Sylvia Sasse: An den Protesten in Belarus, die sich mittlerweile seit einem halben Jahr gegen die autokratische Regierung richten, sind sehr viele Studierende, Dozent:innen und Professor:innen beteiligt. Einige von ihnen, so etwa die Philosophin Olga Shparaga, sind mit ihren Analysen zu international beachteten Stimmen geworden. Von Shparaga stammt auch die Frage: „Wer hat denn hier eigentlich vor wem Angst?“ Inzwischen verschärfen sich aber auch die Repressionen an den Universitäten. Wie ist die Situation einzuschätzen?

Publikationsinitiative „Stimmen aus Belarus“ auf facebook, fb.com/Belarusstimmen
Felix Ackermann: Nach einer Phase der Ohnmacht und des Abwartens wird derzeit systematisch jeder institutionelle Raum in der Republik Belarus nach Anzeichen des Widerstands durchkämmt. Die Suche nach Anführern der Proteste und nach potentiellen Echokammern kritischer Stimmen macht auch vor den Universitäten nicht halt. Das trifft derzeit sowohl Studierende als auch Lehrende, die ihren Protest im Sommer öffentlich gemacht hatten.
Nina Weller: Die Situation ist für Mitarbeiter:innen und Studierende der staatlichen Bildungseinrichtungen enorm angespannt. Sie können sich des Schutzes durch ihre Institutionen nicht sicher sein, ganz im Gegenteil: Viele, die bei den Protesten aktiv waren und sind und die an den Hochschulen Streikkomitees gegründet hatten, wurden seitens der staatlichen Behörden und von den Hochschulleitungen selbst hart angegangen.
Sylvia Sasse: Wie sieht das konkret aus?
Nina Weller: An der Minsker Staatlichen Linguistischen Universität drangen staatliche Sicherheitskräfte sogar in die Universitätsgebäude ein und verhafteten Studierende, die an Protestaktionen beteiligt waren [siehe Stimmen-Posts vom 8. und 27.9.], einige wurden exmatrikuliert oder hatten mit empfindlichen Geldstrafen zu rechnen. Es kommt nun immer häufiger zur Entlassung von Mitarbeiter:innen, oftmals ohne Vorankündigung und meist mit fadenscheinigen Begründungen: So erging es kürzlich z.B. der Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Lilija Iljushyna, die ihre Stelle an der Belarusischen Staatlichen Universität verloren hat. Viele andere, wie z.B. der Philosoph Pavel Bakoŭrski, sahen keinen anderen Ausweg, als ihre Stellen freiwillig zu verlassen. Diese Situation der Angst, der Verunsicherung oder der Ausweglosigkeit hat schon jetzt dazu geführt, dass viele Universitätsangehörige und Intellektuelle ausgereist sind und über internationale Stipendienprogramme, zumindest vorübergehend, nach Ausweichmöglichkeit im Ausland suchen.
Sylvia Sasse: Zuletzt verloren zum neuen Jahr am Institut für Geschichtswissenschaften der Nationalen Akademie der Wissenschaften zwölf Historiker:innen ihre Arbeit. Sieben wurden die Verträge nicht verlängert, fünf haben aus Solidarität selbst gekündigt. Du, Felix, und Daniela Siebert haben mit den Betroffenen gesprochen, entstanden sind daraus die Minsker Protokolle, in denen die belarusischen Kolleg:innen offen über Repressionen und den Zusammenhang von Protest, kritischer Forschung und Kündigung berichten. Was ist das Spezifische an dieser Repression?

10 Protokolle von Minsker Historiker:innen wurden in den „Stimmen aus Belarus“ veröffentlicht. Quelle: fb.com/Belarusstimmen
Felix Ackermann: Es gibt auch in jeder westeuropäischen Gesellschaft ideologische Rahmenbedingungen, die das Feld des Sagbaren abstecken, in dem Wissen produziert wird. Das Besondere an der Minsker Konfiguration ist, dass dort die Staatsideologie als solche benannt wird und es einen Auftrag an die Akademie der Wissenschaften gibt, diese mit einzelnen Bausteinen zu versehen. Das Ergebnis ist etwa ein verpflichtendes Schulfach „Staatsideologie“, in dem grundlegende Interpretationen etwa des Zweiten Weltkriegs als heroischer Großer Vaterländischer Krieg vorgegeben sind.
Sylvia Sasse: Das hört sich an wie in der Sowjetunion und es sind die belarusischen Historiker:innen selbst, die den Vergleich ziehen. Katsiaryna Kryvichanina schreibt in ihrem Protokoll: „Sofort treten Parallelen aus der jüngsten Vergangenheit vor Augen – der totalitäre sowjetische Staat, in dem das Leben des Einzelnen mit seinem Standpunkt, seiner Meinung völlig wertlos war. Verräter, Spione, gekauft usw.“ Dazu gehört wohl auch, dass es eine zunehmende Einmischung in die Forschungsthemen gibt?
Felix Ackermann: Es gibt ganze Themenfelder, die als vermintes Gelände gelten und in denen seit Jahren die Verteidigung von Qualifizierungsarbeiten als weitgehend unmöglich gilt. So ist es kein Zufall, dass zwar der Weltkrieg ein wichtiger Fluchtpunkt für die Staatsideologie ist, aber nur wenige Dissertationen und fast keine Habilitationen zu seiner Geschichte verteidigt werden. Frühere Fälle der ideologischen Repression bestanden etwa darin, dass bereits abgeschlossene Dissertationen von der Obersten Attestationskommission als fehlerhaft oder methodisch ungenügend abgelehnt wurden. Auf diese Weise musste etwa Iryna Kashtalyan ihre Dissertation über die Folgen des Krieges im Alltag der Bevölkerung ein zweites Mal an der Freien Universität in Berlin verteidigen. Schon vor 2020 musste man am Institut für Geschichtswissenschaften stets aktiv ausloten, wo die Grenzen des Sagbaren verlaufen.
Sylvia Sasse: Was ist seit August 2020 noch hinzugekommen?
Felix Ackermann: Im August 2020 änderte sich ebenjener Raum, in dem jenseits von staatlich kontrollierten Teilöffentlichkeiten die Möglichkeit entstand, einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Es genügte, dass ein Dutzend Wissenschaftler:innen aktiv an den Protesten teilnahm und das öffentlich machte, um die symbolische Ordnung für einige Wochen ins Wanken zu bringen. Sobald eine/r der Kolleg:innen verhaftet wurde, versammelte sich eine Gruppe von Wissenschaftler:innen vor dem Präsidium der Nationalen Akademie der Wissenschaften und protestierte mit direktem räumlichen Bezug zum Arbeitgeber und öffentlich. Weder die Polizei noch die Leitung der Akademie reagierte in den ersten Wochen – sie warteten ab und waren selbst verunsichert. Die jetzt wirksam gewordenen Repressionen gegen die Anführer der Gewerkschaft am Institut für Geschichtswissenschaften sowie diejenigen, die im August und September im Zuge der Proteste verhaftet wurden, sind ganz offensichtlich ein Versuch, die symbolische Ordnung an der Akademie wiederherzustellen, und damit auch den Rahmen der Staatsideologie zu verteidigen.
Sylvia Sasse: Wir haben jetzt schon mehrfach die „Stimmen aus Belarus“ erwähnt, ein Publikationsprojekt auf Facebook, das Übersetzer:innen, Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen und Historiker:innen im August 2020 auf die Beine gestellt haben. Ihr gehört beide zu den Initiant:innen. Was war die Idee dahinter?

Quelle: fb.com/Belarusstimmen
Felix Ackermann: Das Fundament unserer kleinen Plattform steht auf zwei Pfeilern: der Sorge um die Freunde und Kolleg:innen in Belarus sowie der Sensibilität für Inhalte, die in Belarus selbst im tagtäglichen Strom der Gedanken, Analysen und Aufrufe entstehen. Ich denke, dass wir auch ein halbes Jahr nach dem Beginn der Proteste ohne institutionelle Förderung täglich eine Übersetzung teilen, liegt daran, dass Übersetzer:innen mit Wissenschaftler:innen zusammenarbeiten, die selbst zu Belarus geforscht haben. Etwas platt gesagt: Wir leben im Bewusstsein, dass, wenn wir es nicht tun, es niemand anders tun wird.
Sylvia Sasse: Wie haben die deutschsprachige Presse oder auch Institutionen auf die „Stimmen“ reagiert? Greifen sie auf eure Kompetenzen zurück? Einer der Vorwürfe, die während der Proteste im Raum standen, war ja, dass sich in Westeuropa zu wenige für eine Revolution, die sich gegen eine Diktatur richtet, interessieren.
Nina Weller: Ich glaube, uns ist mit der „Stimmen-Seite“ ein Stück weit gelungen, deutschsprachige Leser:innen – auch jenseits der Osteuropa-Netzwerke – für die aktuellen Ereignisse zu sensibilisieren. Das Besondere unserer Seite ist ja, dass wir viel unmittelbarer Einblicke in die aktuellen Geschehnisse geben können, als es den großen Medien möglich ist. Mir hat gefallen, was der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan auf die Frage antwortete, was man zum genaueren Verständnis der Ereignisse in Belarus lesen solle: „Vielleicht ist es in dieser Situation am besten, nicht die Experten und die Politologen zu lesen, sondern die Leute, die direkt an den Ereignissen teilnehmen. Das sind äußerst subjektive, dafür maximal offenherzige Berichte, und ich denke, dass sie die jetzige Situation in Belarus am genauesten charakterisieren. Also soziale Netzwerke, nicht klassische Nachrichten.“ Damit hat er den Charakter der „Stimmen aus Belarus“ auf den Punkt gebracht.
Felix Ackermann: Es gibt immer wieder Situationen, etwa wie jetzt mit den 12 Historiker:innen, die ihre Arbeit an der Akademie der Wissenschaften verloren haben. Für sie ist es besonders wichtig, dass diese Art der Anerkennung und Aufmerksamkeit auch aus dem Ausland kommt. Das ist ein Beispiel dafür, dass es einen Unterschied macht, diese Texte zu übersetzen und online zu teilen.
Sylvia Sasse: Ich finde diesen Punkt sehr wichtig. Die Aufmerksamkeit aus dem Ausland, die öffentliche Solidarität, die Bereitschaft von öffentlichen Institutionen, die Protestierenden zu unterstützen, sorgt für eine minimale Sicherheit. Umgekehrt versucht das System, in alter sowjetischer Tradition, genau diese Unterstützung als Beweis dafür zu sehen, dass die Demonstrationen aus dem Ausland gelenkt werden. Davon darf man sich im Westen auf keinen Fall einschüchtern lassen, denn das zielt direkt auf das Unterlassen von Solidarität und Unterstützung. Ihr unterstützt über Facebook, wie ist denn das Verhältnis von digitaler und analoger Kommunikation während der Proteste?

Quelle: fb.com/Belarusstimmen
Nina Weller: Es ist natürlich problematisch, dass wir die Stimmung im Land, im öffentlichen Raum, im Arbeitsalltag über einen so langen Zeitraum nicht selbst erleben, also auch nur vermittelt beurteilen können. Anderseits bekommen wir gerade in den sozialen Netzwerken, vor allem auf Facebook, eine sehr lebendige und reflektierte intellektuelle Auseinandersetzung über die Einordnung der Gewalt, über das neue zivilgesellschaftliche Engagement und seine möglichen Zukunftsperspektiven mit. Wir sind auch von Ferne Zeugen oder Teilnehmer dessen, wie sich zwischenmenschliche Räume über die Grenzen hinweg erweitern und neu entstehen.
Sylvia Sasse: Was in Belarus passiert, ist selbst aus der Ferne schwer zu ertragen. Ihr steht aber mit den Kolleg:innen und Protestierenden in direktem Kontakt. Wie verändert das den Blick?
Nina Weller: Für mich persönlich war diese Spannung zwischen der Euphorie über die zivilgesellschaftliche Aufbruchstimmung und dem Schock über die Gewalt selbst als Außenstehende teilweise schwer auszuhalten. Beim Übersetzen mussten wir alle, die wir bei den „Stimmen“ aktiv sind, im Laufe der letzten Monate zeitweise mal pausieren, weil die Schilderungen, wie Menschen eingeschüchtert, verprügelt, misshandelt wurden, zu heftig waren oder die Berichte über den rasanten Anstieg der Corona-Infizierten einen fassungslos machten. Irgendwann habe ich einen erschreckenden Effekt festgestellt: Man hat sich an die Verhaftungswellen nach den Sonntagsdemonstrationen, an die Berichte von Verhaftungen und Gewaltanwendungen gewöhnt. Man erwartet, dass es jederzeit auch enge Freunde oder Bekannte treffen könnte, nimmt zur Kenntnis, dass die Pandemie weitgehend ignoriert wird und arrangiert sich mental irgendwie mit dieser Situation. Aus der Gewöhnung muss man ausbrechen und den Blick immer wieder neu justieren. Auch viele Menschen in Belarus haben sich über derartige Gewöhnungseffekte aber auch über Verunsicherungen in ihrem neuen Alltag auf Facebook ausgetauscht.

Quelle: fb.com/Belarusstimmen
Felix Ackermann: Ja, die Dialektik der demonstrativen Solidarität bleibt, aber es gibt noch einen ganz pragmatischen Gedanken dahinter: Belarus liegt an der äußersten Peripherie der Wahrnehmung westeuropäischer Gesellschaften – ob mit Protesten oder ohne. Jede Form der symbolischen und realen Kommunikation macht die Eingebundenheit von Belarus in Europa sichtbar. Das ist eine wichtige Botschaft: Ihr gehört dazu, deshalb sind wir in Gedanken bei Euch. Je größer der zeitliche Abstand, desto größer ist bei mir aber der Zweifel, wie groß die Tiefenschärfe der Momentaufnahmen aus Belarus sein kann, wenn wir von Warschau, Berlin, Dresden und anderen Orten aus über Telegram und Facebook das Geschehen in Belarus verfolgen, ohne reisen zu können. Einerseits findet ein großer Teil der Kommunikation auf Facebook statt – es ist in Belarus gerade wegen der Beschränkungen analoger Räume ein realer Ort für den Austausch. Aber es gibt Grenzen, denn die eigentliche Veränderung erfolgte nicht auf Facebook, sondern in den Hinterhöfen, in den Aufgängen der Neubaublöcke und in den Straßen, durch die nun jeden Sonntag und auch an anderen Wochentagen Menschen ziehen, um deutlich zu machen: „Diese Stadt gehört uns!“ Den freien Gedankenaustausch haben sie – viel offener übrigens als Kolleg:innen aus West-Europa – im Internet auch zuvor schon praktiziert.
Sylvia Sasse: Über welche Kanäle wird denn kommuniziert?
Felix Ackermann: Der Telegram-Kanal Nexta ist ein zentrales Medium der Mobilisierung durch das redaktionell getaktete Teilen von Videos aus ganz Belarus. Aber es ist auch ein Medium, in dem sich die Sprache – stets als Reaktion auf das steigende Maß an Repression – zunehmend radikalisierte. Die politischen Gegner werden etwa auf Nexta längst nur noch als Lukaschisten, Besatzer, Usurpatoren und zunehmend als Faschisten bezeichnet. Wenn ich heute Master-Student wäre, würde ich mich umgehend dran machen, eine Arbeit über die Veränderung der Sprache zu schreiben. Der Vorteil: Man kann das auch aus dem Ausland machen. Der Nachteil: Eine Erklärung für die anhaltende Stabilität des Sicherheitsapparats in Belarus wird durch die Analyse von Internetressourcen nicht gefunden.
Sylvia Sasse: Was würdet ihr euch von westeuropäischen Universitäten sonst noch wünschen?

Quelle: fb.com/Belarusstimmen
Nina Weller: Im akademischen Bereich ist bereits eine breite Initiative zur Unterstützung repressierter belarusischer Wissenschaftler:innen und Studierenden, u.a. durch das „DGO-Förderprogramm Belarus“ angelaufen. Einige Universitäten im deutschsprachigen Raum haben in Windeseile Online-Vorlesungsreihen und Gastaufenthalte von Kolleg:innen und Kommiliton:innen in die Wege geleitet, durch die eine fachliche Vernetzung in Forschung und Lehre auch für die Zukunft konkrete Perspektiven bekommt. Das könnten noch viel mehr Universitäten und Institutionen auch im kulturellen Bereich anbieten.
Felix Ackermann: Damit es langfristig eine engere Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen aus Belarus geben kann, müsste Belarus selbst ganz normal als Teil von Europa wahrgenommen werden. Und selbst wenn dies bereits geschehen ist, liegt die besondere Herausforderung darin, die Schnittstellen zu finden, an denen Fragen entstehen können, die für beide Seiten relevant sind. Jede vergleichende Analyse über den Umgang mit der Pandemie in Europa sollte Belarus als Lackmus-Test für die eigenen Thesen in den Blick nehmen. Das geht nur mit Kolleg:innen in Belarus.