„Hat die Documenta ein Antisemitismusproblem?“, fragte Thomas E. Schmidt in der ZEIT vom 12. Januar 2022 und erklärte ein paar Ausgaben später: „Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit sind keineswegs dasselbe.“ In beiden Artikeln erhob er schwere Vorwürfe gegen Yazan Khalili, den Sprecher der palästinensischen Künstlergruppe The Question of Funding, die an die im Juni 2022 öffnende „Documenta Fifteen“ in Kassel eingeladen wurde. Diese Gruppe entwickelte sich aus dem Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah, dessen Namensgeber – eben Khalil Sakakini (1878-1953) – angeblich ein „radikaler Nationalist und Nazi-Anhänger“ gewesen sei. Seit die Teilnahme von palästinensischen Künstler:innen an der Documenta bekannt wurde, sind ähnliche Vorwürfe auch in anderen deutschen Zeitungen wiederholt worden, so etwa in der FAZ am 14. Januar unter dem ironiefreien Titel „Hetzkunst“. Über das gesamte politische Spektrum hinweg reagieren deutsche Zeitungen ähnlich unangemessen auf die Einladung von palästinensischen Künstler:innen aus dem Sakakini Cultural Center.
Ein Gerücht über einen Palästinenser
Die Vorwürfe gegen Yazan Khalili, den Sprecher der palästinensischen Künstlergruppe, hat Joseph Croitoru in der FAZ vom 31.1.2022 bereits entkräftet. Doch wie verhält es sich mit den Vorwürfen gegen Khalil Sakakini, auf den sich die Kritik in den deutschen Feuilletons zurückbezieht? Und wie entstand das Gerücht, er sei ein „radikaler Nationalist und Nazi-Anhänger“ gewesen? Die zweite Frage ist mit ein wenig Provenienzforschung im Internet schnell beantwortet. Zur Beantwortung der ersten hingegen bedarf es eines Blicks in die achtbändigen Tagebücher, die Sakakini von 1907 bis kurz vor seinem Tod auf Arabisch verfasst hat, und die erst vor kurzem vollständig publiziert wurden.
Doch zuerst zur Entstehung des Gerüchts über Sakakini. Gerüchte entstehen in der Regel durch die Wiederholung von falschen Informationen; sie verbreiten sich besonders schnell über Menschen oder Gruppen, die sich nicht wehren können oder wehren dürfen. Die Spur des Sakakini-Gerüchts nun führt schnell zu den islamophoben Websites von zwei obskuren anti-deutschen Gruppen aus Kassel und Dortmund. Letztere nennt sich „Ruhrbarone“ und hat sich vor zwei Jahren einen Namen gemacht, als sie dem kamerunischen Philosophen Achille Mbembe Antisemitismus vorwarf, und die Ruhrtriennale, bei der er sprechen sollte, ihn daraufhin ausgeladen hat. Auf dieser Webseite aus Dortmund findet sich genau der Hinweis zu Sakakini, den Thomas E. Schmidt und einige andere anti-palästinensische Feuilletonist:innen kopieren. Es heißt hier: „Khalil al-Sakakini (1878-1953) war, so kann bei Wikipedia in Erfahrung gebracht werden, ‚ein palästinensischer Pädagoge, Schriftsteller und arabischer Nationalist‘. Er war ‚Anhänger des Nationalsozialismus […], befürwortete die Politik von Adolf Hitler und übernahm die von ihm propagierte Idee der jüdischen Weltverschwörung‘.“
Was für eine Aussage! Solche Unterstellungen sind alles andere als harmlos und liefern in diesem Kontext auch indirekt Rückendeckung für die israelischen Misshandlungen von Palästinenser:innen und für anti-palästinensischen Rassismus in Deutschland. Dennoch werden diese und ähnliche Anschuldigungen seit Monaten wiederholt, ohne dass sich die Nahostwissenschaft in Deutschland die Mühe macht, sie zu widerlegen.
Ein kosmopolitischer Geist

Signiertes Portrait von Khalil Sakakini, Jerusalem 1906; Quelle: wikipedia.org
Wer war nun also der historische Sakakini – und nicht die rassistische Karikatur, die heute der Attacke auf die Documenta15 und deren ausländischen Kuratoren dienen soll? Khalil al-Sakakini wurde 1878 in Jerusalem als Kind einer Handwerkerfamilie geboren. Früh verschrieb er sich den Zielen der „Nahda“-Bewegung, die ab 1860 die Grundwerte des Islams mit der Moderne zu verbinden suchte und eine kulturelle Renaissance auslöste. Sakakini unterrichtete an den renommiertesten britischen und russischen Missionarsschulen Jerusalems; er unternahm Bildungsreisen nach England und Amerika und war wie viele seiner Nahda-Mitstreiter:innen literarisch tätig. Er liebte europäische Literatur und Musik und schrieb für arabische Zeitschriften, in denen er, zeitgemäß ungeduldig, den Geist der arabischen Moderne beschwor. Die jungtürkische Revolution von 1908 befeuerte seinen Optimismus und Tatendrang. In ihrem Geist gründete er eine konfessionslose Schule, die aufklärerischen Lehrmethoden verpflichtet war, und er appellierte als Herausgeber mehrerer freiheitlicher Zeitungen an den ökumenischen Charakter der palästinensischen Gesellschaft.
Als Ende 1917 die Briten in Sakakinis Land kamen, stellte er sich in den Dienst des neu aufzubauenden Bildungssystems. Wie alle arabischen Patrioten feierte Sakakini auch den US.amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und begrüßte die King-Crane-Kommission, die monatelang durch Syrien, Libanon und Palästina reiste und tausende von Petitionen entgegennahm; eine große Mehrheit war für einen unabhängigen demokratischen Verfassungsstaat in einem geeinten Syrien mit dem haschemitischen König Faisal als Staatsoberhaupt. Auch Intellektuelle in Palästina bereiteten sich auf eine neue politische Zukunft vor. Im Januar 1919 ko-organisierte Sakakini ihren ersten Kongress, der proklamierte, dass Palästina Teil eines arabischen Staates im geographischen Syrien werden sollte.

Khalil Sakakini mit seiner Frau Sultaneh Abdo und Sohn Sari in Jerusalem, ca. 1920; Quelle: pinterest.com
Doch dann kam alles anders. Die Franzosen marschierten 1920 in Syrien ein und ersetzten die junge konstitutionelle Monarchie mit einer brutalen und pro-christlichen Mandatsherrschaft. Die Briten richteten gleichzeitig in Jerusalem eine pro-zionistische Zivilverwaltung (ab 1922 Mandatsverwaltung) ein. Sakakini trat enttäuscht von seinen Ämtern zurück. Wie viele Intellektuelle unter Kolonialherrschaft haderte er fortan damit, wie rassistisch Vertreter eines Landes sein konnten, dessen Kultur er so bewunderte:
Unabhängigkeit! Jeder Mensch und jede Nation muss eine eigene Existenz haben. Ich liebe die englische Nation … aber ich bin kein Engländer, ich liebe Amerika … aber ich bin kein Amerikaner … Es kann sein, dass ich meines östlichen Lebens müde werde, … es kann sogar sein, dass ich einmal von meiner Östlichkeit befreit werden will, aber ich bin nun einmal aus dem Osten.
Sakakinis Antizionismus entsprang also keineswegs einem Radikalnationalismus. Ganz im Gegenteil, er musste sich Zeit seines Lebens dem Vorwurf stellen, seine liberale Einstellung mache ihn unvermeidlich zu einem kolonialen Instrument.
Sakakinis Tagebücher
Sakakini begann 1907 damit, jene Tagebücher zu führen, von denen einige deutsche Feuilletonisten hundert Jahre später glauben, sie eigneten sich, um Sakakini als „radikalen Nationalist und Nazi-Anhänger“ zu überführen. Inzwischen hat das Sakakini Cultural Center die arabischen Tagebücher in acht Bänden herausgegeben. Sie verschaffen uns ein umfassendes Bild vom sozialen Milieu und dem Innenleben dieses palästinensischen Aufklärers, und sie enthalten Briefe an seinen Sohn in Amerika, und messerscharfe Betrachtungen über tägliche Ereignisse. Auf diesen über dreitausend gedruckten Seiten wird Deutschland gerade dreißig Mal erwähnt, Hitler keine zehn Mal.
In einem sehr frühen Eintrag stellte Sakakini sich die Frage, „Was ist Nationalismus?“ und antwortet selbst, ganz dem damaligen Zeitgeist entsprechend: „Wenn Nationalismus heißt, dass ein Mensch gesund, stark, energisch, klardenkend, edelmütig und großzügig ist, dann bin ich Nationalist. Wenn aber Nationalismus heißt, von Ideologie getrieben zu sein oder einen Bruder abzulehnen, der aus einem anderen Land kommt oder eine andere Ideologie hat, dann bin ich kein Nationalist.“
Und so verwundert es nicht, dass Sakakini bis zu seiner Vertreibung 1948 britische und jüdische Studierende unterrichtete und sie teilweise nachhaltig inspirierte. So etwa Gideon Weigert, der im Jahr von Hitlers Machtergreifung nach Palästina floh, sich aber während des Zweiten Weltkriegs in Sakakinis al-Nahda-Kolleg einschrieb und dann seinem Lehrer in die arabische Sektion der Palestine Broadcasting Company folgt. Nachdem Sakakini 1953 in Kairo verstarb, würdigte der deutsch-jüdische Flüchtling und späteres Mitglied der linken zionistischen Mapam Partei in einem arabischen Nachruf seinen „Vater, Berater und Freund: Dein Anstand und deine Menschlichkeit hatten auf uns einen trutzigen Einfluss. Dein Unterricht und deine Vorlesungen pflanzten in uns Ideen für die Zukunft. Du lebst in unserem Geist weiter.“
Im fünften seiner Tagebücher geht Sakakini zum ersten Mal auf Hitler ein. In einem Brief vom 23. Januar 1934 warnt er seinen Sohn vor einer „neuen religiösen Bewegung in Deutschland, für die das Christentum eine kranke Zivilisation aus dem vergreisten Mittelmeerraum ist,“ aber „glaube ja nicht, dass Hitler der Luther unsere Zeit ist!“ Nazismus sei vielmehr eine Folge von Krisen und Katastrophen, die die gesamte Menschheit auf den Holzweg führen werde und uns alle noch zu Bestien werden lasse. In einer Zeit, in der die Menschheit sich nach modernen Propheten sehne, deren moderner Erlösungsdrang alles Alte zerstört – er zählt namentlich Lenin, Mussolini, Mustafa Kemal und Gandhi auf – sollten wir die Moderne auf dem Fundament unseres eigenen kulturellen Erbes denken, rät Sakakini.
Im nächsten Band unterstützt Sakakini die Palästinenser, die 1936 den bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht aufnahmen. In einem seiner vielen väterlichen Briefe gestand er seinem Sohn im fernen Amerika dennoch ein, dass er „den Schmerz der Revolte für Araber, Engländer und Juden gleichermaßen fühle. Deshalb wirst du mich manchmal auf der Seite der Araber finden, manchmal auf der der Engländer und manchmal auf der der Juden.“
In den Tagebuchpassagen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die die „Ruhrbarone“ auf Wikipedia gestützt zitieren, feiert Sakakini nicht die Nazis, sondern hadert mit der Doppelmoral der Alliierten und der Art, wie Ben Gurion die Flüchtlinge zu Siedlern instrumentalisiert. Sakakini sympathisiert tatsächlich hier und da mit den Achsenmächten – aber in Nordafrika, nicht in Europa; und aus der Perspektive Palästinas, nicht aus der Deutschlands. Das aber macht ihn ebenso wenig zu einem Nazianhänger wie der Krieg gegen Nazideutschland Churchill zu einem Stalinisten macht.
In einem Gespräch mit dem Präsidenten der Hebräischen Universität, Judah Magnes, am 27. Juli 1942 in Jerusalem, erklärte Sakakini, dass er Rommels Vormarsch in Libyen deshalb unterstützt hätte, weil er hoffte, die britischen Masseninhaftierungen, Ausgangssperren und Wohnungszerstörungen in Palästina würden dann endlich aufhören. Magnes, der einst mit Sakakinis Schulgrammatiken Arabisch erlernte, drückte Verständnis aus und diskutierte mit ihm seine binationale Lösung für ein ungeteiltes Palästina zweier Nationen. Sakakini winkte ab und prophezeite düster ein Null-Summen-Szenario.
Sakakinis Bibliothek

Sakakini am Schreibtisch; Quelle: jadaliyya.com
Palästinensische Künstler stellen heute viel spannendere Fragen zu Sakakinis Leben und zu seinen Tagebüchern, anstatt sich in Zitierkämpfe mit epistemologischen Nationalisten hineingeziehen zu lassen. Die in Berlin ansässige palästinensische Schriftstellerin, Adania Shibli zum Beispiel hat sich in der kürzlich bei Matthes & Seitz erschienenen Jahresschrift Rhinozeros vorgestellt, wie es wohl in Sakakinis Bibliothek ausgesehen haben könnte, bevor sein Haus 1948 von der Hagana zerstört und seine Bücher von der Jüdischen Nationalbibliothek konfisziert wurden; wie es sich angefühlt haben muss, Erstausgaben zu sammeln, und was wäre, wenn sie diese Schätze, die nun den Stempel „herrenloser Besitz“ tragen, aus dem Orientalistischen Lesesaal der Hebräischen Universität zurückstehlen könnte.
Sakakinis Tagebücher waren nicht unter den rund 30,000 Büchern, die nach der Nakba in den Kriegsbeutebeständen verschwanden. Er hat sie auf seiner Flucht aus Jerusalem gerade noch mitnehmen können. Seine restlichen Werke musste er zurücklassen. So kann Shibli, ungeachtet der Hysterie um die Documenta 15, Khalil Sakakini selbst zu Wort kommen lassen. Sie zitiert seinen Eintrag vom 11. Oktober 1948 und vermittelt den Rhinozeros-Leser:innen, was ihm der Verlust seiner Bücher und der mit ihnen verbundenen Welt bedeutete:
Macht’s gut, meine geschätzten, kostbaren, sorgfältig ausgewählten Bücher. Ich sage meine Bücher und will damit sagen, dass ich euch nicht von meinen Eltern geerbt habe … Und ich habe euch auch nicht von anderen Leuten ausgeliehen; ihr wurdet zusammengetragen von diesem alten Mann, der vor euch steht … Wer hätte es für möglich gehalten, dass mich regelmäßig Ärzte aufgesucht haben, um sich medizinische Werke von mir auszuleihen, weil sie nur in meiner Bibliothek zu finden waren? … Jetzt weiß ich nicht, was nach unserer Abreise aus euch geworden ist: Wurdet ihr geplündert oder verbrannt? Seid ihr ehrenhaft in eine öffentliche oder private Bibliothek versetzt worden? Oder seid ihr rüber zu den Lebensmittelgeschäften gekarrt worden, damit eure Seiten zum Einwickeln von Zwiebeln verwendet werden können? … Macht’s gut meine Bücher! Ihr seid zu kostbar für mich, um ohne euch zu sein.
Wir sollten uns also ein Beispiel an Sakakini nehmen. Lasst uns sorgsam mit Worten und Büchern umgehen und mit der Geschichte – der eigenen, der von anderen und der miteinander verflochtenen.