Ist der hiesige Rassismus, der im Geiste Schwarzenbachs vor allem beim Thema Migration und «Überfremdung» zum Ausdruck kommt, im Vergleich zum mörderischen Rassismus gegen Schwarze, der die USA spaltet, überhaupt der Rede wert? Ein historischer Rückblick auf die Ära der westeuropäischen Gastarbeit, in der die Initiative von 1970 ergriffen wurde, ermöglicht es sowohl den Rassismus in der Schweiz besser zu verstehen als auch gleichzeitig der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Proteste in den USA gegen Rassismus für die Schweiz haben, gestern und heute.
«Fremdarbeiter», «Rassenunruhen» und Neue Rechte um 1970
1971 publizierte der deutsche Journalist Ernst Klee seine Sozialreportage zur Lage der Gastarbeiter mit dem Titel: «Die Nigger Europas». Zur selben Zeit hielt der Migrationssoziologe Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny von der Universität Zürich Referate zum Thema «Fremdarbeiter: die Neger unserer Gesellschaft?» Beide Beispiele zeigen nicht nur an, dass sich sprachliche Konventionen seither zurecht gewandelt haben. Offensichtlich lag Anfang der 1970er Jahre auch der Vergleich zwischen der Situation der Millionen von ausländischen Arbeitskräften, die die Grundlage für den wirtschaftlichen Boom in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg legten, und der afroamerikanischen Bevölkerung nahe.
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA war weltweit sehr genau beobachtet worden und die landesweiten «Rassenunruhen» von 1967/68 dienten auch im Kontext der westeuropäischen Gastarbeiterbeschäftigung als mahnendes Beispiel. In Wissenschaft und Politik stellte man sich die Frage, wie die Gefahr einer dauerhaften sozialen «Unterschichtung» durch eine ethnisch und «rassisch» als fremd wahrgenommene Arbeiterschicht, die ggfs. sogar wie in den USA in Ghettos segregiert leben würde, abgewehrt werden konnte. Die Antworten auf die Situation unterschieden sich jedoch grundlegend. Dieser Gegensatz prägt bis heute das Spektrum migrationspolitischer Ansätze und polarisiert die Gesellschaft.

Newark race riots, 14. Juli 1967; Quelle: time.com

Demonstration italienischer Arbeiter gegen Schwarzenbach, 1970; Quelle: unia.ch
Auf der einen Seite formierte sich in verschiedenen europäischen Ländern ein neuer Rechtspopulismus, der in Zeiten, in denen sich das Ende des Nachkriegsbooms anzudeuten begann, vor allem auf nationale Antieinwanderungspolitik setzte. Als Gegner wurden «die da oben» ausgemacht, die gegen den «Willen des Volkes» massenhaft «Fremdarbeiter» ins Land holten, nur um Profite zu machen, und die so die Zukunft der «Heimat» auf Spiel setzen. In diversen Ländern formierte sich unter anderem auch auf dieser ideologischen Basis eine neue Rechte, etwa in Deutschland, Frankreich, Italien, Grossbritannien, aber auch in der Schweiz, wo am 7. Juni 1970 zum ersten Mal eine nationale Volksinitiative gegen Überfremdung zur Abstimmung kam.
Die «Schwarzenbach-Initiative»
Die Volksinitiative gegen Überfremdung, die von James Schwarzenbach und seiner Partei der Nationalen Aktion initiiert worden war, forderte eine Begrenzung des Ausländeranteils in allen Kantonen (ausser dem internationalen Genf) auf maximal zehn Prozent der Wohnbevölkerung. Bei Annahme hätten rund mehrere Hunderttausend ausländische, vor allem italienische BewohnerInnen der Schweiz das Land verlassen müssen. Diejenigen, die im Land hätten bleiben dürfen, wären noch entrechteter und marginalisierter gewesen als zuvor, da die Initiative den Schweizern ein Vorrecht auf Arbeitsplätze sichern sollte. Für die Abstimmung mobilisierte die neue Rechte alteingesessene Ressentiments gegenüber «Südländern», die zuweilen auch in offen rassistischer Weise an Abstammung und äusseren Merkmalen wie der Haut- und Haarfarbe festgemacht wurden. Rechte hetzten gegen die «dunklen Fremden», die sich gern an den Bahnhöfen versammelten, um dort vermeintlich den Schweizer Frauen aufzulauern – die Langlebigkeit dieser rassistischen Vorstellung bis in die heutige Zeit ist augenfällig.
Verbale und auch handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Initiative nahmen im Vorfeld der Abstimmung zu. Die Angst vor der Ausschaffung beherrschte viele ausländische Familien, die nicht selten sprichwörtlich auf gepackten Koffern sassen. Die Verletzungen von damals sind bis heute nicht aufgearbeitet. Die stark polarisierende Initiative wurde mit 54% abgelehnt. Die für viele damals unerwartet knapp ausgefallene Niederlage erscheint jedoch rückblickend als ein wichtiger Wendepunkt in der Schweizer Nachkriegsgeschichte. Mit ihr etablierte sich die neu aufgestellte rechtpopulistische Anti-Einwanderungspolitik als relevante politische Kraft. Mithilfe eines Dauerwahlkampfs in Form aufeinanderfolgender Volksinitiativen gegen Überfremdung trieb diese neu erstarkte und international vernetzte Rechte seitdem Staat, Medien und Stimmvolk vor sich her, bis heute. Der migrationspolitische Diskurs wurde in der Weise auch in «der Mitte» zunehmend nach rechts verschoben. So verstärkte etwa die Schweizer Regierung direkt nach der Abstimmung ihre Bestrebungen Einwanderung zu begrenzen und baute dazu etwa auch ein Zentrales Ausländerregister auf, das bis heute unter anderem Namen fortbesteht.
«Integration» und Solidarität seit den 1970ern
Ab den späten 1960er Jahren reagierten verschiedene Kräfte in der Schweiz auf die Arbeitsmigration, aber nicht nur mit Zulassungsbeschränkungen und einer verbreiteten «Überfremdungs»-Ideologie, sondern auch mit lauter werdenden Rufen nach gesellschaftlicher Eingliederung. Die Schwarzenbach-Abstimmung war auch in dieser Hinsicht ein wichtiger Wendepunkt, weil sie Gegenwehr mobilisierte, auch von Seiten der ausländischen ArbeiterInnen. Schon vor 1970 war deutlich geworden, dass die vermeintlich nur temporäre Anwesenheit ausländischer Arbeitskräfte aus diversen Gründen zu einer de facto ungeplanten Einwanderungssituation geführt hatte. Um aber eine dauerhafte Segregation wie in den USA zu verhindern, setzten kritische Stimmen zunehmend auf «Integration». Dieser Begriff kam damals neu auf und war unter anderem auch durch die US-Debatten um das «Rassenproblem» geprägt worden. Dabei wurde weniger auf individuelle Assimilation denn auf Gleichberechtigung, Förderung von Chancengleichheit und Ermöglichung sozialen Aufstiegs gesetzt.

Solidarität an einem Protestmarsch 1965 in den USA; Quelle: goodnet.org

Button Mitenand-Initiative, 1981 Quelle: Schweizerisches Sozialarchiv
Die Schwarzenbach-Initiative führte daher nicht nur zur Einrichtung einer permanenten Ausländerkommission durch die Schweizer Regierung, die für Eingliederungsfragen zuständig sein sollte, sie mobilisierte auch die Schweizer Zivilgesellschaft und brachte lokale Initiativen zusammen. So entstand in den Folgejahren eine breite soziale Bewegung, die sich für einen solidarischen, demokratischen und offenen Umgang mit den neuen ausländischen Mitmenschen einsetze, von den Kirchen und humanitären Hilfswerken, über liberale Initiativen bis hin zu linken Gruppen sowie den Organisationen ausländischer Menschen in der Schweiz. Die Mitenand-Bewegung, die dann Mitte der 1970er Jahre ins Leben gerufen wurde, kann als civil rights movement der Schweiz bezeichnet werden. Umso eindrücklicher ist, dass ihre Geschichte heute unter SchweizerInnen weniger bekannt ist als die popkulturell weitaus präsentere schwarze Protestgeschichte der Weltmacht USA. Die Mitenand-Volksinitiative ist aber auch deswegen im nationalen Gedächtnis der Schweiz kaum verankert, weil sie 1981 an der Urne scheiterte. Dennoch darf der Einfluss dieser zivilgesellschaftlichen Bewegung, ihrer Netzwerke und inhaltlichen Impulse auf die konkrete Umsetzung der integrationspolitischen Öffnung auf kommunaler und nationaler Ebene bis in die 1990er Jahre nicht unterschätzt werden.
Von der Fremdenfeindlichkeit zur Rassismuskritik
Schon im Zuge der «Fremdarbeiter»-Debatten der 1970er Jahre war deutlich geworden, dass rassistische Stereotype eine massgebliche Barriere für Integration und sozialen Aufstieg darstellen konnten. Auch um sich von der Situation in den USA abzugrenzen, wurde vermehrt von «Fremdenfeindlichkeit» gesprochen. Der Zusammenhang zwischen der Situation der Schwarzen in den USA und den Gastarbeitern in Westeuropa geriet in der Folgezeit zunehmend aus dem Blick. Das änderte sich erst mit der Ankunft der neuen AsylbewerberInnen aus dem Globalen Süden in den 1980er Jahren. Bis zum Ende des Jahrzehnts nahm die Skandalisierung der vermeintlichen «Wirtschaftsflüchtlinge» in Politik und Medien dramatische Züge an und provozierte auch in der Schweiz eine Welle von rassistischen Übergriffen, etwa auf tamilische und türkische AsylbewerberInnen. Vor diesem Hintergrund schauten viele Betroffene und andere, die dieser Stimmung etwas entgegensetzen wollten, nach Grossbritannien und Frankreich, wo sich Widerstand gegen Rassismus formierte. Sie blickten aber auch in die USA, wo 1992 ähnlich wie heute Unruhen und Proteste aufgrund von rassistischer Polizeigewalt ausgebrochen waren. Bis zu den frühen 1990er Jahren formierte sich daher in der Schweiz erstmals eine explizit antirassistische Bewegung, die zusammen mit völkerrechtlichem Druck dazu führte, dass 1994 ein Rassismus-Artikel ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde und die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) ihre Arbeit aufnahm.

Demonstration gegen Polizeigewalt in Los Angeles, 29.4.1992, Quelle: yahoo.com

Demonstration für das Anti-Rassismusgesetz auf dem Bundesplatz in Bern am 3. September 1994, Tagesschau DRS; Quelle: SRF Archiv
Seit dieser Zeit wird der Begriff des Rassismus in der Schweiz auch öffentlich verwendet, um Formen der Ausgrenzung, Abwertung und Diskriminierung aufgrund äusserlicher Merkmale der Abstammung im eigenen Land zu beschreiben. Dabei profitierte die Schweiz einerseits vom rassismuskritischen Wissensimport vor allem aus den USA. Andererseits – und dies zeigen auch die Debatten um die aktuellen Proteste – verzerren US-Perspektiven aber auch den Blick auf die spezifische Situation in Ländern wie der Schweiz. Anders als in den USA wurde hier trotz der Beteiligung am europäischen Kolonialismus nie ein Teil der Bevölkerung über Generationen in einem erblichen Sklavenverhältnis ausgebeutet. Auch wenn seit dem späten 19. Jahrhundert ein transnationaler Austausch zwischen der Schweiz und den USA bei restriktiver Einwanderungspolitik festgestellt werden kann, folgt aus der Geschichte der amerikanischen Sklaverei selbstverständlich ein markanter Unterschied zwischen den beiden Ländern. Die aktuellen Proteste in den USA zeigen, dass dieses historische Erbe struktureller Ungleichheit schwerwiegt und lange nicht aufgearbeitet ist.
Rassismus und die Frage der Staatsbürgerschaft
So sehr also der Blick in die USA – von der Zeit der Schwarzenbach-Initiative bis heute – immer wieder dazu beigetragen hat, Rassismus in der Schweiz zu thematisieren und besser zu verstehen, so wichtig bleibt es, die Unterschiede im Blick zu behalten, ohne zu relativieren. So verläuft etwa die primäre Trennlinie, entlang derer Rassismus in der Schweiz seit der Zeit der «Gastarbeit» zum Ausdruck kommt, nicht zwischen Weissen und Schwarzen, sondern zwischen Schweizern und Ausländern. Anders im Fall der Afroamerikaner, die eine US-Staatbürgerschaft besitzen, geht es hier um Fragen der Migration, also der Zulassung, des Aufenthaltsstatus, der Niederlassung und Einbürgerung. Es handelt sich hierbei um grundlegende Selektionsentscheide eines souveränen Nationalstaats, die nicht per se rassistisch sind, jedoch historisch durch rassistische Ideologien mitgeprägt, mitgetragen und stabilisiert worden sind.
Das zeigt sich etwa, wenn Menschen, die die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen, allein aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens oder ihrer Lebensweise im Alltag oder etwa auch bei einer Polizeikontrolle als «Ausländer» wahrgenommen und behandelt werden. Es gibt, mit anderen Worten, in der Schweiz ein Rassismus-Problem, und zwar nicht nur am rechtsextremen Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dennoch bewegt sich dieses, auch das ist wichtig festzustellen, auf einer ganz anderen Skala als in den USA. Die aktuellen Proteste dort lenken den Blick auf Extremformen systemischer rassistischer Gewalt. Aber um Rassismus wirklich zu verstehen, ist es auch wichtig dahin zu schauen, wo er eine Normalität schafft, die nicht dieselbe Empörung generiert wie offene Polizeigewalt.
Man darf also weder in den USA noch in der Schweiz bei der gewalttätigen, ja tödlichen Seite des Rassismus stehenbleiben. Vielmehr sollte man über die Frage sprechen, warum es eigentlich keine entsprechende öffentliche Empörung darüber gibt, dass rund ein Viertel der permanenten Wohnbevölkerung in einem Land, das so stolz auf seine Demokratie ist, kein Bürgerrecht besitzt, also keine politischen Rechte und oft keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Dieser Zustand wirkt «normal», weil die Vorstellung, dass es sich hier selbst bei Menschen in der zweiten und nicht selten sogar noch in der dritten Einwanderergeneration immer noch um «Ausländer» handelt, fest in allen Köpfen verankert ist – selbst in der Migrationsbevölkerung. Und weil es um «Ausländer» geht, scheint es auch kein Problem, dass diese als Bewohner zweiter Klasse behandelt werden. So schafft die zirkuläre Logik einer Fremdmachung, die eben auch auf impliziten rassistischen Vorstellungen beruht, ihre eigene unaufgeregte Normalität.
#AusländerLivesMatter
Wenn man Rassismus in der Schweiz also verstehen will, muss man anders als in den USA vom Begriff des «Ausländers» ausgehen. In dieses Wort haben sich im Zuge diverser historischer Einwanderungsepisoden unterschiedliche Formen rassistischer Fremdzuschreibungen eingelagert, von Antisemitismus und Antiziganismus hin zu antislawischen, antisüdländischen und mit der globalen Migration seit den 1980er Jahren auch zunehmend antiorientalischen, antimuslimischen, antiasiatischen sowie antischwarzen Rassismen. Eine unkritische Übernahme von Kategorien des Rassismus in den USA, die letztlich auch durch die ganze Wucht der US-amerikanischen Kulturproduktion in die Sozialen Medien und weltweiten Diskurse gedrückt werden, erschwert hingegen das Verständnis von Rassismen in anderen Ländern wie etwa der Schweiz. Ein zu starker Fokus auf den Gegensatz von «weiss» und «schwarz» überblendet tendenziell andere Geschichten des Rassismus und auch des Widerstandes dagegen. Gleichzeitig bietet die grosse Welle der Solidarität mit den Schwarzen in den USA aber auch eine Chance, sich auch genauer mit dem Rassismus in der Schweiz auseinanderzusetzen.
Dass der 50. Jahrestag der Abstimmung zur «Schwarzenbach-Initiative» in eine Zeit fällt, in der antirassistische Proteste die USA erschüttern, ist rein zufällig. Und doch weitet sich durch eine Zusammenschau der Ereignisse der Blick auf die Vorgeschichte unserer Gegenwart: Um den langen Schatten von «Schwarzenbach» angemessen verstehen zu können, reicht es offensichtlich nicht, nur auf die Schweiz zu schauen. Umgekehrt lässt sich die Bedeutung der Proteste in den USA für die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Schweiz nur angemessen einordnen, wenn man sich auch mit der Geschichte der «Schwarzenbach»-Abstimmung befasst.