Populistische Bewegungen reden viel vom Abendland, das vom Islam bedroht werde. Aber auch im Feuilleton und in der Forschung werden Islam und Europa als zwei getrennte Kulturen einander gegenübergestellt. Das verstellt sowohl den Blick auf heutige Problemlösungen wie auf historische Verflechtungen.

  • Almut Höfert

    Almut Höfert ist Historikerin und Islamwissenschaftlerin. Sie lehrt transkulturelle Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich.

Wenn Terro­risten im Namen des Islam Atten­tate verüben, wird rasch von verschie­denen Seiten versi­chert, dass diese mit dem wahren Islam nichts zu tun hätten. Aber bei der Frage, was der Islam nun ist (und wie er in Bezug auf Europa einzu­ordnen ist), verlässt die Islam­de­batte regel­mäßig die Ebene zeit­ge­nös­si­scher Diagnostik und begibt sich in die historisch-theologische Dimen­sion. Es werden Koran und Bibel mitein­ander vergli­chen und die Geschichte des „Islam“ der Geschichte des „Abend­landes“ (wahl­weise auch „Europas“ oder „des Westens“) gegen­über­ge­stellt. Ist es nicht so, dass das huma­nis­ti­sche Projekt der Renais­sance in Europa in die Aufklä­rung und Säku­la­ri­sie­rung mündete und isla­mi­sche Theo­logen einen Nach­hol­be­darf in einer historisch-kritischen Lektüre ihrer heiligen Schrift haben? Kann man leugnen, dass der Prophet Muhammad die musli­mi­sche umma (die Gemein­schaft der Muslime und Musli­minnen) als Staat und Reli­gion zugleich begrün­dete und die frühen Kalifen in einer enormen Geschwin­dig­keit ein riesiges Welt­reich unter dem neuen Glauben mit gewalt­samen Erobe­rungen schufen? Hatten sich die Anhänger Jesu, dessen Reich „nicht von dieser Welt“ war, hingegen nicht von Beginn an in Oppo­si­tion zum römi­schen Staat und Kaiser­kult befunden? Histo­ri­sche Argu­men­ta­tionen über einen Vergleich zwischen Abend­land und Islam weisen häufig darauf hin, dass diese grund­sätz­liche weltlich-religiöse Dualität, mit der das Chris­tentum gestartet sei, erst die mittel­al­ter­li­chen Ausein­an­der­set­zungen zwischen Kaisern und Päpsten und dann die euro­päi­sche Säku­la­ri­sie­rung ermög­licht habe: Die moderne Tren­nung zwischen Politik und Reli­gion sei daher ein genuin euro­päi­sches Phänomen.

Die Vorstel­lung von „Kulturen“ als Groß­ein­heiten der Geschichte

So sehr man die popu­lis­ti­schen Bewe­gungen auch verur­teilen mag, wir reden alle – im Westen wie im Islam – von zwei Kulturen, deren Bezeich­nung vari­iert (Islam, Orient, Morgen­land versus Europa, Okzi­dent, christ­li­ches oder jüdisch-christliches Abend­land): Feuil­le­tons und die ältere Forschung unter­scheiden sich hier nur wenig. Beiden Kulturen werden konträre Ausgangs­be­din­gungen in der Gret­chen­frage Wie hältst du’s mit der Reli­gion? zuge­schrieben. Das Konzept von verschie­denen „Kulturen“ als Groß­ein­heiten der Geschichte mit einem religiös-kulturellen Wesens­kern (wie etwa China, Indien, Europa und der Islam) kam im späten 19. Jahr­hun­dert auf. Es wird in unserer Forschungs­land­schaft dadurch fest­ge­schrieben, dass die isla­mi­sche und die euro­päi­sche Geschichte in zwei verschie­denen Diszi­plinen, der Islam­wis­sen­schaft und der Geschichte, erforscht und gelehrt werden.

Birmingham-Manuskript, Frag­ment 7. Jhd mit Beginn von Sure 20: das „Text­ske­lett“, rasm, Quelle: wikipedia

Die zahlen­mäßig sehr klein ausge­stat­tete Islam­wis­sen­schaft ist natür­lich als erste gefragt, wenn es um histo­ri­sche Aufklä­rung über die Geschichte des Islams geht. Wenn beispiels­weise vom Koran als vermeint­li­cher Blau­pause für den Verlauf der isla­mi­schen Geschichte die Rede ist, kann die Islam­wis­sen­schaft darauf verweisen, dass es über­haupt erst seit 1924 einen einheit­li­chen Koran­text gibt. Die frühesten Koran­ma­nu­skripte aus dem 7. Jahr­hun­dert enthielten keine Vokal­zei­chen und auch nicht alle diakri­ti­schen Punkte, mit denen sich die verschie­denen Konso­nanten im Arabi­schen unter­scheiden lassen. Sie lieferten daher ledig­lich ein Text­ske­lett (arab. rasm) als Gedächt­nis­stütze, das erst durch das Rezi­tieren (arab. qaraʾa: davon leitet sich das Wort qurʾān ab) lebendig wurde. Dabei gab es im Mittel­alter sieben verschie­dene, alle als theo­lo­gisch gleich­wertig aner­kannte Lesarten. Noch viel­fäl­tiger waren die unter­schied­li­chen Inter­pre­ta­tionen: Mit seinen uner­schöpf­li­chen Deutungs­mög­lich­keiten wurde der Koran als ein „gewal­tiges Meer“ gefeiert, „in dem man nie auf Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“ (Ibn al-Djazari, 1350–1429). Als die Azhar-Universität 1924 den Koran als heute maßgeb­liche Ausgabe in einer der sieben über­lie­ferten Lesarten voll­vo­ka­li­siert druckte, wurden die vormo­dernen weiten Bedeu­tungs­fa­cetten des Koran­textes einge­schränkt – und durch abso­lute isla­mis­ti­sche Ausle­gungen weiter verengt.

Beginn Sure 20 im 1924 von der Azhar-Universität gedruckten Koran in der Lesart von ʿĀṣim in der Über­lie­fe­rung von Ḥafṣ, corpuscoranicum.de

Wenn es um einen Vergleich zwischen isla­mi­scher und euro­päi­scher Geschichte geht, müssen hingegen die Erkennt­nisse aus Islam- und Geschichts­wis­sen­schaft zusam­men­ge­führt werden. Der histo­ri­sche Vergleich ist schon inner­halb der euro­päi­schen Geschichte schwierig. Ein trans­kul­tu­reller Vergleich steht vor dem zusätz­li­chen Problem, dass histo­ri­sche Methoden und Kate­go­rien in der Geschichts­wis­sen­schaft fast ausschließ­lich anhand der euro­päi­schen Geschichte entwi­ckelt worden und nicht unbe­dingt kompa­tibel mit der isla­mi­schen Geschichte sind. Das gilt unter anderem für die Frage, wie „Reli­gion“ (ein moderner Begriff, der anhand der christ­li­chen Tradi­tion gebildet wurde) über­haupt defi­niert wird. Die euro­päi­sche Geschichte wird mit solchen euro­päi­schen Kate­go­rien zur Norm, während der Islam zwangs­läufig als defi­zitär („ohne Kirche“, „ohne Tren­nung zwischen Reli­gion und Politik“) erscheint. Darüber hinaus führt die lange Tradi­tion der beiden getrennten Diszi­plinen dazu, dass beide Geschichten als spezi­fisch erscheinen und der Blick auf mögliche Gemein­sam­keiten verstellt ist. Es ist genau diese Konstel­la­tion, die zu der (auch in wissen­schaft­li­chen Hand­bü­chern vertre­tenen) Vorstel­lung geführt hat, dass Islam und Abend­land in Bezug auf Reli­gion und Politik zwei ganz unter­schied­liche Entwick­lungs­ver­läufe hinter sich haben. Bringt man beide Geschichten in einer metho­disch reflek­tierten Perspek­tive zusammen, so ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild: So war beispiels­weise die Verschmel­zung von Reli­gion und poli­ti­schen Struk­turen des isla­mi­schen Reiches kein neues, typisch isla­mi­sches Muster, sondern die Fort­füh­rung des römisch-christlichen Modells.

Den Blick schärfen für Verflechtungen

Um dies zu verstehen, muss man die gewal­tigen Umbrüche in Betracht ziehen, die Reli­gion im spät­an­tiken Römi­schen Reich und seinen Nach­bar­re­gionen ab dem 3. Jahr­hun­dert erfuhr. Die flie­ßenden Über­gänge zwischen der antiken Götter- und Menschen­welt wurden mehr und mehr getrennt. Christus- und Kaiser­kult entwi­ckelten sich in einer Konkur­renz zuein­ander, schufen in diesen Ausein­an­der­set­zungen aber gemeinsam eine neue Bühne, in der poli­ti­sche Legi­ti­ma­tion zuneh­mend mit reli­giösen Ämtern verknüpft wurde. Zudem kam das Glau­bens­dogma als Merkmal von Reli­gion auf. Die Schriften der Kirchen­väter und die Kanons der Konzi­lien prägten das Chris­tentum letzt­lich mehr als die Bibel selbst. Unter dem Vorsitz von Konstantin dem Großen legte das Konzil von Nicaea 325 das christ­liche Glau­bens­be­kenntnis fest. Der Über­tritt Konstan­tins zum Chris­tentum brachte dem Römi­schen Reich eine neue kultu­relle Kohä­renz. Der römisch-christliche Kaiser galt nun als Abbild des himm­li­schen Königs, das römi­sche Welt­reich als irdi­sche Mani­fes­ta­tion des himm­li­schen Reiches: ein Gott, ein Univer­sal­herr­scher (der Kaiser), ein Reich, ein Glaube war nun die Devise. In diesem Reich konnte es letzt­lich nur Christen geben. Als selbst ernannte „Sieger über alle Völker“ hatten die Kaiser (mit wech­selndem Erfolg) den Anspruch, ihre christ­liche Herr­schaft über den gesamten Erdkreis auszu­dehnen. Auch Karl der Große (gest. 814) nahm dieses Prinzip aus der Spät­an­tike auf, als christ­li­cher Herr­scher für die Verbrei­tung und rich­tige Ausübung des Chris­ten­tums in seinem Reich verant­wort­lich zu sein.

Fresken aus dem Wüsten­schloss Qusair ʿAmra (= der Umai­ya­den­ka­lifen), Jorda­nien, Mitte 8. Jahr­hun­dert, Quelle: wikipedia

Die Bewe­gung, in der der Prophet Muhammad (gest. 632) und seine Anhänger zum frommen Lebens­wandel unter dem einen Gott Abra­hams aufriefen, war apoka­lyp­tisch geprägt. Die frühesten Suren im Koran befassen sich vor allem mit dem bald bevor­ste­henden Jüngsten Gericht. Ange­sichts dieser Dring­lich­keit waren theo­lo­gi­sche Abgren­zungen zum Christen- und Judentum weniger wichtig und wurden nicht durch­gängig gezogen. 661 verlegten die Umai­ya­den­ka­lifen das poli­ti­sche Zentrum von der arabi­schen Halb­insel nach Syrien. Dabei über­nahmen sie die typisch spät­an­tike Verschmel­zung von Reli­gion und impe­rialen Struk­turen. Die Kalifen nannten sich „Stell­ver­treter Gottes“. Sie akzep­tierten zwar, dass Juden und Christen ihre Reli­gion weiter prak­ti­zierten, etablierten den Islam jedoch als einzig wahre Herr­schafts­re­li­gion. Damit folgten die Kalifen dem römisch-christlichen Prinzip: ein Gott, ein Univer­sal­herr­scher (= Kalif), ein Reich, ein Glaube. Wie die Kaiser erließen auch die Kalifen Gesetze – ein Vorgang, den die späteren isla­mi­schen Rechts­ge­lehrten ausblen­deten, als sie die Prophe­ten­tra­di­tion ins Zentrum stellten. Die Ideo­logie, die gesamte Welt unter einem Glauben in einem mili­tä­risch eroberten Welt­reich unter einem Herr­scher im Namen des abra­ha­mi­ti­schen Gottes zu einigen, war also nicht „typisch isla­misch“, sondern aus den römisch-christlichen Funda­menten des „Abend­landes“ heraus geboren worden. Aber auch in ihrer welt­li­chen Reprä­sen­ta­tion führten die Umai­ya­den­ka­lifen christlich-imperiale Tradi­tionen fort: In den Ruinen der umai­ya­di­schen Paläste und Sommer­re­si­denzen sind noch Mosaiken und Fresken erhalten, die mit Jagd, Bade­ver­gnügen, Musik und Gesang die Welt höfi­schen Vergnü­gens abbilden.

Fresken aus dem Wüsten­schloss Qusair ʿAmra (= der Umai­ya­den­ka­lifen), Jorda­nien, Mitte 8. Jahr­hun­dert, Quelle: wikipedia

 

Den „Islam“ nicht exoti­sieren, sondern historisieren

Unsere modernen Kultur- und Fächer­grenzen verstellen immer wieder wie Beton­mauern den Blick auf solche Gemein­sam­keiten und Verflech­tungen. Wir können weder auf den Islam- noch den Euro­pa­be­griff verzichten, aber die Verwen­dung beider Begriffe ist sehr viel kompli­zierter als gemeinhin ange­nommen wird. Wir tun gut daran, die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“ flie­ßend zu halten und die Grund­lage einer geeinten Mensch­heit höher zu setzen. Es wäre schon viel geholfen, zwischen spät­an­tikem, mittel­al­ter­li­chem und modernem Islam und Europa zu diffe­ren­zieren: Denn der „Islam“ ist kein außer­his­to­ri­sches Phänomen. Die Art und Weise, wie sich Sala­fisten einzelne Formeln aus dem hoch­kom­plexen Koran­text aneignen, ist ein Phänomen der Moderne. Um es zu verstehen, brau­chen wir sozio­lo­gi­sche, poli­tik­wis­sen­schaft­liche und zeit­ge­schicht­liche Analysen über die Welt­ord­nung nach 1945 und 1989 sowie den Blick auf gesell­schaft­liche Ausgren­zungen und fragile Männ­lich­keiten. Histo­ri­sche Argu­men­ta­tionen, die den Geschichts­ver­lauf im Abend­land und Islam pauschal anführen, Bibel und Koran mitein­ander verglei­chen und sich auf ein Wesen von Reli­gion berufen, führen hingegen in die Irre – in poli­ti­schen Debatten ebenso wie in Feuil­le­tons und der Forschung.

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