In Kuba verüben seit Anfang des Jahres Mitglieder einer regimekritischen Vereinigung Anschläge auf Büsten und Denkmäler José Martís. Damit deutet sich in der Post-Fidel-Ära ein neues Kapitel in der über hundertjährigen wechselvollen Geschichte der Aneignung und Sakralisierung dieses kubanischen Nationalhelden an.

  • Britt Schlünz

    Britt Schlünz promoviert in Geschichtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Sie forscht zu der Beziehung von katholischer Frömmigkeit und Politik im Spanien des 19. Jahrhunderts.

Seit Beginn dieses Jahres domi­niert in Havanna ein Thema die Gespräche auf der Straße: eine „Schän­dung“, „una profa­na­ción“. Gemeint ist eine Serie von anonymen Anschlägen auf Büsten und Denk­mäler des kuba­ni­schen Poeten, Poli­ti­kers und Unab­hän­gig­keits­kämp­fers José Martí (1853-1895), die vor allem in Havanna, aber auch in anderen Orten der Insel nachts mit Schwei­ne­blut beschmiert worden waren. Die Nach­richt über diese „Entwei­hung“ des Natio­nal­helden verbrei­tete sich nicht nur rasend schnell in der Stadt, sondern erschien gar von derar­tiger Dring­lich­keit, dass in den staat­li­chen Insti­tu­tionen des Landes Versamm­lungen einbe­rufen wurden, um Erklä­rungen der Kommu­nis­ti­schen Partei Kubas vorzutragen.

Mit Farbe beschmierte Büste von José Marti; Quelle: havanatimes.org

Mit der Beschmut­zung der Statuen Martís habe es, so hieß es, einen Angriff auf die natio­nale Iden­tität Kubas gegeben, der „Apostel“ der Kubaner sei ange­griffen und entweiht worden. Eduardo Torres-Cuevas, bis Ende 2019 Leiter der Natio­nal­bi­blio­thek und einer der bekann­testen kuba­ni­schen Histo­riker, erläu­terte in der staat­li­chen Presse die Dimen­sion, in die der Vanda­lismus einzu­ordnen sei: „Es wurde keine Büste atta­ckiert, es wurde ein Bildnis ange­griffen, es wurde die Seele Kubas ange­griffen, die Martí verkör­pert.“ Martí sei der spiri­tu­elle und mora­li­sche Vater Kubas und verkör­pere weit mehr als die Revolution.

Martí-Büste in Viñales; Foto: Schlünz

Tatsäch­lich nimmt Martí im boys club der Revo­lu­tion – im öffent­li­chen visu­ellen Gedächtnis der kuba­ni­schen Geschichte und Revo­lu­tion domi­nieren die Gesichter José Martís, Ernesto „Che“ Guevaras und Fidel Castros – eine heraus­ge­ho­bene Stel­lung, ja eine Märty­rer­rolle ein: Vom inter­na­tio­nalen Flug­hafen in Havanna über die Natio­nal­bi­blio­thek der Haupt­stadt bis zu den zentralen Plätzen in den kleinsten Dörfern des Landes tragen unzäh­lige Orte seinen Namen; auch jede Schule der Insel ist gesetz­lich verpflichtet, seine Büste aufzu­stellen. Und sollte Martí gerade nicht auf diese Weise sichtbar sein, hat man ihn zumin­dest buch­stäb­lich zur Hand: Sowohl der Kuba­ni­sche Peso als auch der Peso conver­tible – die Währung für Ausländer – zeigen sein Porträt respek­tive sein Denkmal.

Die Sakra­li­sie­rung eines Helden

Der Schrift­steller und Poli­tiker Martí, der 1895, drei Jahre vor dem offi­zi­ellen Ende der spani­schen Kolo­ni­al­herr­schaft Kubas im Gefecht mit spani­schen Truppen starb, ist bis heute das Symbol des kuba­ni­schen Unab­hän­gig­keits­kampfs. Für seine frühen Gedichte und Thea­ter­stücke wurde er noch als junger Mann während der spani­schen Kolo­ni­al­herr­schaft von der Insel nach Spanien verbannt, später enga­gierte er sich aus seinem New Yorker Exil heraus lite­ra­risch gegen den Kolo­nia­lismus. Eines seiner heute noch bekann­testen lite­ra­ri­schen Werke ist die Gedicht­samm­lung Versos Sencillos, deren Verse die Grund­lage des Textes von „Guan­tan­amera“ bilden, dem inter­na­tional wohl bekann­testen kuba­ni­schen Lied.

Zunächst aus dem Exil, nach seiner Rück­kehr dann in Kuba selbst leitete er bis zu seinem Tod den 1892 von ihm gegrün­deten Partido Revo­lu­cio­nario Cubano, welcher den  unab­hän­gigen Staat nach der Revo­lu­tion orga­ni­sieren sollte. Sein Kampf für die Frei­heit, sein Bemühen um eine latein­ame­ri­ka­ni­sche Iden­tität und sein früher Tod ließen ihn über die poli­ti­schen Systeme Kubas hinweg schnell zur Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur werden. Der Roma­nist Ottmar Ette hat dessen Bedeu­tung für Kuba und die Erwar­tung an diesen im Titel seiner einschlä­gigen Studie zur Martí-Rezeption als Drei­klang formu­liert: „Apostel – Dichter – Revolutionär“.

José Martí-Mausoleum in Sant­iago de Cuba; Quelle: cjwalsh.ie

Diese Sakra­li­sie­rung, die auch in der offi­zi­ellen Reak­tion auf die Anschlags­serie sichtbar wird, setzte bereits wenige Jahre nach Martís Tod ein. Die quasi-religiöse Vereh­rung lässt sich seither in Konjunk­turen durch das gesamte Jahr­hun­dert über alle poli­ti­schen Systeme beob­achten. Schon zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts verwan­delte sich Martí dabei schnell vom „Apostel“ zum „Messias“. Nicht nur wurde sein Leidensweg in die Nach­folge Christi gerückt, auch sein Tod lud zu Erlö­sungs­er­zäh­lungen ein. Das Lamento in der dama­ligen kuba­ni­schen Presse lautete: Könne der Märtyrer nur zurück­kehren, würde er die junge Nation aus der US-amerikanischen Abhän­gig­keit befreien. Zwar war Kuba im Jahr 1902, nach 400 Jahren spani­scher Kolo­ni­al­herr­schaft, formal unab­hängig geworden; es stand jedoch fest im Einfluss­be­reich der USA, die sich durch das soge­nannte Platt Amend­ment, das Teil der kuba­ni­schen Verfas­sung war, sogar ein Inter­ven­ti­ons­recht sicherten.

Dass Martí zu einer derar­tigen Projek­ti­ons­fläche der jungen Nation werden konnte, lag vor allem an seinem vagen Ausdrucks­stil, der eine Band­breite an Ausle­gungs­mög­lich­keiten für seine Gedichte bot. Da es darüber hinaus bis ins erste Drittel des 20. Jahr­hun­dert dauern sollte, bis seine lite­ra­ri­schen und poli­ti­schen Texte in Kuba selbst breit verlegt wurden, war deren Rezep­tion stark von den Konjunk­turen seiner Ideen im Ausland, beson­ders in Südame­rika, geprägt. Seine Schriften entwi­ckelten sich daher für die junge Repu­blik bei der Suche nach einer natio­nalen Iden­tität schnell zu einem Stein­bruch der Ideen: Gerade die Abhän­gig­keit Kubas von den USA ließ Martí je nach Bedarf zum Anti-Imperialisten oder auch zum Vertreter eines Pan-Amerikanismus werden, sodass die wech­selnden Regie­rungen daraus Legi­ti­ma­tion für ihre entweder USA-kritische oder -freund­liche Politik schöpfen konnten. Doch der Bezug auf Martí erfolgte nicht nur in außen­po­li­ti­schen Belangen. Prägend wurde insbe­son­dere auch Martís Vorstel­lung einer Gesell­schaft von Glei­chen – in einem Land, in dem die Skla­verei offi­ziell erst 1886 abge­schafft worden war. Und in der zuneh­menden wirt­schaft­li­chen Stagna­tion ab den 1920er Jahren avan­cierte Martí in den Augen der orga­ni­sierten Arbei­ter­schaft in der Land­wirt­schaft, speziell der in Kuba so zentralen Tabak­in­dus­trie, posthum gar zum Befür­worter von sozia­lis­ti­schen Lösungen für die Krise.

Geschichts­po­litik durch Denkmäler

Anders als es heute scheint, war José Martí mithin schon vor der Revo­lu­tion von 1959 ein kuba­ni­scher Natio­nal­held. Insbe­son­dere die Geschichte der vielen Martí-Denkmäler und -Büsten auf Kuba zeigt, dass dieser nicht erst für die Ideale der Revo­lu­tion in Beschlag genommen wurde. Die erste ihm zu Ehren aufge­stellte Statue ersetzte 1905 das Denkmal der spani­schen Königin Isabella II. auf dem Paseo del Prado in Havanna (selbst­re­dend offi­ziell umbe­nannt zu Paseo Martí). Martí über­nahm damit im öffent­li­chen Raum die Erin­ne­rung an die Zeit der spani­schen Kolonie, entspre­chend sprach der erste Präsi­dent der Repu­blik Kuba, Tomás Estrada Palma, anläss­lich der Eröff­nungs­ze­re­monie vom „unbe­fleckten“ [„inma­cu­lada“] Patrioten, der in seiner Unsterb­lich­keit für die Frei­heit Kubas stehe. Auch wenn die Zeit spani­scher Herr­schaft über die Insel vorbei war, blieb doch die ehema­lige Staats­re­li­gion als säku­la­ri­siertes Refe­renz­system erhalten.

Plaza de la Revo­lu­ción José Martí, 1974; Quelle: wikipedia.com

Im Laufe des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelte sich die Denk­mal­po­litik dann zu einem zentralen Instru­ment der Herr­schafts­le­gi­ti­ma­tion für rechts und links. Bereits 1937 ließ der poli­tisch einfluss­reiche Offi­zier Fulgencio Batista, der spätere Präsi­dent und Diktator, eine Kommis­sion ins Leben rufen, die neue Formen des Martí-Kultes erar­beiten sollte, und zwar mit Blick auf das zu feiernde Säkulum von Martís Geburt 1853. Dieses Denkmal auf dem heutigen Revo­lu­ti­ons­platz in Havanna, das nach der Revo­lu­tion von 1959 eröffnet wurde, diente aller­dings wie kein anderes der poli­ti­schen Nutz­bar­ma­chung Martís durch unter­schied­liche Macht­haber. Sich als legi­timer Nach­folger dieses „Apos­tels“ zu insze­nieren, war auch für den Erzfeind Batistas, den kommu­nis­ti­schen Revo­lu­tionär Fidel Castro, Teil seiner symbo­li­schen Stra­te­gien zur Siche­rung seiner Macht.  Heute ragt das Monu­ment, bestehend aus einer 10 Meter großen Marmor­statue Martís und einem 140 Meter hohem Turm als Symbol der konti­nu­ier­li­chen kuba­ni­schen Revo­lu­tion, weit in den Himmel über Havanna. Baulich ändern musste die Kommu­nis­ti­sche Partei dafür nichts.

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Die Verein­nah­mung eines Natio­nal­helden oder einer Grün­der­figur der Nation sowohl durch die Regie­rung als auch durch die Oppo­si­tion, ob von links oder rechts, ist selbst­ver­ständ­lich keines­wegs ein allein kuba­ni­sches Phänomen. Auch Simón Bolívar, der als „Befreier“ Vene­zuelas, Panamas, Kolum­biens, Ecua­dors, Perus und Boli­vien verehrt wird, wurde konti­nu­ier­lich als Legi­ti­ma­ti­ons­figur sowohl für die Regime in diesen Ländern als auch die jewei­lige Kritik an ihnen heran­ge­zogen. Hugo Chávez etwa rief die sozia­lis­ti­sche „Boli­va­ri­sche Revo­lu­tion“ aus, und ebenso verlieh der ehema­lige kolum­bia­ni­sche Präsi­dent Álvaro Uribe Anfang des 21. Jahr­hun­derts seinem liberal-konservativen Kurs mit Bezug auf Bolívar histo­ri­sche Legi­ti­ma­tion. In Europa findet man ähnli­ches: Der Grün­der­vater des italie­ni­schen Natio­nal­staats Giuseppe Gari­baldi war ebenso ein Symbol des Wider­stands gegen Musso­lini, und in der späten DDR rangen Regime und Oppo­si­tion um das Erbe Rosa Luxemburgs.

Wer beerbt Martí?

Doch zurück in die Gegen­wart und nach Kuba. Die jüngsten Anschläge auf Martí-Denkmäler, unter anderem jenes auf dem Paseo del Prado, zeigen vor allem eins: Der Kampf um das „rich­tige“ Erbe Martís geht weiter. Die Kommu­nis­ti­sche Partei bemühte sich dabei, einen Gesichts­ver­lust abzu­wenden: Das Staats­fern­sehen präsen­tierte der Öffent­lich­keit am 21. Januar zwei gestän­dige Kubaner. Panter Rodrí­guez Baró, 44 Jahre alt, und Yoel Prieto Tamayo, 29, sollen mutmaß­liche Mitglieder der regie­rungs­kri­ti­schen Gruppe Clan­des­tinos sein und mithilfe finan­zi­eller Unter­stüt­zung aus Florida die Anschläge in Havanna begangen sowie in den sozialen Medien zum Wider­stand gegen das Regime aufge­rufen haben.

Die Clan­des­tinos; Quelle: facebook.com

Die Gruppe ist seit Ende letzten Jahres in den sozialen Medien aktiv; auf selbst­ver­brei­teten Fotos insze­nieren sich ihre Mitglieder zumeist mit Guy-Fawkes-Masken. Größe und Ziele der Clan­des­tinos sind bisher weitest­ge­hend unbe­kannt, konkrete poli­ti­sche Forde­rungen haben sie bisher nicht veröf­fent­licht.  Die Regie­rung musste jedoch inzwi­schen zugeben, dass die Gruppe mitt­ler­weile landes­weit agiert. Anklage wurde gegen die beiden Männer bisher aber noch nicht erhoben. Auf der Facebook-Seite der Clan­des­tinos wiederum wurde verlaut­bart, dass die beiden Männer der Gruppe nicht bekannt seien; gleich­zeitig rief sie jedoch zu weiteren Aktionen dieser Art auf, da „der Apostel bluten“ würde „für das, was die Regie­rung ihm angetan hat“. Das State­ment verdeut­licht, dass sich auch die Regime­gegner in die Tradi­tion der reli­giösen Meta­phorik stellen, Martí ebenso für sich rekla­mieren und das poli­ti­sche System gerade dafür kriti­sieren, dass es Martís Erbe nicht gerecht werden würde.

Seit den Anschlägen im Januar mehren sich mitt­ler­weile die Fest­nahmen von Künst­lern und Kultur­schaf­fenden, die den Clan­des­tinos nahe­stehen und die Gruppe unter­stützt haben. Nach den Fest­nahmen der Tatver­däch­tigen speku­lierten kuba­ni­sche Medien aber auch über eine Über­stüt­zung der Gruppe durch Exil-Kubaner in den USA. Tatsäch­lich fallen die Anschläge in eine Zeit, in der die Span­nungen zwischen beiden Ländern wieder zunehmen. Im Januar gab die Trump-Administration als Reak­tion auf die anhal­tende kuba­ni­sche Unter­stüt­zung Nicolás Maduros in Vene­zuela bekannt, alle Char­ter­flüge zwischen den USA und Kuba bis auf jene nach Havanna aussetzten zu lassen und letz­tere zu limi­tieren. Das anhal­tende Embargo belastet die kuba­ni­sche Wirt­schaft und Gesell­schaft massiv. Die Behaup­tung jedoch, dass die Protest­ak­tionen vornehm­lich aus den USA gesteuert und finan­ziert würden, ist wohl Teil kuba­ni­scher Propa­ganda, um von der wach­senden System­kritik im eigenen Land abzulenken.

Mit der Wahl des Anschlags­ziels war den Urhe­bern der Anschläge zwei­fellos die größt­mög­liche Aufmerk­sam­keit sicher, da die Kubaner zu José Martí eine affek­tive Bezie­hung pflegen wie zu keiner zweiten Figur ihrer Geschichte – Fidel ausge­nommen. Das heißt: Weil die Anschläge auf das Denkmal Martís sich unter der Präsi­dent­schaft Miguel Díaz-Canels, des ersten Regie­rungs­chefs, der nicht aus der Castro-Familie stammt, ereig­neten, könnten sie gar als eine „castris­ti­sche“ Kritik an der aktu­ellen Regie­rung und ihrem Kurs der vorsich­tigen wirt­schaft­li­chen Reformen bei gleich­zei­tiger Verfol­gung jegli­cher Oppo­si­tion gedacht sein. Doch das ist Spekulation.

Fakel­umzug zur Ehren von José Martí, Havanna, Ende Januar 2020: Quelle: primerahora.com

In Kuba jeden­falls scheinen die Anschläge bisher weitest­ge­hend abge­lehnt zu werden; eine mit ihnen inten­dierte Regime­kritik hätte ihr Ziel somit vorerst verfehlt. Denn in der Bevöl­ke­rung domi­niert wie gesagt eher Empö­rung über die „Schän­dung“ des Bild­nisses des kuba­ni­schen „Märty­rers“, und viele Menschen soli­da­ri­sierten sich öffent­lich mit ihm, indem sie etwa an den Denk­mä­lern Blumen ablegen. Sicher ist aber auch, dass der Prozess der fort­wäh­renden Umdeu­tung und erneu­erten Sakra­li­sie­rung Martís nicht beendet ist – und die Frage, wem der „Apostel“ gehört, heute wieder neu gestellt wird.