Kein Mensch überlebt ohne Fürsorge. Und dennoch wird Sorgetätigkeit als Voraussetzung von Markt und Gesellschaft stets unsichtbar gemacht und abgewertet. Die Konsequenzen sind jedoch fatal, nicht nur für die Realität der GratisarbeiterInnen.

  • Franziska Schutzbach

    Franziska Schutzbach hat Soziologie, Me­dien­­wissen­schaften und Ge­schlech­ter­forschung an der Uni­versität Basel studiert. Sie lehrt und forscht am Zentrum Gender Studies der Uni Basel.

Als 1991 das Bild von der nackten, hoch­schwan­geren Schau­spie­lerin Demi Moore auf der Titel­seite der Vanity Fair prangte, schien ein Tabu gebro­chen. Der schwan­gere Körper wurde zur Hochglanz-Ikone und zum schi­cken Lifestyle-Asset. Doch diese Art, Schwan­ger­schaft zur Schau zu stellen, bedeu­tete gleich­zeitig auch ihre Auslö­schung. Denn die promi­nenten Frauen, die seither regel­mäßig schwanger insze­niert werden, erstrahlen in voll­endeter Ästhetik mit der Botschaft: Diese Frau ist schwanger, aber man sieht es ihr fast nicht an. Der Körper verän­dert sich kaum, er bleibt leis­tungs­fähig, straff, schlank und verfüh­re­risch. Es gibt keine Pigment­fle­cken, keine Risse im Gewebe, keine Wasser­ein­la­ge­rungen oder Krampf­adern. Eine solche Ikono­gra­phie redu­ziert Schwan­ger­schaft voll­ständig auf den Bauch und ‚entschärft’ sie dadurch. Der schwan­gere Körper steht seither als Karriere-Körper für eine weib­liche Biogra­phie, die beglü­ckende Mutter­schaft, Attrak­ti­vität und beruf­li­chen Erfolg verbindet und zur Norm erhebt. Eine Schwangeren-Ikonographie ohne reale Körper.

Körper-Geist-Dichotomie

Die Auslö­schung des Körpers ist tief in der abend­län­di­schen Kultur­ge­schichte veran­kert. Die maßge­benden Denker befassten sich mit Themen wie Vernunft, Bewusst­sein und freiem Willen und hielten das Körper­liche für profan oder minder­wertig. Mit Aris­to­teles gespro­chen: Die Seele herrscht über den Körper. Auch die christ­liche Reli­gion wehrt den Körper ab. Konsti­tu­iert wird ein Menschen­bild, das über den körper­li­chen Prozessen, Beschwer­nissen und Einschrän­kungen steht. Wie Demi Moore.

Rineke Dijkstra, „Julie“, Den Haag, Nether­lands, February 29 1994, Quelle: tate.org

In Wahr­heit sind wir natür­lich keines­wegs frei vom Körper. Beson­deres Schwan­ger­schaft und Geburt erin­nern an die körper­liche Dimen­sion der mensch­li­chen Exis­tenz, mehr noch: Sie verweisen auf eine funda­men­tale körper­liche Abhän­gig­keit. Geboren werden bedeutet, dass Menschen sich nicht selbst machen, sondern durch einen anderen hindurch in die Welt kommen. Wir entscheiden zudem nicht, geboren zu werden. Eine Art anonyme Kraft wirft uns ins Leben, jenseits unseres Einflusses, so die italie­ni­sche Philo­so­phin Adriana Cava­rero. Viel­leicht ist, wie der Philo­soph Joachim Fischer es formu­liert, das „ins Leben gesetzt werden“ eine narziss­ti­sche Krän­kung, die abge­wehrt werden muss. Auch sind wir nach der Geburt darauf ange­wiesen, dass andere sich um uns kümmern und uns am Leben halten. Kurzum: Das Leben beginnt mit dem Gegen­teil von freiem Willen oder Auto­nomie, sondern mit voll­kom­mener Abhän­gig­keit von anderen.

Ohne Sorge­ar­beit keine Marktwirtschaft

Die Verdrän­gung von Geburt und Abhän­gig­keit ging mit einer Abwer­tung derje­nigen einher, die gebären und mithin Souve­rä­nität und Entschei­dungs­macht infrage stellen. Im idealen grie­chi­schen Staat sollen Frauen mit Kindern und Sklaven in einem Extra-Bereich leben und dort die profane Repro­duk­ti­ons­ar­beit erle­digen. Im 18. Jahr­hun­dert formu­lierten die Ökonomen ihre Konzepte des autonom handelnden Wirt­schafts­bür­gers, den Vinfredo Pareto dann an der Schwelle zum 20. Jh. den „homo oeco­no­micus“ nannte: Der Mensch sei von Natur aus ein ratio­nales ökono­mi­sches Wesen, das Profit­in­ter­essen und Nutzen­ma­xi­mie­rung folge. Im Zuge libe­raler Wirt­schafts­theo­rien rückten produk­tive Tätig­keiten in den Fokus des ökono­mi­schen Denkens, während repro­duk­tive Tätig­keiten wie Schwan­ger­schaft, Geburt, Kinder­be­treuung, Pflege von Alten und Kranken sowie Haus­wirt­schaft unsichtbar blieben.

Die Indus­tria­li­sie­rung forcierte die Tren­nung zwischen Erwerbs­ar­beit und Fami­li­en­leben, der Kapi­ta­lismus knüpfte an patri­ar­chale Vorstel­lungen an und verstärkte sie. Etabliert wurde das Ideal der bürger­li­chen Haus­frau und Familie, mit einer klaren geschlecht­li­chen Arbeits­tei­lung. Die Familie wurde zum „trauten Heim“, zum Ort der Erho­lung. Frauen sollten ihren Männern eine opti­male Rege­ne­ra­tion ermög­li­chen sowie die best­mög­liche Entwick­lung der Kinder garan­tieren. Die Rede war fortan von einer „ange­bo­renen Fürsorg­lich­keit“ der Frau. Sorge­ar­beit (engl. Care-work) entspreche ihrer natür­li­chen Bestim­mung, geschehe aus Liebe und sei daher auch gratis zu leisten, in voll­kom­mener ökono­mi­scher Abhän­gig­keit von „Ernäh­rern“.

Minna Havu­kainen: Hanne (2006), Quelle: tampereen-taiteilijaseura.fi

Markt­wirt­schaft­lich gesehen lohnt es sich auch heute, den mensch­li­chen Bedarf nach Fürsorge und Pflege ins Privat-Krankenhaus ‚Mutter’ bzw. ‚Frau’ auszu­la­gern. Sorge­tä­tig­keit ist die unsicht­bare Voraus­set­zung des Marktes. Ohne die Produk­tion immer neuer Menschen, ohne die unab­läs­sige Rege­ne­ra­tion derje­nigen, die Erwerbs­ar­beit machen, ist Markt­wirt­schaft nicht denkbar. Ohne Versor­gungs­wirt­schaft gibt es keine Markt­wirt­schaft. Entschei­dend dabei ist: Weil Fürsorge nicht als Arbeit, sondern als privater Liebes­dienst (von Frauen) defi­niert ist, muss sie nicht oder kaum bezahlt werden. Die Ökonomin Mascha Madörin verweist auf den hohen Anteil der Sorge­ar­beit an der wirt­schaft­li­chen Wert­schöp­fung. Die Millionen Stunden gratis oder unter­be­zahlte Sorge­ar­beit tragen, je nach Rech­nung, bis zu 50 Prozent zur Brut­to­wert­schöp­fung bei (Frauen leisten zwei Drittel dieser Arbeit). In den ökono­mi­schen Mainstream-Lehren und BIP-Statistiken kommen sie jedoch nicht vor. Wer von Wirt­schaft spricht, meint indus­tri­elle Produk­tion und Finanz­ka­pital. Wer von Arbeit spricht, meint bezahlte Arbeit.

Kurzum: Sorge­ar­beit wird margi­na­li­siert, damit sie nicht oder minimal bezahlt werden muss (ein Tier­pfleger im Zürcher Zoo verdient deut­lich mehr als eine Klein­kin­der­zie­herin. Auch Auto­la­ckierer verdienen mehr). Care bleibt auch deshalb abge­wertet, weil sich mit dieser Tätig­keit kaum Profit erzielen lässt. Zwar werden auch Betreu­ungs­jobs ratio­na­li­siert. Das hat jedoch Grenzen, weil Kinder viel Zeit brau­chen und der alte Mann einfach nicht schneller in die Bade­wanne steigen kann. Eine Möglich­keit, den rasant stei­genden Betreuungs-Bedarf rentabel zu halten, ist Löhne zu senken: Betreuungs-und Pfle­ge­be­rufe werden immer schlechter bezahlt und immer stressiger.

Post­for­dismus und Care-Krise

In der post­for­dis­ti­schen Gesell­schaft wurden Geschlechter-Rollen und Arbeits­tei­lung aufge­weicht. Der gender-flexibilisierte Mensch passt zum Markt, weil damit das ‚Modell Arbeiter‘ – das heisst die Einbin­dung in die mone­täre Wert­schöp­fung – auf alle ausge­dehnt werden kann. Beruf­li­cher Erfolg ist für Frauen heute ein entschei­dender Mass­stab. Entspre­chend bedeutet Frau­en­för­de­rung oft, Frauen fit zu machen für die Männer­welt – wie zum Beispiel das „Lean In“-Programm von Facebook-CEO Sheryl Sand­berg: Sand­berg rät Frauen mehr „Willen zum Erfolg“, sie sollen – wie Männer – „hoch­sta­peln und sich mehr in den Vorder­grund spielen“. Ohnehin können sich viele Frauen ein Ernäh­rer­mo­dell gar nicht leisten und müssen erwerbs­tätig sein.

Der Care-Bereich ist in eine Krise geraten. Denn Frauen decken viele Care-Tätigkeiten nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ab, sie können neben den eigenen Kindern und Berufs­stress nicht noch den alten Vater pflegen und der kranken Nach­barin Suppe vorbei­bringen. Kommt hinzu, dass die Nach­frage nach Care massiv steigt, weil Menschen immer älter werden und weil in vielen Ländern die Sozi­al­sys­teme erodieren. Kurz gesagt: Die Anfor­de­rungen an den Care-Bereich steigen, aber wir können ihnen immer weniger gerecht werden.

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Minna Havu­kainen: Hanne (2006), Quelle: tampereen-taiteilijaseura.fi

Dieje­nigen, die es sich leisten können, kaufen sich Care-Arbeit – möglichst günstig – ein. So gibt es heute eine Art Care-Wander-Prekariat, unge­fähr 100 Millionen Haus­an­ge­stellte erle­digen rund um den Globus die wach­sende Nach­frage nach Care. Ihre Arbeits­be­din­gungen gehören zu den prekärsten, denn für sie gilt nicht das Arbeits­recht. Um die 5,6 Millionen phil­ip­pi­ni­sche Frauen arbeiten meist unter­be­zahlt in ameri­ka­ni­schen Privat­haus­halten, 300 000 Indo­ne­sie­rinnen machen sich jähr­lich auf den Weg, um in Hong­kong, Singapur oder Saudi-Arabien in privaten Haus­halten zu arbeiten, in England arbeiten zwei Millionen Pendel-Migrantinnen im Care-Sektor. Ihr Visum läuft nach drei Monaten ab und sie werden dann mit einer neuen Frau ersetzt.

Die Femi­ni­sie­rung von Care und deren ökono­mi­sche Ausbeut­bar­keit hängen bis heute eng zusammen. Hinzu kommt nun Ethni­sie­rung: So preisen Schweizer Care-Agenturen, wie die Sozio­login Sarah Schil­liger aufzeigt, Pfle­ge­rinnen aus Polen mit dem Verspre­chen an, ost-europäische Frauen seien beson­ders häus­lich, freund­lich und hilfs­be­reit. Indem (migran­ti­schen) Frauen eine beson­dere Fürsorge-Qualität zuge­schrieben wird, erscheinen sie als beson­ders geeignet für diese pres­t­ige­lose und schlecht bezahlte Arbeit. Denn sie machen das ja ohnehin gern – sozu­sagen aus Liebe.

Wir sind nicht autonom

Care ist kein ‚Frau­en­thema‘, es betrifft das Ganze. Unter den bestehenden ökono­mi­schen und ideo­lo­gi­schen Prämissen werden nicht nur Care-Arbeit und die Menschen, die sie verrichten, abge­wertet. Die exis­ten­ti­ellen Bedürf­nisse der Menschen werden über­haupt abge­wertet. Feti­schi­siert wird ein auto­nomes (männ­li­ches) Subjekt, ein Homo Oeco­no­micus, der nichts und niemanden braucht und aus sich selbst heraus produktiv ist.

Dieser Fetisch ist verhee­rend und extrem zerstö­re­risch. Nicht nur wegen der Ausbeu­tungs­ver­hält­nisse, die er hervor­bringt. Sondern auch deshalb, weil das Ideal von der Auto­nomie uner­reichbar ist. Das führt nicht zuletzt dazu, wie der Kultur­theo­re­tiker Klaus Thewe­leit schreibt, dass Menschen zu Gewalt greifen, wenn sie das Autonomie-Phantasma nicht errei­chen. Wenn der größte Horror und die tiefste Nieder­lage sind, bedürftig und auf andere verwiesen zu sein, dann ist die effi­zi­en­teste Abwehr­stra­tegie, andere zu vernichten.

Kein Mensch über­lebt ohne Fürsorge. Femi­nis­ti­sche Denke­rinnen wie Judith Butler plädieren für eine neue Ethik der Fragi­lität und Verletz­lich­keit. Es sei nötig, die Vulnerabi­lität der mensch­li­chen Exis­tenz zu begreifen und anzu­er­kennen. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Antje Schrupp spricht von „Frei­heit in Bezo­gen­heit“ und meint damit, dass Verwie­sen­heit und Frei­heit sich nicht wider­spre­chen, sondern bedingen: Wir können nur frei sein, wenn für uns in vielerlei Hinsicht gesorgt ist und wir „in Bezug“ zu anderen stehen. Womög­lich ist es eine der drän­gendsten Aufgaben unserer Zeit, Koexis­tenz und Inter­sub­jek­ti­vität zum Ausgang poli­ti­schen wie ökono­mi­schen Denkens und Handelns zu machen.