Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine kursieren Begriffe wie Westsplaining, Eastsplaining und Russplaining. Sie kritisieren imperiale Sprechgesten beider Himmelsrichtungen und deren gegenseitige Aneignung. Doch welcher Westen und welcher Osten sind gemeint?

„#East­s­plai­ners“ hat die Univer­sity of New Europe ironisch eine Vorle­sungs­reihe genannt, die „ein Gegen­ge­wicht zum ‚West­s­plai­ning‘ – der Gewohn­heit, die Entwick­lungen in Mittel- und Osteu­ropa durch die west­liche Brille zu betrachten“, geben soll. Auch der Band Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben, gerade im Verlag foto­ta­peta erschienen, trägt den Unter­titel: Texte über West­s­plai­ning und den Krieg.

Die Heraus­ge­be­rinnen Alek­sandra Konar­zewska, Schamma Schahadat und Nina Weller beziehen sich im Vorwort auf den polni­schen Autor Szczepan Twar­doch, der im April 2022 in der NZZ den Artikel „Schluss mit West­s­plai­ning“ veröf­fent­lichte und dabei einzelne west­eu­ro­päi­sche Intel­lek­tu­elle direkt adressierte:

Ihr habt keine Ahnung von Russ­land. Niemand im Westen kann verstehen, was es heisst, im russi­schen Macht­be­reich leben zu müssen.

Twar­doch reagierte u.a. auf Äuße­rungen von Noam Chomsky und Naomi Klein, die schon 2014 die russi­sche Beset­zung ukrai­ni­scher Terri­to­rien mit russi­schen „Sicher­heits­in­ter­essen“ recht­fer­tigen wollten. Als Twar­doch den Artikel schrieb, konnte er noch nicht wissen, dass auch in deut­schen Medien reihen­weise Promi­nente mit keinerlei Osteu­ro­pa­ex­per­tise auftau­chen werden, die ihre Kritik, völlig egal, wie brutal Russ­land gegen die Ukraine vorgeht, stets auf den Westen richten – die Nato und die CIA.

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Ich muss zugeben, dass mich der Begriff ‚West­s­plai­ning‘ aus genau diesem Grund irri­tiert. Denn Noam Chomsky, Naomi Klein – und aus deutsch­spra­chiger Perspek­tive auch Sahra Wagen­knecht, Alice Schwarzer oder Roger Köppel und andere typi­sche ‚West­s­plainer‘ – betreiben im Grunde kein West­s­plai­ning, sondern über­nehmen die Perspek­tive der russi­schen Propa­ganda und proji­zieren sie auf Ostmit­tel­eu­ropa. Dabei igno­rieren sie ostmit­tel­eu­ro­päi­sche Inter­essen und Erfah­rungen sowie auch die Forschung aus Osteu­ropa über Diktatur und Post­kom­mu­nismus. Ihr West­s­plai­ning ist – so gesehen – tatsäch­li­ches East­s­plai­ning, aller­dings nicht dasje­nige, worauf die eingangs genannte Univer­sity of New Europe anspielt.

Ein poli­ti­scher Begriff

Es lohnt sich, sich die Geschichte des Begriffs noch einmal zu verge­gen­wär­tigen, um #West­s­plai­ning als poli­ti­schen Begriff zu verstehen, der mehr will, als Westen versus Osten zu denken und dennoch dazu beiträgt, in über­holten und schiefen Oppo­si­tionen verhaftet zu bleiben.

Schon 2019 schrieb der briti­sche poli­ti­sche Analyst Edward Lucas: „My new favo­rite word is ‚West­s­plai­ning‘:

Menschen aus dem ‚alten Westen’‘ – den Ländern, die den Kommu­nismus nie erlebt haben – belehren Menschen aus dem ‚neuen Westen‘ – die ehema­ligen Block­staaten (former captive nations) – über Geschichte, Geografie und andere Themen.

Zu den tradi­tio­nellen West­s­plai­nern zählte Lucas erstens rechte Westler:innen, die ‚insge­heim‘ russi­sche Mili­tär­in­ter­ven­tionen bewun­derten, zwei­tens linke Westler:innen, die in der NATO, den Verei­nigten Staaten und den Vertei­di­gungs­aus­gaben ‚den wahren Feind‘ sähen, und eine dritte Gruppe, die ‚einfach nur gierig‘ sei. Und dann entdeckt er noch eine vierte, neue Gruppe, die meine, nach 2014, nach der Okku­pa­tion der Krym, habe sich plötz­lich alles geän­dert. Hätte er den Artikel 2022 geschrieben, dann hätte er noch die ‚Zeiten­wender‘ dazu zählen können, die völlig über­rascht davon waren, dass russi­sche Truppen 2022 in die Ukraine einmar­schierten, obwohl sie seit 2014 bereits da waren.

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Tatsäch­lich verbreitet hat sich der Begriff West­s­plai­ning erst nach Beginn des Angriffs­krieges in poli­ti­schen und ukrai­ni­schen Debatten, so auch bei den polni­schen Poli­to­logen Jan Smoleński und Jan Dutkie­wicz in ihrem Essay „The American Pundits Who Can’t Resist ‚West­s­plai­ning‘ Ukraine“ vom März 2022 vom März 2022. Beide betonten, dass West­s­plai­ning stets dazu führe, außen­po­li­tisch „die Belange Russ­lands anzu­er­kennen, nicht aber die Ostmit­tel­eu­ropas“. Oder wie es Zosia Brom im März 2023 etwas knal­liger formu­lierte: „Sie wollen mir erklären, dass es sich um einen von der NATO geschaf­fenen Konflikt handelt, oder, wenn sie sich groß­zü­giger fühlen, kommen sie mit einer Art ‚beide Seiten sind schuld‘-Rhetorik daher.“ Auf diese Weise werde Ostmit­tel­eu­ropa eher als Objekt denn als Subjekt der Geschichte behandelt.

Dieser Punkt ist viel­leicht der wich­tigste Aspekt des West­s­plai­nings – ein Punkt, der auch das von Rebecca Solnit 2008 so benannte ‚Mans­plai­ning‘ ausmachte: anderen (bei Solnit Frauen) die eigen­stän­dige Hand­lungs­fä­hig­keit und Perspek­tive abzu­spre­chen. Typisch hierfür ist die Rhetorik des Schweizer Verschwö­rungs­un­ter­neh­mers Daniele Ganser, der den Beitritt der Staaten Ostmit­tel­eu­ropas zur NATO als völlig passiven Prozess erzählt: „Clinton nahm 1990 Polen rein, er nimmt dann Ungarn rein und Tsche­chien. […] Man hat die reingenommen“.

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Ostmit­tel­eu­ropa nicht als Akteur und Subjekt von Geschichte zu betrachten, führt in linken Kreisen dazu, den impe­rialen Gestus der USA bzw. den „west­li­chen Expan­sio­nismus“, so Smoleński und Dutkie­wicz, im Hinblick auf die Nato-Osterweiterung zu kriti­sieren, gleich­zeitig jedoch ein anderes impe­riales Unrecht zu igno­rieren: den poli­ti­schen und terri­to­rialen Impe­ria­lismus bzw. Kolo­nia­lismus Russ­lands, von dem Ostmit­tel­eu­ropa wie keine andere Region bis 1990 betroffen war. Letzter ist es, der die Igno­ranz der Eigen­stän­dig­keit ostmit­tel­eu­ro­päi­scher Staaten seit Jahren zu seinem poli­ti­schen Prinzip gemacht hat. Gerade vor ein paar Tagen, am 25. Mai, hat Dmitrij Medvedev vorge­schlagen, Russ­land und Europa könnten sich die Ukraine doch einfach aufteilen. Einige nennen diesen die ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Staaten igno­rie­renden Sprech­gestus inzwi­schen Russ­plai­ning, kommt er aller­dings aus dem Westen, so spre­chen Smoleński und Dutkie­wicz von einer „kolo­niale Projek­tion“, die nun ausge­rechnet von jenen komme, die sonst post­ko­lo­niale Perspek­tiven einfordern.

Blick auf den halben oder den ganzen Osten?

Es gibt aber noch ein anderes Konzept von West­s­plai­ning, das nicht nur auf die Igno­ranz gegen­über Ostmit­tel­eu­ropa zielt, sondern die kultu­relle Abwer­tung des gesamten Ostens meint. 2017 tauchte West­s­plai­ning in einem Artikel von Srđan Garčević mit dem Titel „West­s­plai­ning the Balkans“ auf und bezog sich dabei auf eine andere Debatte, und zwar auf das berühmte Buch der bulga­ri­schen Histo­ri­kerin Maria Todo­rova mit dem Titel Imagi­ning the Balkans (1994). Todo­rova hatte ihr Buch während der Sezes­si­ons­kriege in Jugo­sla­wien veröf­fent­licht und anhand histo­ri­scher Doku­mente und aktu­eller Debatten gezeigt, wie der Westen seit Jahr­hun­derten ein abwer­tendes Bild des Balkans zeich­nete, voll von Exotismen und Ressen­ti­ments. Todo­rova nannte dieses west­eu­ro­päi­sche Narrativ „Balka­nismus“ und spielte dabei auf Edward Saids Orien­ta­lismus (1978) an. Said hatte in diesem Buch beschrieben, wie Wissen­schaftler und Intel­lek­tu­elle aus West­eu­ropa den Orient als Gegen­bild zu sich selbst darstellten – fremd (alien) und unter­legen (infe­rior). Ganz ähnlich argu­men­tierte auch der US-amerikanische Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Larry Wolff, dessen Buch Inven­ting Eastern Europe. The Map of Civi­liza­tion on the Mind of the Enlight­ment (1994) im glei­chen Jahr wie das von Todo­rova erschien. Auch Wolff analy­sierte am Beispiel von Osteu­ropa, wie sich seit dem 18. Jahr­hun­dert, seit der Aufklä­rung, die euro­päi­sche Semantik „entlang der Zivi­li­sa­ti­ons­li­nien“ verän­derte und Osteu­ropa zum eigenen Anderen Europas wurde. Er nannte diese abwer­tende Geste einmal einen „einge­schränkten Orien­ta­lismus“ oder einen „Halb-Orientalismus“ und eine „Halb­wild­heit“:

Länder mit völlig unter­schied­li­chen Regie­rungen, Gesell­schaften und Reli­gionen – das Russi­sche Reich, die Polnisch-Litauische Union, das habs­bur­gi­sche Ungarn und Böhmen sowie die osma­nisch beherrschten Gebiete – wurden mitein­ander verknüpft und zu einem Ganzen zusam­men­ge­schlossen, gemeinsam unter das philo­so­phi­sche Zeichen der Rück­stän­dig­keit gestellt und gemäß einem Stufen­mo­dell erkenn­barer Ähnlich­keiten beschrieben.

Der Osten Europas wird aber nicht nur abge­wertet, sondern seine Hete­ro­ge­nität wird zugleich getilgt. Osteu­ropa wird auf diese Weise zu einem Gebilde, einem Klischee­klumpen, der ausge­rechnet jene Region in Europa betrifft, die die höchste Dichte an sprach­li­cher, kultu­reller und reli­giöser Viel­falt aufweist.

Dass sich die Abwer­tung des Ostens von Europa bis heute erkennen lässt, haben Jannis Panagio­tidis und Hans Chris­tian Petersen in ihrem Artikel auf GdG über Anti­sla­wismus zum Anlass genommen, den verbrei­teten Anti­sla­wismus als weißen Rassismus zu bezeichnen. Sie haben darauf hinge­wiesen, wie die soge­nannte „Ostfor­schung“, die „die wissen­schaft­liche Exper­tise für Kolo­ni­sa­ti­ons­pläne lieferte“ und „im Zusam­men­spiel mit anderen Diskri­mi­nie­rungs­formen gegen­über Bewohner:innen der Groß­re­gion, insbe­son­dere mit Anti­se­mi­tismus (Feind­bilder der ‚Ostjuden‘ und des ‚jüdi­schen Bolsche­wismus‘) und Anti­zi­ga­nismus“ einherging.

Wenn man West­s­pla­ning so denkt, wie Garčević und übri­gens auch Twar­doch dies tun, dann sind West­s­plai­ning und Anti­sla­wismus bzw. Balka­nismus Synonyme. Und in diesem Kontext ergibt West­s­plai­ning auch als Begriff Sinn, denn es ist der west­liche histo­ri­sche Diskurs, der den Osten als Osten konstru­ierte. Aller­dings lässt sich damit nichtgleich­zeitig die Über­nahme russi­scher impe­rialer Perspek­tiven erklären, denn von Anti­sla­wismus oder der abwer­tenden Erfin­dung des Ostens sind alle Länder im Osten Europas glei­cher­maßen betroffen, während der poli­ti­sche Begriff des West­s­plai­ning nur die Igno­ranz gegen­über Ostmit­tel­eu­ropa im Blick hat, das nicht mehr oder nicht schon wieder von Russ­land besetzt werden will. Russ­land selbst wiederum nutzt den Anti­sla­wismus auch für seine eigene Propa­ganda, indem das Regime Kritik an seiner Politik kultu­ra­li­siert und als Russo­phobie zu lesen gibt. Auf diese Weise wird der Anti­sla­wismus, der ja auch Ukrainer:innen und Pol:innen bis heute betrifft, zu einem exklu­siven Opfer­dis­kurs der russi­schen Kultur stili­siert. Und Russ­land hat, wie Hanna Hryt­senko in der Westsplaining-Debatte betont, selbst gegen­über Ukrainer:innen mit einem Othe­ring gear­beitet – sprach­lich, kultu­rell, poli­tisch. Ukrainer:innen galten in Russ­land oftmals als primitiv, ihre Sprache als unschön.

Russ­plai­ning: „Kollek­tiver Westen“

Um die durch West­s­plai­ning ausge­löste Projek­tion russi­scher Inter­essen durch west­eu­ro­päi­sche besser verstehen zu können, ist ein Blick in die aktu­elle russi­sche poli­ti­sche Rhetorik hilf­reich, die diese Projek­tion initi­iert. Denn das russi­sche Regime erfindet seiner­seits einen Westen, den soge­nannten „kollek­tiven Westen“, und zwar als poli­tisch kultu­relle Fiktion. Auch er, der Westen, wird dabei als homogen und darüber hinaus als aggressiv und kultur­ver­nich­tend darge­stellt. Im russi­schen Wiktio­nary findet sich folgender Beispiel­satz: „Der kollek­tive Westen gibt frei­mütig zu: Das Haupt­ziel ist der Nieder­gang Russlands“.

In diesem Sinne wird „kollek­tiver Westen“ ständig verwendet: Sergej Lavrov betonte im März 2022 nicht nur die angeb­liche Aggres­sion, die vom „kollek­tiven Westen“ ausgehe, sondern er markierte auch das virtu­elle Terri­to­rium: „Nun, ich denke, der kollek­tive Westen kann auf diese Weise charak­te­ri­siert werden – die Verei­nigten Staaten und ihre Satel­liten“. Auto­ma­tisch gehören somit in dieser Perspek­tive alle Länder, die den Krieg bzw. die russi­sche impe­riale Politik kriti­sieren, zum „kollek­tiven Westen“. Der Begriff ist auf diese Weise poli­tisch markiert: Alle, die sich der Kritik anschließen, werden als Vasallen, Satel­liten oder Mario­netten der USA bezeichnet, insbe­son­dere der ukrai­ni­sche Präsi­dent Selenskyj.

Auch Putin bezeichnet den „kollek­tiver Westen“ als Aggressor, um in der übli­chen Verkeh­rung das eigene Tun auf den Gegner zu proji­zieren: Es sei der „kollek­tive Westen“, der einen „hybriden Krieg“ gegen Russ­land führe, der „kollek­tive Westen“ wolle „seine unein­ge­schränkte Macht erhalten“: „Sie wollen nicht, dass wir frei sind, sie wollen uns als Kolonie sehen. Sie wollen keine gleich­be­rech­tigte Zusam­men­ar­beit, sondern Ausbeu­tung. Sie wollen uns nicht als eine freie Gesell­schaft sehen, sondern als einen Haufen seelen­loser Sklaven.“ Das anti­im­pe­riale und anti­ko­lo­niale Voka­bular des durch und durch impe­rialen und kolo­nialen Kriegs­herrn kommt bei vielen gut an, weil sie die Para­doxie zwischen Sagen und Tun konse­quent ausblenden.

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Putin geht es jedoch nicht nur um Rhetorik. Viel­mehr ist der „kollek­tive Westen“ das Ziel einer Trans­for­ma­tion, die von Russ­land ausgehen soll. Wie das aussieht, kann man sehr gut in einem Artikel vom Oktober 2022 im Auslands­pro­pa­gada­sender Sputnik Kasach­stan erkennen. In dem program­ma­ti­schen Artikel: Was ist der kollek­tive Westen, warum und wie man ihn bekämpft? erklärt ein Philo­soph der Moskauer Akademie der Wissen­schaften, Vladimir Lepskij, den Kasa­chen die „primi­tive Subjek­ti­vität“ des „kollek­tiven Westens“. Diesem mangele es vor allem an Refle­xi­vität, die durch „die Medien blockiert“ werde. Blockiert werde auch die Kommu­ni­ka­tion, „eine Sozia­lität sei nicht vorhanden, was insbe­son­dere die Pandemie gezeigt habe“. Auch hier proji­ziert der Philo­soph die russi­sche Situa­tion auf den Westen, man könnte sogar von einem umge­kehrten Orien­ta­lismus spre­chen, der einen unzi­vi­li­sierten, rassis­ti­schen, einen obszönen, von LGBTQ-Aktivist:innen und Gender­ideo­lo­gien verdor­benen kollek­tiven Westen zeichnet, der nach Lepskij „eins zu eins dem Modell tota­li­tärer Sekten“ entspricht.

Lepskij ist am Schluss seines Arti­kels sicher, dass man den „kollek­tiven Westen“ nicht zerstören könne, sondern umwan­deln müsse, „damit er sich auf dem Planeten normal verhält“ und endlich „russi­sche Werte“ über­nehme. Das ist der Grund­tenor der aktu­ellen russi­schen Propa­ganda: Der „kollek­tive Westen“ müsse nach russi­schem Vorbild umge­baut werden.

West­s­plai­ning and Eastsplaining

Der Blick in die russi­sche Propa­ganda zeigt, dass es bei West­s­plai­ning eigent­lich nicht um Ost und West geht. Die Gegen­über­stel­lung von Osten und Westen lenkt nur davon ab, die poli­ti­sche Inter­essen und Macht­tech­niken zu tarnen. Bei den russi­schen „Werten“, die Putins Regime vertritt, und die dieses in Russ­land seit mehr als zwanzig Jahren Schritt für Schritt mit repres­siven Maßnahmen durch­setzt, handelt es sich um einen rechts­kon­ser­va­tiven und christlich-fundamentalistischen kultu­rellen Back­lash, den das Putin­re­gime u.a. von rechten Kreisen aus den USA nach Russ­land impor­tiert hat. Umge­kehrt lässt sich auch sagen, dass Putins ‚russi­sche‘ Werte auch die Werte von Alt-Right oder die von AfD sind, die Werte des Front National und weiterer rechts­na­tio­nalen Parteien.

Wenn nun aber bestimmte west­liche Linke Putins Projek­tionen  über­nehmen, dann igno­rieren sie nicht nur dessen impe­riale Macht­po­litik. Sie setzen sich auch nicht mit dem gewalt­vollen Vorgehen gegen Regimekritiker:innen und dem auto­ri­tären mafiösen Kapi­ta­lismus in Russ­land ausein­ander. Ja, sie sind vor allem nicht soli­da­risch mit jenen, die in Russ­land ihre Frei­heit riskieren, um für Werte zu kämpfen, für die auch west­liche Linke auf die Strasse gehen: In Russ­land protes­tieren sie gegen den Krieg, gegen russi­schen Impe­ria­lismus, gegen Diskri­mi­nie­rung von LGBTQ, gegen mafiösen Kapi­ta­lismus und gegen Auto­kratie. Diese Igno­ranz einiger west­li­cher Linker lässt sich nur damit erklären, dass man für die poli­ti­sche Repres­sion in Russ­land nicht den Westen oder die NATO verant­wort­lich machen kann.

Was also machen mit dem Begriff ‚West­s­plai­ning‘? Er taugt und er taugt nicht. Zwar macht er als Begriff auf die Inter­essen Ostmit­tel­eu­ropas aufmerksam, aber auch Ostmit­tel­eu­ropa ist kein einheit­li­ches poli­ti­sches Gebilde: Trotz Dikta­tur­er­fah­rung wählen viele Ungar:innen eine illi­be­rale „Demo­kratie“, die Putin unter­stützt; trotz Dikta­tur­er­fah­rung wählen viele Ostdeut­sche AfD und Die Linke, die eben­falls Putin hofieren; trotz Dikta­tur­er­fah­rung wird auch in Polen Demo­kratie syste­ma­tisch abge­baut – aller­dings ohne dabei Putins Politik zu unter­stützen. Umge­kehrt sieht die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung im ‚Westen‘ die poli­ti­schen Inter­essen des russi­schen Regimes durchaus klar und fällt keines­wegs auf die rheto­ri­schen Tricks der russi­schen Propa­ganda rein. Und auch ‚west­liche‘ Intel­lek­tu­elle haben hervor­ra­gende Analysen über den aktu­ellen Krieg gelie­fert, lesen ostmit­tel­eu­ro­päi­sche Autor:innen und verfolgen ihre Analysen. Doch egal, wie komplex die Situa­tion ist: Das Kultur­pa­ra­digma, das im ‚West­s­plai­ning‘ mitspielt – eben ein angeb­lich einheit­li­cher Westen gegen einen angeb­lich einheit­li­chen Osten –, verstellt die poli­ti­sche Dimen­sion der Debatte und das Ziel der russi­schen Desin­for­ma­tion, den kultu­rellen und poli­ti­schen Back­lash weiter zu beför­dern und das Poli­ti­sche zu kulturalisieren.