
US-amerikanische Kinder sind echten Gefahren ausgesetzt. Doch „Indoktrination“ durch „woke“ Lehrer:innen gehört nicht dazu.
Schon im Kindergarten müssen sie Active-Shooter-Drills über sich ergehen lassen und lernen, in Deckung zu gehen. 2018 waren erstmals Schusswaffen und nicht mehr Verkehrsunfälle die häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen. Kinderarbeit ist auf dem Vormarsch, und manche Staaten lockern diesbezüglich sogar die Vorschriften. Nach Angaben des Children’s Defense Fund lebt mehr als eines von sieben Kindern in Haushalten, die nicht ausreichend zu essen haben; die Hälfte davon ist schwarz oder hispanisch. Fast eines von sieben Kindern lebt in Armut; 71 Prozent davon sind Kinder of Color.
Real Cancel Culture

George M. Johnson, All Boys Aren’t Blue
A Memoir-Manifesto
(2020), banned wegen wegen seines LGBTQ-Inhalts und sexuell expliziter Themen.
Doch die Republikaner:innen reagieren auf diese systematische Gefährdung von Kindern weder durch Investitionen in Kinderhilfsprogramme noch durch ein Verbot von Schusswaffen. Stattdessen werden Bücher verboten, in denen LGBTQ+-Figuren oder People of Color vorkommen, Bücher, die Rassismus thematisieren, oder Bücher, die Informationen über Abtreibung, Schwangerschaft oder sexuelle Übergriffe enthalten. Im März 2023 meldete die American Library Association die höchste Zahl an Verbotsversuchen, seit sie vor über zwei Jahrzehnten mit der Erfassung von Zensurdaten begann. Die „1269 Anträge auf Zensur von Bibliotheksbüchern und -ressourcen im Jahr 2022 […] sind fast doppelt so hoch wie die 729 Anfechtungen von Büchern, die im Jahr 2021 gemeldet wurden.“

Toni Morrison, The Bluest Eye ((1970), banned, weil er den sexuellen Missbrauch von Kindern darstellt und als sexuell explizit angesehen wurde.
Von den Republikaner:innen kontrollierte staatliche Regierungsstellen und Gemeindeverwaltungen haben ebenfalls verfügt, dass Rasse, Rassismus, Geschlecht, LGBTQ+-Rechte oder US-amerikanische Geschichte nicht unterrichtet werden dürfen. So berichtet PEN America, dass im August 2022 die Zahl der „im Bildungsbereich eingereichten Maulkorberlasse“ im Vergleich zum Vorjahr um 250 Prozent gestiegen ist. Sie zielten stärker auf die Hochschulbildung ab (aber auch auf Primar- und Sekundarschulbildung) und sahen eher Strafen vor – diese reichten von hohen Geldstrafen über Entlassungen bis hin zur Strafanzeige. Und solche Maulkorberlasse wurden im Jahr 2022 in 36 Staaten eingeführt, während es im Jahr 2021 nur 22 waren.
Die Demokraten standen nur hinter einem einzigen der insgesamt 137 im Jahr 2022 im Bildungsbereich verfügten Erlasse.
Es stimmt zwar, dass es sich bei den Versuchen zu regulieren, was Kinder und Jugendliche lesen, um ein ideologieübergreifendes Phänomen handelt. Grob gesagt: Während Liberale junge Leser:innen vor rassistischen Büchern schützen möchten, wollen Konservative sie vor dem Wissen um die Existenz des Rassismus schützen und setzen sich gleichzeitig dafür ein, dass rassistische Bücher auf dem Lehrplan bleiben. Liberale halten Sexualkunde für sinnvoll, während Konservative Kinder und Jugendliche davor schützen wollen, zu lernen, wie die menschliche Fortpflanzung funktioniert.

Mike Curato, Flamer (2020), banned wegen des homosexuellen Protagonisten.
Diese beiden politischen Positionen unterscheiden sich gleich in doppelter Hinsicht. Erstens wird der durch die Erfahrung von Rassismus, Sexismus, Homophobie oder Transphobie ausgelöste Schmerz nicht von allen gleichermaßen erfahren: Wer zur Zielscheibe von Intoleranz und Fanatismus geworden ist, spürt den Schmerz viel tiefer. Obwohl es pädagogisch wertvoll ist, im Kampf gegen den Hass rassistische Bücher zu lesen, entschuldigen ihre konservativen Verteidiger diese Bücher unter dem Vorwand, sie entsprächen einfach „ihrer Zeit“ und „man habe damals so gedacht“. Doch erstens (und daran erinnert uns Robin Bernstein) denken nicht alle Menschen einer Epoche gleich und zudem wurden auch damals Menschen verletzt, wenn sie Opfer von Intoleranz wurden. Schlimmer noch: Die verlogene Behauptung, die Mächtigen seien heutzutage eine verfolgte Minderheit, wird zum Vorwand genommen, um den Multikulturalismus zum Sündenbock zu machen und diverse Bücher zu verbieten.

Trung Le Nguyen, The Magic Fish (2020), banned wegen des homosexuellen Protagonisten.
Doch im Gegensatz zu Büchern, die Intoleranz und oder Geschichtslöschung fördern, helfen Bücher, die die Errungenschaften von Unterdrückten aufzeigen, die veranschaulichen, dass Rassismus systemisch ist, oder die die Funktionsweise des menschlichen Körpers erklären, allen Kindern und Jugendlichen. Junge Menschen, die einer Minderheit angehören, sehen sich in ihrer Menschlichkeit bestätigt, wenn sie sich selbst in Literatur und Geschichte wiederfinden, und es zeigt ihnen, dass ihre Geschichten wichtig sind. Mit anderen Leben als ihrem eigenen konfrontiert zu sein, führt anderen wiederum vor Augen, dass die Welt sich nicht nur um sie dreht. Wissen hilft allen Kindern und Jugendlichen, in Angelegenheiten, die sie, ihre Klassenkamerad:innen und die Menschen in ihrer Gemeinschaft betreffen, bessere Entscheidungen zu fällen.
Was die Regulierung von Kinder- und Jugendbüchern betrifft, unterscheiden sich US-amerikanische Rechte und Linke zweitens dadurch, dass die Rechten dies einfach besser beherrschen. Aller erzeugten Hysterie um die sogenannte „Cancel Culture“ zum Trotz waren die Liberalen in der Vergangenheit in puncto Zensur eher erfolglos.
Geschichte des konservativen Zensurfiebers
Das derzeitige Zensurfieber der Amerikaner:innen reicht fast dreihundert Jahre in die Vergangenheit zurück. Frühe Bildungsverbote betrafen nicht (wie heute) die Vermittlung der schwarzen Geschichte, sondern die Alphabetisierung der Afroamerikaner:innen. Der „Negro Act of 1740“ verhängte in South Carolina im Namen der „ordnungsgemäßen“ Unterwerfung und des Gehorsams“ der versklavten Bevölkerung und zur Wahrung der „öffentlichen Ruhe und Ordnung“ Geldstrafen in Höhe von 100 Pfund, wenn Sklaven im Schreiben unterrichtet wurden. Vor dem amerikanischen Bürgerkrieg erließen mit Ausnahme von Maryland und Kentucky alle Südstaaten im 19. Jahrhundert Gesetze, die es illegal machten, Schwarzen – freien wie versklavten – das Lesen und Schreiben beizubringen.

PEN USA, Quelle: pen.org
Auch der erfolgreichste professionelle Zensor der Vereinigten Staaten, Anthony Comstock, nutzte später im 19. Jahrhundert Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, um seine Bücherverbote durchzusetzen. Im Ersten Jahresbericht der New Yorker Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters von 1875 unterstellte Comstock, dass Ausländer und Einwanderer die Kinder (der weißen Oberschicht) anfällig für Pornografie und Obszönität machten. Um seinen Standpunkt zu belegen, stellte er sogar eine Liste der Verhafteten zusammen:
Von der Gesamtzahl der verhafteten Personen waren 46 Iren, 34 Amerikaner, 24 Engländer, dreizehn Kanadier, drei Franzosen, ein Spanier, ein Italiener, ein N… und ein polnischer Jude, was zeigt, dass ein großer Teil der in diese schändlichen Machenschaften verwickelten Personen keine amerikanischen Staatsbürger sind.
In seinem Zweiten Jahresbericht bestätigt er diese Feststellung: „Es ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass wir einen großen Teil dieser Demoralisierung dem Import von Kriminellen aus anderen Ländern verdanken.“
Nicola Beisel schreibt in Imperiled Innocents: Anthony Comstock and Family Reproduction in Victorian America: „Indem er den Einwanderern die Verbreitung von Obszönität anlastete, verwendete Comstock Ideologien, die bereits über Städte und ihre Bewohner kursierten, und konstruierte derart Obszönität als Bedrohung.“ Er behauptete, im Namen des Schutzes von „Kindern“ zu handeln, doch sein Augenmerk galt nur männlichen Kindern aus der weißen Oberschicht – deren zukünftige politische Macht er erhalten wollte. Und was war seiner Meinung nach obszön? Alles, was mit dem Körper zu tun hatte, insbesondere dem weiblichen Körper, der menschlichen Fortpflanzung und Verhütung. Der Comstock Act von 1873 erweiterte das föderale Obszönitätsgesetz von 1865, das besagte, dass „keine obszönen, unzüchtigen oder lasziven Bücher, Broschüren, Bilder, Drucke oder andere Veröffentlichungen vulgären und unanständigen Charakters mit der Post versendet werden dürfen“.

PEN USA, www.pen.org
Mit der Durchsetzung dieses Gesetzes war der neue US-Postinspektor Anthony Comstock betraut. Das Gesetz legte nicht fest, was genau als „obszön, unzüchtig oder lasziv“, „unanständig“ und „unmoralisch“ gelten sollte. Also entschied Comstock selbst. Wie die Historikerin Marjorie Heins berichtet, verwendeten die Vollstrecker dieses Zensurgesetzes von den 1870er Jahren bis in die 1930er Jahre hinein extrem „weit gefasste Kriterien“, um „zahllose literarische Werke zu verbieten“ – und das praktisch ohne Eingreifen der Gerichte.
Backlash durch Verbote
Warum beginnt dieser Prozess in den 1870er Jahren? Er entstand als Gegenreaktion auf die politischen Errungenschaften der Afroamerikaner:innen und der Frauen. Zur Zeit der Reconstruction war es schwarzen Männern erlaubt, zu wählen und für politische Ämter zu kandidieren. Und das taten sie auch. Die erste Frauenbewegung kämpfte für das Frauenstimmrecht. Das Machtmonopol der weißen Eliten geriet unter Druck. Durch die Förderung rassistischer und sexistischer Stereotype und die Schaffung von Gesetzen, die die amerikanischen Bürger vor diesen imaginären Gefahren „schützen“ sollten, fanden die weißen Männer also Mittel und Wege, die Kontrolle wiederzuerlangen.
So waren beispielsweise bis in die 1850er Jahre Abtreibungen in der ersten Hälfte der Schwangerschaft in fast allen US-Bundesstaaten legal. 1870 war sie zwar noch üblich, doch zu diesem Zeitpunkt war die Abtreibung – wie Nicola Beisel schreibt – „zum Symbol für den Zusammenbruch der Zivilisation geworden“. Ein ziemlicher Wandel in nur zwanzig Jahren! Das Wort „Abtreibung“ wird in den Paragrafen des Comstock Act von 1873 gleich fünfmal erwähnt. Und noch heute berufen sich die republikanischen Attorneys General bei ihren Bemühungen, den Verkauf der Abtreibungspille Mifepriston zu verhindern, auf den Comstock Act. Unter ihrem Druck willigte Walgreens ein, die Pille in 21 Bundesstaaten nicht zu vertreiben, obwohl Abtreibung in einigen Staaten weiterhin legal ist. Seit der Oberste Gerichtshof der USA im Juni 2022 das Urteil Roe vs. Wade gekippt hat, ist Abtreibung in zwölf US-Bundesstaaten illegal, und weitere werden wahrscheinlich folgen.
Auch den aktuellen Bestrebungen, multikulturelle Kinder- und Jugendbücher zu kriminalisieren, gehen zahlreiche Präzedenzfälle voraus, die bis zu dem Zeitpunkt zurückreichen, als die Bewegung für diverse Bücher – heute am sichtbarsten verkörpert durch die Organisation We Need Diverse Books – erstmals eine kritische Masse erreichte.
Von 1920 bis 1921 war W.E.B. Du Bois Mitherausgeber von The Brownies Book, einer Monatszeitschrift „für die Kinder der Sonne“, in der die Gedichte von Langston Hughes erstmals veröffentlicht wurden. Sein Zeitgenosse, der Historiker Carter G. Woodson, vertrat die Meinung, jungen Schwarzen müsste Geschichte wahrheitsgetreu vermittelt werden. Da das (weiße) Verlagswesen die Leistungen der Afroamerikaner:innen ignorierte, gründete Woodson 1920 den Verlag Associated Publishers, der 1922 sein Lehrbuch The Negro in Our History für Highschool-Schüler veröffentlichte.
Wie Ibram X. Kendi kürzlich in The Atlantic schrieb, entschieden sich die Lehrer der Negro Manual and Training High School in Muskogee, Oklahoma, im Jahr 1925 für Woodsons Buch als Lehrbuch. Wie Woodson im Vorwort schreibt, besteht das Ziel des Buches darin, „dem Durchschnittsleser […] die Geschichte der Vereinigten Staaten so darzustellen, wie sie durch die Anwesenheit des N… in diesem Land beeinflusst wurde“. Auf diese Weise, so schrieb er, würde „gezeigt“, was schwarze Amerikaner „zur Zivilisation beigetragen haben“. Daraufhin behaupteten die weißen Suprematisten in der Schulbehörde, Woodsons Buch sei „klanfeindlich“, und statuierten, es dürften in Schulen weder „klanfeindliche noch klanfreundliche“ Bücher eingeschleust werden. Wie Kendi bemerkt, „verbot die Schulbehörde das Buch. Sie beschlagnahmte alle Exemplare. Sie bestrafte die Lehrer. Sie erzwang den Rücktritt des Schuldirektors.“ Als Reaktion darauf rief Carter G. Woodson 1926 die Negro History Week ins Leben, aus der rund fünfzig Jahre später der Black History Month werden sollte.
Die „pro- oder anti-Klan“-Begründung der Schulbehörde von Oklahoma aus dem Jahr 1925 hallt auch noch in der Sprache von Floridas Stop W.O.K.E. Act nach. Der Text vollzieht eine ähnliche Wendung, da er eine multikulturelle Sprache gegen den Multikulturalismus einsetzt. Das Gesetz leugnet die Existenz struktureller Ungleichheiten und verbannt die Vorstellung aus dem öffentlichen Schulwesen, dass „eine Person aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer nationalen Herkunft persönliche Verantwortung für Handlungen trägt, die in der Vergangenheit von anderen Mitgliedern derselben Rasse, Hautfarbe, nationalen Herkunft oder desselben Geschlechts begangen wurden und für die sie Schuldgefühle, Ängste oder andere Formen psychischen Leids empfinden muss.“
Dieses Gesetz ist die logische (oder unlogische) Schlussfolgerung dessen, was Eduardo Bonilla-Silva in seinem Buch Racism without Racists als farbenblinden Rassismus bezeichnet. Deshalb zitieren weiße Rassisten Dr. Martin Luther Kings Aussage, er wünsche sich, dass seine Kinder „nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden sollten“ – doch sie zitieren eben nur diese eine Zeile, ohne sie in ihren größeren Kontext einzubetten, in dem King den strukturellen Rassismus in den USA anklagt.
Diese Variante eines farbenblinden Rassismus schleicht sich in das Gesetz aus Florida durch die (möglicherweise) gut gemeinte Vorstellung ein, race könne wie durch Zauberhand unsichtbar gemacht werden – eine Vorstellung, die in US-amerikanischen Schulen weit verbreitet ist. Dies mag gut gemeint sein, denn natürlich sollten Menschen nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden. Dennoch ist die Aussage falsch, da race nicht mit Hautfarbe gleichgesetzt werden kann. Race ist, wie Richard Delgado und Jean Stefancic schreiben, „Produkt des sozialen Denkens und der sozialen Beziehungen. Race ist nicht objektiv, inhärent oder feststehend und entspricht keiner biologischen oder genetischen Realität; vielmehr ist race eine Kategorie, die eine Gesellschaft erfindet, manipuliert oder aufhebt, wenn es ihr passt“.
Zweitens ist die Aussage „I don’t see race“ gefährlich, da sich die Frage stellt, wie wir, wenn wir „race nicht sehen“, Rassismus überhaupt bemerken und bekämpfen können? Wie Bonilla-Silva schreibt, „dient der farbenblinde Rassismus heute als ideologisches Rüstzeug eines verdeckten und institutionalisierten Systems“ rassistischer Unterdrückung. Und „er trägt völlig unauffällig zur Aufrechterhaltung des weißen Privilegs bei, da er weder diejenigen benennt, die er unterwirft noch diejenigen, die er bevorteilt“.
Angstförderung
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird die Strategie, das Böse und Verletzende als Sicherheit auszugeben, von der politischen Rechten in den USA dazu verwendet, um den Zugang zu Wissen einzuschränken. Zunächst erfindet oder fördert eine weiße Person (in der Regel ein Mann) durch den Rückgriff auf bestehende Vorurteile eine Angst oder ein Konglomerat von Ängsten. Verstärkt man die Ängste der Menschen, sind sie leichter manipulierbar, und die Förderung eines gemeinsamen Hassobjekts lässt um diesen vermeintlichen Feind herum eine Gemeinschaft entstehen. Zweitens: Nachdem die öffentliche Angst vor der Bedrohung durch einen kulturellen „Anderen“ (Frauen, Schwarze, Einwanderer, Jugendliche) verstärkt wurde, bietet die weiße Person an, das von ihr erfundene „Problem“ zu lösen. Diese Lösung richtet die Macht des Staates gegen die Minderheit oder die Minderheiten, die zum Sündenbock gemacht wurden, und verschafft ihren (in der Regel mehrheitlich weißen und mehrheitlich männlichen) Anhängern ein Gefühl der Macht – selbst wenn dieser Machtzuwachs eher eine gemeinsame emotionale Erfahrung als einen messbaren materiellen Gewinn darstellt.
Heute werden Bücher über die Geschichte der People of Color, der Frauen und von LGBTQ+-Personen aus drei Gründen verboten. Erstens: Wissen ist Macht. Wer seine Geschichte kennt, entwickelt ein Gefühl der Zugehörigkeit und erhält Handlungsspielraum. Wenn Menschen, deren Geschichte nicht in Geschichtsbüchern steht, ihre Geschichte kennen, wenn sie erfahren, was ihre Vorfahren in einem System erreicht haben, das eigentlich auf ihr Scheitern ausgerichtet war, ist dies sogar noch wirkungsvoller.

Jerry Craft, New Kid (2019), banned, weil es „schädliche Inhalte“ wie die Critical Race Theory beinhaltet.
Ein zweiter Grund, weshalb Bücher über historische Randgruppen aus den Bibliotheksregalen entfernt werden, ist, dass ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit Schuldgefühle erzeugt. Genau das räumt auch Floridas Stop W.O.K.E. Act ein, da das Gesetz Diskussionen über race, Geschlecht oder Nationalität verbietet, die „ein schlechtes Gewissen, Ängste oder andere Formen psychologischer Belastung“ hervorrufen könnten, und jede Anerkennung der Tatsache ausschließt, dass es unbewussten Rassismus gibt. Sowohl moralisch als auch psychologisch gesehen ist es jedoch gesund, angesichts von systemischen Ungerechtigkeiten „Schmerz“ zu empfinden.
Deshalb ist es wichtig, dass alle Menschen diverse Bücher lesen, vor allem aber junge Menschen. Kinder- und Jugendliteratur kann die mitfühlende Vorstellungskraft fördern, da sie die Fähigkeit vermittelt, sich – in der Fantasie, einen Roman lang – in ein fremdes Leben hineinzuversetzen. Wenn wir uns die Perspektive anderer Menschen vorstellen, entwickeln wir die Fähigkeit, zu moralischen, fürsorglichen Menschen zu werden. Wie Hannah Arendt schreibt, war das Eichmannsche Böse nicht deshalb banal, weil Eichmann dumm war, sondern weil ihm die Fähigkeit fehlte, sich die Perspektiven anderer Menschen vorzustellen. Sie formuliert es so: „Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden“. Und wenn wir Geschichte zensieren und die Vielfalt der Ansichten auslöschen, die eine multikulturelle Kinder- und Jugendliteratur zu bieten hat, fördern wir gerade diese Gedankenlosigkeit, die letztendlich zum Bösen führt.

E.B. White, Charlotte’s Web (2012), banned, weil Tier sprechen und der Tod thematisiert wird.
Der dritte Grund für die Entfernung von Büchern von historisch marginalisierten Gruppen liegt in einer besonderen Form von restaurativer Nostalgie. Die Befürworter:innen des Stop W.O.K.E. Act und ähnlicher Bestrebungen möchten, dass die amerikanischen Bürger:innen von einer idyllischen Vergangenheit träumen und jenen Mythos wiederbeleben, der ihnen in der Schule vermittelt wurde. Solche Mythen trösten diejenigen, die an sie glauben, jedoch nur vorübergehend, denn Mythen gehen nicht auf die Ursachen des Schmerzes ein, der Menschen dazu bringt, Trost in Lügen und Verschwörungen zu suchen.
Mit Büchern fühlen lernen
Aus Jason Reynolds und Ibram X. Kendi’s Stamped: Racism, Antiracism and You kann man lernen, wie Amerikas rassistische Vergangenheit seine rassistische Gegenwart prägt – und auch, wie der Antirassismus der Vergangenheit uns, wie Kendi sagt, helfen kann, „auf den Aufbau eines antirassistischen Amerikas hinzuarbeiten“. Toni Morrisons The Bluest Eye – ein Buch, das in der Oberstufe unterrichtet wird – kann aufzeigen, wie weiße Ideale von Schönheit und Wert die Psyche schädigen. Die Lektüre von George M. Johnsons Memoiren All Boys Aren’t Blue gewährt Einblicke in die Herausforderungen und Freuden, die schwarze oder queere Heranwachsende erleben. Bücher wie Angie Thomas’ The Hate U Give und Jason Reynolds und Brendan Kielys All-American Boys bieten einen nuancierten, mitfühlenden Blick auf junge Menschen – schwarze und weiße –, die das Movement for Black Lives (M4BL) unterstützen.
Nur: Diese Bücher könnten uns dies lehren, wenn junge Menschen sie denn lesen dürften. Doch alle fünf gehören zu den zehn am häufigsten verbotenen und angefochtenen Büchern des Jahres 2020 und 2021. Solche Bücher lösen bei ihren Leser:innen wahrscheinlich weitreichende, komplizierte emotionale Reaktionen aus – Gefühle, die heutzutage in den Klassenzimmern mancher US-Bundesstaaten verboten sind. Doch, wie der verstorbene James Loewen in Lies My Teacher Told Me: Everything Your American History Textbook Got Wrong schreibt: „Gefühle sind der Klebstoff der Geschichte“.
Emotionen sind wichtig. Multikulturelle Kinder- und Jugendbücher sprechen zwar den Schmerz anderer Gemeinschaften an als derjenigen, die sie verbieten, aber sie ebnen den Weg zu Gesprächen über Verlust und Schmerz, die über ideologische Grenzen hinweg geführt werden können. Um James Baldwin zu zitieren: „Du denkst, dass dein Schmerz und dein Herzschmerz in der Geschichte der Welt beispiellos sind, aber dann liest du. Es waren Bücher, die mich lehrten, dass die Dinge, die mich am meisten quälten, genau die Dinge waren, die mich mit all den Menschen verbanden, die am Leben waren, die jemals am Leben waren.“ Da sie ihren Lesern oft abverlangen, sich mit historischem Leid auseinanderzusetzen, und da wir alle Schmerz erleiden – in unterschiedlicher Weise zwar, doch niemand entkommt dem Leben ohne Leid –, können diese Bücher Leser:innen aus verschiedenen Kulturen und Religionen verbinden. In anderen Worten: Diverse Bücher für junge und ältere Leser:innen können jene Empathie in uns aktivieren, aus der Gemeinschaft entsteht.
Deshalb fürchten die Autoritären solche Bücher. Und genau deshalb müssen wir das Recht verteidigen, sie zu lesen.
Aus dem Amerikanischen von Anne Krier
Als liberaler Europäer unterstütze ich das Anliegen der Autorin: keine Verbote von „unpassenden“ Büchern etc. für Kinder. Die US – „liberale“ Seite scheint mir aber leider auch bereit, etwa Kinderbüchern zu zensieren wie ihre republikanische Gegnerschaft – freilich andere … Dahinter steckt wohl das in den USA mehr als in Europa verbreitete aufklärerische Kinderbild der „tabula rasa“. Diese „Tabula“ muss durch geeignete Information mit den Inhalten etwa der Menschenfreundlichkeit oder Toleranz „aufgefüllt“ werden. Aus dieser Sicht wurden in den USA zeitweise die Grimm Märchen als Lektüre für Kinder unterbunden. Sie erzählen doch jede Menge an Grausamkeiten: Hexen werden verbrannt. Eltern… Mehr anzeigen »