Der Documenta wird Antisemitismus vorgeworfen. Angeblich sei Khalil Sakakini, der Namengeber des Khalil Sakakini Cultural Center, aus dem die eingeladene palästinischen Künstlergruppe hervorgegangen ist, Nazi-Anhänger gewesen. Aber stimmt das denn auch – und wie kommt ein solches Gerücht zustande?

  • Jens Hanssen

    Jens Hanssen lehrt seit 2002 Nahost- und Mittelmeergeschichte an der Universität Toronto. Er ist derzeit Fellow am Centre Marc Bloch in Berlin und am Global History Seminar der FU Berlin

„Hat die Docu­menta ein Anti­se­mi­tis­mus­pro­blem?“, fragte Thomas E. Schmidt in der ZEIT vom 12. Januar 2022 und erklärte ein paar Ausgaben später: „Kunst­frei­heit und Meinungs­frei­heit sind keines­wegs dasselbe.“ In beiden Arti­keln erhob er schwere Vorwürfe gegen Yazan Khalili, den Spre­cher der paläs­ti­nen­si­schen Künst­ler­gruppe The Ques­tion of Funding, die an die im Juni 2022 öffnende „Docu­menta Fifteen“ in Kassel einge­laden wurde. Diese Gruppe entwi­ckelte sich aus dem Khalil Saka­kini Cultural Center in Ramallah, dessen Namens­geber – eben Khalil Saka­kini (1878-1953) – angeb­lich ein „radi­kaler Natio­na­list und Nazi-Anhänger“ gewesen sei. Seit die Teil­nahme von paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen an der Docu­menta bekannt wurde, sind ähnliche Vorwürfe auch in anderen deut­schen Zeitungen wieder­holt worden, so etwa in der FAZ am 14. Januar unter dem ironie­freien Titel „Hetz­kunst“. Über das gesamte poli­ti­sche Spek­trum hinweg reagieren deut­sche Zeitungen ähnlich unan­ge­messen auf die Einla­dung von paläs­ti­nen­si­schen Künstler:innen aus dem Saka­kini Cultural Center.

Ein Gerücht über einen Palästinenser

Die Vorwürfe gegen Yazan Khalili, den Spre­cher der paläs­ti­nen­si­schen Künst­ler­gruppe, hat Joseph Croi­toru in der FAZ vom 31.1.2022 bereits entkräftet. Doch wie verhält es sich mit den Vorwürfen gegen Khalil Saka­kini, auf den sich die Kritik in den deut­schen Feuil­le­tons zurück­be­zieht? Und wie entstand das Gerücht, er sei ein „radi­kaler Natio­na­list und Nazi-Anhänger“ gewesen? Die zweite Frage ist mit ein wenig Prove­ni­enz­for­schung im Internet schnell beant­wortet. Zur Beant­wor­tung der ersten hingegen bedarf es eines Blicks in die acht­bän­digen Tage­bü­cher, die Saka­kini von 1907 bis kurz vor seinem Tod auf Arabisch verfasst hat, und die erst vor kurzem voll­ständig publi­ziert wurden.

Doch zuerst zur Entste­hung des Gerüchts über Saka­kini. Gerüchte entstehen in der Regel durch die Wieder­ho­lung von falschen Infor­ma­tionen; sie verbreiten sich beson­ders schnell über Menschen oder Gruppen, die sich nicht wehren können oder wehren dürfen. Die Spur des Sakakini-Gerüchts nun führt schnell zu den isla­mo­phoben Websites von zwei obskuren anti-deutschen Gruppen aus Kassel und Dort­mund. Letz­tere nennt sich „Ruhr­ba­rone“ und hat sich vor zwei Jahren einen Namen gemacht, als sie dem kame­ru­ni­schen Philo­so­phen Achille Mbembe Anti­se­mi­tismus vorwarf, und die Ruhr­tri­en­nale, bei der er spre­chen sollte, ihn daraufhin ausge­laden hat. Auf dieser Webseite aus Dort­mund findet sich genau der Hinweis zu Saka­kini, den Thomas E. Schmidt und einige andere anti-palästinensische Feuilletonist:innen kopieren. Es heißt hier: „Khalil al-Sakakini (1878-1953) war, so kann bei Wiki­pedia in Erfah­rung gebracht werden, ‚ein paläs­ti­nen­si­scher Pädagoge, Schrift­steller und arabi­scher Natio­na­list‘. Er war ‚Anhänger des Natio­nal­so­zia­lismus […], befür­wor­tete die Politik von Adolf Hitler und über­nahm die von ihm propa­gierte Idee der jüdi­schen Weltverschwörung‘.“

Was für eine Aussage! Solche Unter­stel­lungen sind alles andere als harmlos und liefern in diesem Kontext auch indi­rekt Rücken­de­ckung für die israe­li­schen Miss­hand­lungen von Palästinenser:innen und für anti-palästinensischen Rassismus in Deutsch­land. Dennoch werden diese und ähnliche Anschul­di­gungen seit Monaten wieder­holt, ohne dass sich die Nahost­wis­sen­schaft in Deutsch­land die Mühe macht, sie zu widerlegen.

Ein kosmo­po­li­ti­scher Geist

Signiertes Portrait von Khalil Saka­kini, Jeru­salem 1906; Quelle: wikipedia.org

Wer war nun also der histo­ri­sche Saka­kini – und nicht die rassis­ti­sche Kari­katur, die heute der Attacke auf die Documenta15 und deren auslän­di­schen Kura­toren dienen soll? Khalil al-Sakakini wurde 1878 in Jeru­salem als Kind einer Hand­wer­ker­fa­milie geboren. Früh verschrieb er sich den Zielen der „Nahda“-Bewegung, die ab 1860 die Grund­werte des Islams mit der Moderne zu verbinden suchte und eine kultu­relle Renais­sance auslöste. Saka­kini unter­rich­tete an den renom­mier­testen briti­schen und russi­schen Missio­nars­schulen Jeru­sa­lems; er unter­nahm Bildungs­reisen nach England und Amerika und war wie viele seiner Nahda-Mitstreiter:innen lite­ra­risch tätig. Er liebte euro­päi­sche Lite­ratur und Musik und schrieb für arabi­sche Zeit­schriften, in denen er, zeit­gemäß unge­duldig, den Geist der arabi­schen Moderne beschwor. Die jung­tür­ki­sche Revo­lu­tion von 1908 befeu­erte seinen Opti­mismus und Taten­drang. In ihrem Geist grün­dete er eine konfes­si­ons­lose Schule, die aufklä­re­ri­schen Lehr­me­thoden verpflichtet war, und er appel­lierte als Heraus­geber mehrerer frei­heit­li­cher Zeitungen an den ökume­ni­schen Charakter der paläs­ti­nen­si­schen Gesellschaft.

Als Ende 1917 die Briten in Saka­kinis Land kamen, stellte er sich in den Dienst des neu aufzu­bau­enden Bildungs­sys­tems. Wie alle arabi­schen Patrioten feierte Saka­kini auch den US.amerikanischen Präsi­denten Woodrow Wilson und begrüßte die King-Crane-Kommission, die mona­te­lang durch Syrien, Libanon und Paläs­tina reiste und tausende von Peti­tionen entge­gen­nahm; eine große Mehr­heit war für einen unab­hän­gigen demo­kra­ti­schen Verfas­sungs­staat in einem geeinten Syrien mit dem hasche­mi­ti­schen König Faisal als Staats­ober­haupt. Auch Intel­lek­tu­elle in Paläs­tina berei­teten sich auf eine neue poli­ti­sche Zukunft vor. Im Januar 1919 ko-organisierte Saka­kini ihren ersten Kongress, der prokla­mierte, dass Paläs­tina Teil eines arabi­schen Staates im geogra­phi­schen Syrien werden sollte.

Khalil Saka­kini mit seiner Frau Sultaneh Abdo und Sohn Sari in Jeru­salem, ca. 1920; Quelle: pinterest.com

Doch dann kam alles anders. Die Fran­zosen marschierten 1920 in Syrien ein und ersetzten die junge konsti­tu­tio­nelle Monar­chie mit einer brutalen und pro-christlichen Mandats­herr­schaft. Die Briten rich­teten gleich­zeitig in Jeru­salem eine pro-zionistische Zivil­ver­wal­tung (ab 1922 Mandats­ver­wal­tung) ein. Saka­kini trat enttäuscht von seinen Ämtern zurück. Wie viele Intel­lek­tu­elle unter Kolo­ni­al­herr­schaft haderte er fortan damit, wie rassis­tisch Vertreter eines Landes sein konnten, dessen Kultur er so bewunderte:

Unab­hän­gig­keit! Jeder Mensch und jede Nation muss eine eigene Exis­tenz haben. Ich liebe die engli­sche Nation … aber ich bin kein Engländer, ich liebe Amerika … aber ich bin kein Ameri­kaner … Es kann sein, dass ich meines östli­chen Lebens müde werde, … es kann sogar sein, dass ich einmal von meiner Östlich­keit befreit werden will, aber ich bin nun einmal aus dem Osten.

Saka­kinis Anti­zio­nismus entsprang also keines­wegs einem Radi­kal­na­tio­na­lismus. Ganz im Gegen­teil, er musste sich Zeit seines Lebens dem Vorwurf stellen, seine libe­rale Einstel­lung mache ihn unver­meid­lich zu einem kolo­nialen Instrument.

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Saka­kinis Tagebücher

Saka­kini begann 1907 damit, jene Tage­bü­cher zu führen, von denen einige deut­sche Feuil­le­to­nisten hundert Jahre später glauben, sie eigneten sich, um Saka­kini als „radi­kalen Natio­na­list und Nazi-Anhänger“ zu über­führen. Inzwi­schen hat das Saka­kini Cultural Center die arabi­schen Tage­bü­cher in acht Bänden heraus­ge­geben. Sie verschaffen uns ein umfas­sendes Bild vom sozialen Milieu und dem Innen­leben dieses paläs­ti­nen­si­schen Aufklä­rers, und sie enthalten Briefe an seinen Sohn in Amerika, und messer­scharfe Betrach­tungen über tägliche Ereig­nisse. Auf diesen über drei­tau­send gedruckten Seiten wird Deutsch­land gerade dreißig Mal erwähnt, Hitler keine zehn Mal.

In einem sehr frühen Eintrag stellte Saka­kini sich die Frage, „Was ist Natio­na­lismus?“ und antwortet selbst, ganz dem dama­ligen Zeit­geist entspre­chend: „Wenn Natio­na­lismus heißt, dass ein Mensch gesund, stark, ener­gisch, klar­den­kend, edel­mütig und groß­zügig ist, dann bin ich Natio­na­list. Wenn aber Natio­na­lismus heißt, von Ideo­logie getrieben zu sein oder einen Bruder abzu­lehnen, der aus einem anderen Land kommt oder eine andere Ideo­logie hat, dann bin ich kein Nationalist.“

Und so verwun­dert es nicht, dass Saka­kini bis zu seiner Vertrei­bung 1948 briti­sche und jüdi­sche Studie­rende unter­rich­tete und sie teil­weise nach­haltig inspi­rierte. So etwa Gideon Weigert, der im Jahr von Hitlers Macht­er­grei­fung nach Paläs­tina floh, sich aber während des Zweiten Welt­kriegs in Saka­kinis al-Nahda-Kolleg einschrieb und dann seinem Lehrer in die arabi­sche Sektion der Pales­tine Broad­cas­ting Company folgt. Nachdem Saka­kini 1953 in Kairo verstarb, würdigte der deutsch-jüdische Flücht­ling und späteres Mitglied der linken zionis­ti­schen Mapam Partei in einem arabi­schen Nachruf seinen „Vater, Berater und Freund: Dein Anstand und deine Mensch­lich­keit hatten auf uns einen trut­zigen Einfluss. Dein Unter­richt und deine Vorle­sungen pflanzten in uns Ideen für die Zukunft. Du lebst in unserem Geist weiter.“

Im fünften seiner Tage­bü­cher geht Saka­kini zum ersten Mal auf Hitler ein. In einem Brief vom 23. Januar 1934 warnt er seinen Sohn vor einer „neuen reli­giösen Bewe­gung in Deutsch­land, für die das Chris­tentum eine kranke Zivi­li­sa­tion aus dem vergreisten Mittel­meer­raum ist,“ aber „glaube ja nicht, dass Hitler der Luther unsere Zeit ist!“ Nazismus sei viel­mehr eine Folge von Krisen und Kata­stro­phen, die die gesamte Mensch­heit auf den Holzweg führen werde und uns alle noch zu Bestien werden lasse. In einer Zeit, in der die Mensch­heit sich nach modernen Propheten sehne, deren moderner Erlö­sungs­drang alles Alte zerstört – er zählt nament­lich Lenin, Musso­lini, Mustafa Kemal und Gandhi auf – sollten wir die Moderne auf dem Funda­ment unseres eigenen kultu­rellen Erbes denken, rät Sakakini.

Im nächsten Band unter­stützt Saka­kini die Paläs­ti­nenser, die 1936 den bewaff­neten Kampf gegen die Besat­zungs­macht aufnahmen. In einem seiner vielen väter­li­chen Briefe gestand er seinem Sohn im fernen Amerika dennoch ein, dass er „den Schmerz der Revolte für Araber, Engländer und Juden glei­cher­maßen fühle. Deshalb wirst du mich manchmal auf der Seite der Araber finden, manchmal auf der der Engländer und manchmal auf der der Juden.“

In den Tage­buch­pas­sagen aus der Zeit des Zweiten Welt­kriegs, die die „Ruhr­ba­rone“ auf Wiki­pedia gestützt zitieren, feiert Saka­kini nicht die Nazis, sondern hadert mit der Doppel­moral der Alli­ierten und der Art, wie Ben Gurion die Flücht­linge zu Sied­lern instru­men­ta­li­siert. Saka­kini sympa­thi­siert tatsäch­lich hier und da mit den Achsen­mächten – aber in Nord­afrika, nicht in Europa; und aus der Perspek­tive Paläs­tinas, nicht aus der Deutsch­lands. Das aber macht ihn ebenso wenig zu einem Nazi­an­hänger wie der Krieg gegen Nazi­deutsch­land Chur­chill zu einem Stali­nisten macht.

In einem Gespräch mit dem Präsi­denten der Hebräi­schen Univer­sität, Judah Magnes, am 27. Juli 1942 in Jeru­salem, erklärte Saka­kini, dass er Rommels Vormarsch in Libyen deshalb unter­stützt hätte, weil er hoffte, die briti­schen Massen­in­haf­tie­rungen, Ausgangs­sperren und Wohnungs­zer­stö­rungen in Paläs­tina würden dann endlich aufhören. Magnes, der einst mit Saka­kinis Schul­gram­ma­tiken Arabisch erlernte, drückte Verständnis aus und disku­tierte mit ihm seine bina­tio­nale Lösung für ein unge­teiltes Paläs­tina zweier Nationen. Saka­kini winkte ab und prophe­zeite düster ein Null-Summen-Szenario.

Saka­kinis Bibliothek

Saka­kini am Schreib­tisch; Quelle: jadaliyya.com

Paläs­ti­nen­si­sche Künstler stellen heute viel span­nen­dere Fragen zu Saka­kinis Leben und zu seinen Tage­bü­chern, anstatt sich in Zitier­kämpfe mit epis­te­mo­lo­gi­schen Natio­na­listen hinein­ge­ziehen zu lassen. Die in Berlin ansäs­sige paläs­ti­nen­si­sche Schrift­stel­lerin, Adania Shibli zum Beispiel hat sich in der kürz­lich bei Matthes & Seitz erschie­nenen Jahres­schrift Rhino­zeros vorge­stellt, wie es wohl in Saka­kinis Biblio­thek ausge­sehen haben könnte, bevor sein Haus 1948 von der Hagana zerstört und seine Bücher von der Jüdi­schen Natio­nal­bi­blio­thek konfis­ziert wurden; wie es sich ange­fühlt haben muss, Erst­aus­gaben zu sammeln, und was wäre, wenn sie diese Schätze, die nun den Stempel „herren­loser Besitz“ tragen, aus dem Orien­ta­lis­ti­schen Lese­saal der Hebräi­schen Univer­sität zurück­stehlen könnte.

Saka­kinis Tage­bü­cher waren nicht unter den rund 30,000 Büchern, die nach der Nakba in den Kriegs­beu­te­be­ständen verschwanden. Er hat sie auf seiner Flucht aus Jeru­salem gerade noch mitnehmen können. Seine rest­li­chen Werke musste er zurück­lassen. So kann Shibli, unge­achtet der Hysterie um die Docu­menta 15, Khalil Saka­kini selbst zu Wort kommen lassen. Sie zitiert seinen Eintrag vom 11. Oktober 1948 und vermit­telt den Rhino­zeros-Leser:innen, was ihm der Verlust seiner Bücher und der mit ihnen verbun­denen Welt bedeutete:

Macht’s gut, meine geschätzten, kost­baren, sorg­fältig ausge­wählten Bücher. Ich sage meine Bücher und will damit sagen, dass ich euch nicht von meinen Eltern geerbt habe … Und ich habe euch auch nicht von anderen Leuten ausge­liehen; ihr wurdet zusam­men­ge­tragen von diesem alten Mann, der vor euch steht … Wer hätte es für möglich gehalten, dass mich regel­mäßig Ärzte aufge­sucht haben, um sich medi­zi­ni­sche Werke von mir auszu­leihen, weil sie nur in meiner Biblio­thek zu finden waren? … Jetzt weiß ich nicht, was nach unserer Abreise aus euch geworden ist: Wurdet ihr geplün­dert oder verbrannt? Seid ihr ehren­haft in eine öffent­liche oder private Biblio­thek versetzt worden? Oder seid ihr rüber zu den Lebens­mit­tel­ge­schäften gekarrt worden, damit eure Seiten zum Einwi­ckeln von Zwie­beln verwendet werden können? … Macht’s gut meine Bücher! Ihr seid zu kostbar für mich, um ohne euch zu sein.

Wir sollten uns also ein Beispiel an Saka­kini nehmen. Lasst uns sorgsam mit Worten und Büchern umgehen und mit der Geschichte – der eigenen, der von anderen und der mitein­ander verflochtenen.

Eine längere, engli­sche Fassung dieses Textes erscheint gleich­zeitig auf jadaliyya.com.