Die Schweiz stimmt über ein neues Jagdgesetz ab, das den Wolf präventiv zum Abschuss freigeben will. Es wäre Zeit, unser Verhältnis zu wilden und domestizierten Tieren, das aus dem späten 18. Jahrhundert stammt, zu überdenken und zu revidieren.

  • Aline Vogt

    Aline Vogt ist Doktorandin am Departement Geschichte der Universität Basel und forscht zur geschlechtergeschichtlichen Dimension von Mensch-Tier-Beziehungen während der französischen Aufklärung.

Die Schweiz streitet über ein neues Jagd­ge­setz und damit über die Frage, welche Tiere unter Schutz zu stellen sind und welche nicht. Der Wolf soll nach dem Gesetz­ent­wurf, über den am 27. September entschieden wird, auf eine Liste von Tier­arten gesetzt werden, die eigent­lich geschützt sind, aber vorbeu­gend „regu­liert“, das heißt zum Abschuss frei­ge­geben werden können. Dies gilt dann, wenn ein Tier ein „auffäl­liges“ Verhalten zeigt und droht, dem Menschen zu schaden, etwa durch das Reißen von Schafen. Die Rolle, die der Mensch inner­halb einer solchen „Regu­lie­rung“ der Natur einnehmen soll und darf, die Bedürf­nisse der Bauern und Bäue­rinnen, sowie die Jagd an sich sind Themen, deren histo­ri­sche Dimen­sion in den Debatten oft zu kurz kommen. Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass das Recht des Menschen, Tiere über­haupt zu regu­lieren, nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Für die Legi­ti­mie­rung des mensch­li­chen Eingriffs in die Natur spielen viel­mehr histo­risch entstan­dene Ideen von mensch­li­cher und männ­li­cher Über­le­gen­heit eine zentrale Rolle. Mit den aufkom­menden Natur­wis­sen­schaften im 18. Jahr­hun­dert wurden dazu Argu­men­ta­ti­ons­muster geschaffen, die noch immer im Hinter­grund der heutigen Debatte stehen.

Die Jagd im 18. Jahr­hun­dert: Verhand­lung von Herr­schaft und Männlichkeit

Im 18. Jahr­hun­dert wurde die Jagd in neuer Weise disku­tiert. Denker*innen der Aufklä­rung übten scharfe Kritik daran, dass die Jagd vieler­orts ein Privileg des Adels darstellte: Das Wild, das für die könig­liche Jagd benö­tigt werde, fresse den Bäuer*innen das Korn weg. Gleich­zeitig war diesen und allen andren Armen die Jagd verboten, obwohl sie auf Wild als Nahrungs­er­gän­zung oder auf das Jagen zum Schutz ihrer Felder ange­wiesen waren. Für den Adel hingegen war die Jagd keine Frage der Subsis­tenz, sondern des Vergnü­gens und des höfi­schen Rituals. Welchen Stel­len­wert die Kritik an der Jagd als Vergnügen der gesell­schaft­li­chen Elite besaß, zeigt sich darin, dass die Abschaf­fung des Jagd­pri­vi­legs am Ende des Jahr­hun­derts zu einer zentralen Forde­rung der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion wurde.

John Wootton: Viscount Weymouth’s Hunt, 1733-36 ; Quelle: tate.org.uk

Bei dieser Kritik ging es aber nicht nur um den Ausschluss von einer stän­di­schen, sondern auch von einer männ­li­chen Praxis. Obwohl in der Vormo­derne auch adlige Frauen jagten, galt die Jagd als krie­ge­ri­sche Übung in Frie­dens­zeiten, die insbe­son­dere Männer auf das Töten im Kriegs­fall vorbe­reiten sollte. Mögli­cher­weise wurde die Jagd gerade deshalb zu einem so großen Thema der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion, weil sie mit Stärke und Männ­lich­keit verbunden war. Ein Ausschluss von dieser Praxis musste gerade für nicht­ad­lige Männer eine Demü­ti­gung bedeuten.

Als die Jagd von einer adligen zu einer zuneh­mend bürger­li­chen Praxis wurde, verschwand diese männ­liche Macht­sym­bolik nicht, sondern wurde aufgrund der modernen Geschlech­ter­tren­nung eher noch verstärkt. So ist es viel­leicht nicht erstaun­lich, dass es auch heute noch poli­ti­sche Posi­tionen gibt, die eine Befür­wor­tung von patri­ar­chalen Tradi­tionen, der Armee und der Jagd vereinen. So fordert etwa der SVP-Politiker Franz Ruppen eine starke Armee und die Ausrot­tung des Wolfes. Wenn er davon spricht, „Herr im Haus“ bleiben zu müssen (in Bezug auf die Asyl­po­litik) bedient er sich zudem einer patri­ar­chalen Sprache. Die SVP hat sowohl für das neue Jagd­ge­setz als auch für die Beschaf­fung neuer Kampf­flug­zeuge die Ja-Parole beschlossen, den Vater­schafts­ur­laub, ein zentrales femi­nis­ti­sches Anliegen der Gegen­wart, lehnt sie hingegen ab.

Das Gleich­ge­wicht in der Natur bewahren: Der Mensch im Zentrum

Inner­halb des Jagd­dis­kurses der Aufklä­rung wurden aber auch Ideen über das „Gleich­ge­wicht“ in der Natur verhan­delt, das wir heute als Ökosystem bezeichnen würden. So gab es schon im 18. Jahr­hun­dert in den Jagd­ge­bieten Schon­zeiten, die sicher stellen sollten, dass für den Adel immer genug Wild vorhanden war. Dabei sollte eine Propor­tio­na­lität zwischen den Tier­arten erhalten bleiben, wie der Artikel „forêt“ der Ency­clo­pédie betont, einem berühmten Nach­schla­ge­werk der Aufklä­rung. Gäbe es zu wenig natür­liche Feinde bei zu großen Wild­be­ständen, drohe das Wild die Keime des jungen Waldes abzu­fressen. Dasselbe Argu­ment führen auch heute Förster*innen an, um sich für die Erhal­tung der Wolfs­be­stände einzusetzen.

Dieser Diskurs über die „Regu­lie­rung“ der Natur war und ist nicht frei von Hier­ar­chien, die zwischen Mensch und Natur aufge­baut wurden. Die Vorstel­lung, dass der Mensch zum Eingriff in die Natur berech­tigt sei, entspringt einem tief in unserer Geschichte verwur­zelten Anthro­po­zen­trismus – einem Welt­bild, in dem sich alles erst einmal um den Menschen dreht. So herrschte im euro­päi­schen Chris­tentum lange die Idee, dass Gott den Menschen als seinen Stell­ver­treter in der Welt einge­setzt habe. Als solcher konnte er für den Schutz der Natur verant­wort­lich gemacht werden, durfte das Tier aber auch für all seine Bedürf­nisse nutzen.

Quelle: gazette-drouot.com

Mit der zuneh­mend reli­gi­ons­kri­ti­schen Haltung im 18. Jahr­hun­dert wurde diese gött­liche Legi­ti­mität ersetzt durch eine natur­wis­sen­schaft­liche Begrün­dung, in der der Mensch als angeb­lich einziges vernunft­be­gabtes Wesen Vorrang vor allen anderen Wesen hatte. So meint etwa der Natur­phi­lo­soph Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788), der mit seinem 44-bändigen Werk über die Natur­ge­schichte als exem­pla­risch für das aufklä­re­ri­sche Natur­bild gelten kann: „Es ist durch die Über­le­gen­heit seiner Natur, durch die der Mensch herrscht und befiehlt, er denkt und ist deshalb der Herr über die Wesen, die nicht denken.“

Der Geset­zes­ent­wurf für das neue Jagd­ge­setz spie­gelt diese anthro­po­zen­tri­sche Haltung. Wie bei Buffon wird ange­nommen, dass der Mensch quasi per Natur dazu berech­tigt sei, über das Tier zu entscheiden, weil er die dafür nötige Ratio­na­lität besitzt und weil es seinem Nutzen dient. So wird dem Menschen zuge­traut, zu bestimmen, wann ein „auffäl­liges“ Verhalten beim Wolf vorliegt und wann der Nutzen für den Menschen vor dem Arten­schutz über­wiegt. Von den Gegner*innen des Gesetzes wurde darauf hinge­wiesen, dass diese Formu­lie­rung zu vorei­ligem Abschuss einlädt, denn was der Mensch als auffällig inter­pre­tiert, muss nicht tatsäch­lich eine Gefahr darstellen. Dass der Wolf trotzdem ins Visier des neuen Gesetzes gerät, liegt auch an einer spezi­fi­schen Angst vor dem Tier, die sich eben­falls weit zurück­ver­folgen lässt.

Gute Hunde – böse Wölfe

Buffon, Histoire natu­relle, le loup noir; Quelle: information-documents.com

Auch im 18. Jahr­hun­dert gab es die Gefahr, dass Wölfe Schafe rissen; ein Problem, das einen deut­lich größeren Bestand­teil der Bevöl­ke­rung betraf als heute. Dass damals wie heute der Fokus in der Debatte auf einer Bekämp­fung des Wolfes und nicht auf der prekären Situa­tion der Bäuer*innen liegt, hat auch mit einem spezi­fi­schen Bild des bösen Wolfes zu tun. Dieses geht weiter zurück als auf die Aufklä­rung, hier kommen aber einige inter­es­sante Aspekte hinzu. Denn in einer Gesell­schaft, die den Nutzen des Tieres an erste Stelle stellt, können wilde Tiere nur verlieren. So schreibt Buffon über den Wolf, es gäbe nichts Gutes an ihm, außer seiner Haut. Es ist also nicht nur so, dass der Wolf dem Menschen schadet, er bringt ihm vor allem keinen Nutzen:

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Unan­ge­nehm in allem, mit nieder­träch­tiger Miene, wildem Aussehen, furcht­ein­flö­ßender Stimme, uner­träg­li­chem Geruch, perverser Natur und wilden Sitten ist er wider­lich zu seinen Lebzeiten und unnütz nach seinem Tod.

In diesem vernich­tenden Urteil zeigt sich Buffons Bild vom bösar­tigen Charakter des Wolfes, dem er gezielt den gutmü­tigen Hund entge­gen­hält. Obwohl sie sich so sehr glichen, seien sie charak­ter­lich grund­ver­schieden: Während der Hund sich leicht zähmen ließe, sei der Wolf unzähmbar und asozial. Diese Unter­schei­dung lässt sich mit dem aufklä­re­ri­schen Anliegen erklären, die Natur durch den Menschen beherrschbar zu machen. Dieses Ziel verfolgte auch Buffon. Dass ihm dabei ausge­rechnet ein Tier einen Strich durch die Rech­nung machte, das dem Hund so ähnlich war, kann den großen Natur­phi­lo­so­phen nur geär­gert haben. Schließ­lich verkör­perte der Hund das Zähmungs-Erfolgsmodell des Menschen schlechthin. Buffon berichtet auch von eigenen geschei­terten Versu­chen, den Wolf zu domes­ti­zieren, was seine Anti­pa­thie noch gestei­gert haben mochte.

Der Wolf fiel bei Buffon einer Tren­nung zwischen dem wilden und dem domes­ti­zierten Tier zum Opfer, die im 18. Jahr­hun­dert inten­si­viert wurde. Während in dieser Sicht­weise das domes­ti­zierte Tier als Verbün­deter des Menschen galt, wurde das wilde Tier zum Feind, eben gerade deshalb, weil es sich nicht domes­ti­zieren ließ. Dass aber auch die Bezie­hung zu Schafen, Kühen etc. keines­wegs immer auf harmo­ni­schem Einver­nehmen beruhte – schließ­lich wurden die Tiere am Ende wohl gegen ihren Willen geschlachtet ­– wurde in diesen Über­le­gungen unter­schlagen. Die wider­sprüch­liche Unter­schei­dung, die unsere eigene Zeit in der Bewer­tung und Behand­lung von Nutz-, Haus- und Wild­tieren macht, ist auf dieses Welt­bild zurück­zu­führen, das Tiere nach ihrem Nutzen und Gehorsam dem Menschen gegen­über einteilt.

Welche Rechte für welche Tiere?

Dennoch, die Aufklä­rung wäre nicht die Aufklä­rung, hätte es nicht auch kriti­sche Stimmen zur unein­ge­schränkten Herr­schaft des Menschen über die Tiere gegeben. So weist etwa Jean-Jacques Rous­seau darauf hin, dass Tiere zu Unrecht vom Natur­recht ausge­schlossen würden, nur weil sie die mensch­li­chen Gesetze nicht verstünden. Viel­mehr sollten sie auf der Basis ihrer Leidens­fä­hig­keit das Recht erhalten, zumin­dest „nicht unnö­ti­ger­weise“ miss­han­delt zu werden. Rous­seau denkt seine Tier­ethik aller­dings nicht konse­quent zu Ende, sondern erlaubt es dem Menschen immer noch, sein Verhältnis zu Tieren seinem eigenen Nutzen anzu­passen wo „nötig“. Insge­samt ist also auch Rous­seau ein Kind seiner Zeit, eine Zeit, in der der mensch­liche Nutzen im Zentrum steht.

Die aktu­elle Debatte wäre aller­dings ein guter Anlass, kriti­sche Ansätze aus der Aufklä­rung, wie das Krite­rium der Leidens­fä­hig­keit, weiter­zu­denken. So sollten wir uns fragen, weshalb Wolf, Hund und Schaf einen so unter­schied­li­chen Status in unseren poli­ti­schen Debatten bekommen, obwohl sie eine ähnliche Leidens­fä­hig­keit haben. Einer­seits ist die Lebens­rea­lität der Bauern und Bäue­rinnen in diesen Fragen ernst zu nehmen. Ansonsten würden wir riskieren, in einen hier­ar­chi­schen Zustand ähnlich dem Ancien Régime zurück­zu­fallen, in der eine Elite das Tier als Vergnü­gungs­ob­jekt betrachtet und die Erfah­rungen und Inter­essen der länd­li­chen Bevöl­ke­rung dabei keinen Platz haben. Ande­rer­seits müssen wir aufhören, so zu tun, als sei der Wolf der „Feind“, wir aber die Beschützer*innen von Schafen und Wild. Die histo­risch gewach­sene Tren­nung zwischen verbün­detem Nutz- und feind­li­chem Wild­tier verschleiert nur den Umstand, dass wir selbst eben­falls nicht zimper­lich mit Schafen, Rehen und anderen Tieren umgehen.

Das Problem der Städter*innen in dieser Frage ist daher nicht, oder zumin­dest nicht nur, den Wolf zu vernied­li­chen, sondern viel­mehr, das Schaf zu kommo­di­fi­zieren. Im städ­ti­schen Alltag ist das Schaf ein Produkt, das in aufklä­re­ri­scher Manier den größt­mög­li­chen Nutzen einbringen soll. Eine Politik, die eine Land­wirt­schaft im Kompro­miss mit den Wild­tieren ermög­li­chen soll und gleich­zeitig die Bauern und Bäue­rinnen nicht außen vorlässt, kann aber nicht immer nur einem Kosten-Nutzen-Prinzip folgen. Den Umgang mit dem Wolf durch finan­zi­elle Unter­stüt­zung und eine Verbes­se­rung des Herden­schutzes zu regeln ist sicher eine aufwen­di­gere Ange­le­gen­heit, als das Problem mit der Flinte zu lösen. Es würde aber bedeuten, dass wir versu­chen, die Natur außer­halb ihres ökono­mi­schen Nutzens für den Menschen zu verstehen und unsere eigenen Prak­tiken, Ängste und Grenz­zie­hungen zu hinter­fragen, die noch immer auf einem anthro­po­zen­tri­schen und andro­zen­tri­schen Welt­bild beruhen. Dies bedeutet viel­leicht manchmal, die Kontrolle über unsere Umwelt ein Stück weit abzu­geben. Es bedeutet aber auch, unser Denken voran­zu­treiben und zu versu­chen, Tiere wie den Wolf mit ihren jeweils spezi­fi­schen Verhal­tens­weisen ernst zu nehmen, ohne uns zu sehr von histo­ri­schen Schre­ckens­bil­dern irri­tieren zu lassen.