständnis“ bezeichnet. Aber ist er das wirklich?
Die Moral von der „G’schicht“
Was bei all dem Rätselraten immer mehr in Vergessenheit gerät: Das Politikum von HC Straches Demokratiefeindlichkeit und Korruptionsbereitschaft, erwiesen in Bild und Ton. Die einzigen, die dem fatalen Wuchern der Spekulationen ein Ende machen könnten, sind die Macher des Videos, die Strache die Falle gestellt haben. Nur wenn sie sich öffentlich bekennen und ihre Motive offenlegen, kann den Spekulanten und ihren jeweiligen Interessen die Macht genommen werden. Der deutsche Investigativjournalist Günter Wallraff hat sich bereits kurz nach der Veröffentlichung in einem Interview gewünscht, die Macher würden sich zu erkennen geben. Allerdings – was würde das für sie bedeuten? Selbst wenn der österreichische Verfassungsgerichtshof zu ihren Gunsten entscheidet, dass es sich bei der Erstellung des Videos um zivilgesellschaftlich relevanten Investigativjournalismus handelt? Polizeischutz und Morddrohungen bis ans Ende ihres Lebens? Ganz abgesehen davon, dass so ein Prozess Jahre dauert. Und was, wenn der am Montag per Misstrauensvotum durch die SPÖ zwar gestürzte, aber am Sonntag unmittelbar davor in der Europawahl von den Wählern mit einem kräftigen Zuwachs an Stimmen gestärkte Sebastian Kurz nach den Neuwahlen wieder Kanzler wird? Kurz hatte ja schon mal keine Skrupel „sich für Österreich zu opfern“ und die „Feschisten“ (ein Kofferwort aus „fesch“ und „Faschisten“ von Armin Thurnher) durch Regierungsbeteiligung salonfähig zu machen. Kommt es dann vielleicht zu einer Koalition türkis-blau II unter Wieder-Kanzler Kurz? Wer wird dann Vizekanzler, wer Innen- und Justizminister? Die FPÖ-Hardliner Norbert Hofer und Herbert Kickl? Auch wenn einem das zum jetzigen Zeitpunkt absurd und unvorstellbar erscheinen mag: Es ist nicht auszuschliessen. Schließlich verlor die FPÖ trotz des Ibiza-Skandals bei der Europawahl am vergangenen Sonntag lediglich 2,5 Prozentpunkte. Über 33 500 Menschen wählten HC Strache am vergangenen Sonntag direkt. Er könnte also ins EU-Parlament einziehen. Am Montag hatte Strache – ganz nach seinem neuen Motto: „Jetzt erst recht!“ – bereits auf Facebook erklärt, dass er das Mandat annehmen würde. Kurze Zeit später war der Post wieder verschwunden. Die FPÖ hat dazu bisher nicht Stellung genommen. Österreichs Kampf um den Schutz der Pressefreiheit und den Erhalt seiner Demokratie ist noch nicht gewonnen. Noch lange nicht.