Als zu Beginn des letzten Jahres in den europäischen Medien die ersten Meldungen über das Auftreten eines neuartigen Virus in China erschienen, schien dieses Ereignis den meisten Leser:innen noch ähnlich fern wie der sprichwörtliche Sack Reis. Doch dies änderte sich schnell. Wenig bestimmt die Wahrnehmung der gegenwärtigen Pandemie so sehr wie der Umstand, dass das Virus nicht an nationalen Grenzen haltmacht. Die Gesundheitskrise ist global und Berichte über die Corona-Lage in verschiedenen Teilen der Welt prägen die öffentliche Diskussion. Mit dem Beginn des Impfprogramms erhält die Diskussion um die globale Dimension der Pandemie derzeit eine neue Wendung: In den Blick rückt die ausgesprochen ungleiche Verteilung von Impfstoffen zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden – und der vielfach wiederholte Appell, dass sich die „globale Krankheit“ auch nur „global“ bekämpfen ließe.
Was aber bedeutet es, wenn eine Krankheit „global“ ist – für ihre Erforschung und für ihre Bekämpfung? Welche Effekte hat das aktuell beobachtbare Zusammenwirken globaler Vernetzung mit sozialer wie politischer Ungleichheit? So sehr uns diese Fragen heute umtreiben, so wenig entstammen sie der aktuellen Situation. Corona bildet nur die Spitze einer Reihe pandemischer Infektionskrankheiten und tödlicher Epidemien der Vergangenheit, die uns helfen können, die globale Dimension der aktuellen Pandemie besser zu verstehen.
Schock und Aufbruch: Europäische Wahrnehmungen der „Schlafkrankheit“
Ein aufschlussreiches Beispiel für die europäische Wahrnehmung „globaler“ Krankheit ist die Afrikanische Trypanosomiasis. Als die sogenannte Schlafkrankheit vor allem in Uganda und dem Kongobecken am Beginn des 20. Jahrhunderts hunderttausende Tote forderten, waren ihre Schockwellen auch in Europa zu spüren. Noch waren weder Erreger noch Übertragungswege bekannt. Unter den Kolonialmächten machte sich die Sorge breit, die Krankheit könnte sich auf den gesamten Kontinent ausbreiten, etwa entlang des Nils bis nach Ägypten gelangen – mit katastrophalen wirtschaftlichen Folgen.

Robert Koch (rechts) in einem Laborzelt am Viktoriasee, Uganda; Quelle: rki.de
In der Wissenschaft erzeugte die Pandemie hingegen Aufbruchsstimmung: Die Schlafkrankheit bot mit ihrer medialen wie politischen Aufmerksamkeit der noch jungen Disziplin der Tropenmedizin die Gelegenheit, die eigene Relevanz unter Beweis zu stellen. Robert Koch, David Bruce, Émile Brumpt und andere damalige Stars des Feldes machten sich auf den Weg nach Afrika, um die unbekannte Krankheit zu erforschen.
Koloniale Krankheit
Es war der Kolonialismus, der aus der Schlafkrankheit eine globale Krankheit machte. Weil sie durch die Tsetse-Fliege übertragen wird, die einzig im subsaharischen Afrika vorkommt, bestand zwar nie die reale Gefahr, dass die Schlafkrankheit zu Epidemien in Europa führen könnte. Doch auf dem afrikanischen Kontinent wurde die Eskalation des Infektionsgeschehens durch die koloniale Eroberung angetrieben; bereits Zeitgenossen sahen in der verstärkten Mobilität und der neuen Verkehrsinfrastrukturen, in der Vertreibung und Neuansiedlung lokaler Bevölkerung die Gründe für das Ausufern der Epidemie.

Infizierte in einem „Schlaflager“ in Bugala (Uganda) 1907; Quelle: rki.de
Zudem wurde die Krankheit zu einem Experimentierfeld der europäischen Mächte. Die medizinischen Maßnahmen der Kolonialverwaltungen griffen tief in die kolonisierten Gesellschaften ein. Ärzte durchsuchten die Kolonialgebiete nach Infizierten und brachten auf diese Weise den Kolonialstaat gleichsam in die Fläche der Kolonien. Infizierte wurden in Lagern interniert, um sie an einer Weiterverbreitung der Infektion zu hindern und um mögliche Therapien an ihnen zu testen. Im Zuge der Schlafkrankheitskampagnen wurden neue, sogenannte sichere Siedlungsgebiete geschaffen, indem durch Umwelteingriffe wie Rodungen oder Trockenlegungen der Lebensraum der Tsetse-Fliege vernichtet wurde. Die Pandemiebekämpfung fügte sich nicht nur nahtlos in die brutale Herrschaft der europäischen Kolonialmächte ein, sie changierte auch zwischen Gewalt, Rassifizierung und Entwicklungsphantasien.
Koloniale Forschungen
Für die Wissenschaft eröffnete sich mit den neuartigen Epidemien ein hervorragendes Forschungsfeld. Im kolonialen Kontext waren Untersuchungen möglich, die in Europa so nicht durchführbar gewesen wären. Dies betraf insbesondere Menschenversuche mit infizierten Afrikaner:innen, die in allen europäischen Schlafkrankenlagern stattfanden. Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger Paul Ehrlich sandten ausgesuchte Wirkstoffe in die Kolonien, die hier an einer großen Anzahl Infizierter getestet werden konnten. Dabei ging es nicht nur darum, ein Mittel gegen den Erreger der Schlafkrankheit zu finden. Die Hoffnung war, dass sich ein solches auch gegen andere, europäische Krankheiten einsetzen ließe. Ehrlich etwa experimentierte mit Verfahren zur Heilung von Syphilis und suchte nach chemotherapeutischen Strategien gegen Infektionskrankheiten, als er in die koloniale Forschung einstieg. Auch dafür lieferten Studien in den Schlafkrankenlagern genaue Beschreibung der Nebenwirkungen der getesteten Substanzen bei unterschiedlicher Dosierung.

Paul Ehrlich in seinem Frankfurter Labor, 1910; Quelle: wikipedia.org
In europäischen Laboren wären solche Untersuchungen nicht nur aufgrund der mangelnden Anzahl an möglichen Testpersonen nicht möglich gewesen. Ein Hinderungsgrund waren auch die unbekannten Effekte der Wirkstoffe, da zu Beginn des Jahrhunderts nach einigen in der Presse wild diskutierten Skandalen in mehreren europäischen Staaten gesetzliche Regulierungen zu Humanexperimenten erlassen worden waren. In den Kolonien fühlten sich Ärzte dagegen freier und fern kritischer Aufmerksamkeit. So gingen die Experimente in den Kolonien regelmäßig mit massiven Nebenwirkungen wie Lähmungen, Erblindungen und vereinzelten tödlichen Vergiftungen einher, über die auch immer wieder in Fachzeitschriften berichtet wurde. Zum Abbruch solcher Experimente führten in der Regel jedoch nicht ethische oder juristische Überlegungen, sondern die hohen Fluchtraten der Internierten.
Die Forschung in den Schlafkrankenlagern wurde von den führenden pharmakologischen Unternehmen unterstützt. Sie stellten Wirkstoffe zu Testzwecken zur Verfügung und übernahmen ihren Transport in betroffene Gebiete. Bewährte sich ein Mittel, versprach es die Erschließung eines vielversprechenden Marktes. Kolonialbehörden beurteilten den Erfolg eines Wirkstoffes dabei unter epidemiologischen Gesichtspunkten, ohne den Gefahren für den Einzelnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken: Das hochtoxische Medikament Atoxyl etwa besaß zwar keine dauerhafte Heilwirkung, vermochte jedoch kurzzeitig die Erregerlast im Blut zu verringern und damit Ansteckungsketten zu unterbrechen. Das Produkt wurde deshalb bis zum Ersten Weltkrieg standardmäßig zur Bekämpfung der Krankheit eingesetzt. Trotz schwerer Nebenwirkungen wie Erblindungen schufen die kolonialen Schlafkrankenlagern somit einen Absatzmarkt für Atoxyl, der sich für europäische Pharma-Unternehmen als ausgesprochen profitabel erwies.
Postkoloniale Ungleichheiten

Collage für das Medikament Suramin mit einem Bild von Robert Koch; Quelle: wikipedia.org
Mit der Dekolonisation wendete sich das Blatt: Hatten zuvor die Kolonialmächte das Feld der kolonialen Gesundheitsversorgung nach ihren Interessen ausgerichtet, überließen sie es nun komplett der Pharma-Industrie. Europa setzte keine Forschungsanreize mehr für eine funktionierende Therapie der Schlafkrankheit; nicht zuletzt deshalb gehört die Krankheit heute zu den „neglected tropical diseases“. Erst seit 2013 wird versucht die vor allem in der Demokratischen Republik Kongo weiterhin verbreitete Krankheit mithilfe einer Förderinitiative von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Bayer und Sanofi einzudämmen. Die nötigen Medikamente werden kostenfrei durch die WHO zur Verfügung gestellt. Doch gerade an ihnen zeigt sich nicht nur eine Persistenz kolonialer Strukturen, sondern auch, wie sehr sich Expertise und Interessen im Kampf gegen die Schlafkrankheit verschoben haben: Von den fünf Standardmedikationen, die aktuell von der WHO aufgeführt werden, stammen drei Medikamente (Suramin *1920, Pentamidin *1940, Melarsoprol *1949) noch aus der Kolonialzeit. Trotz erheblicher Nachteile wie verbreiteter Resistenzen sind sie vielerorts mangels Alternativen noch immer in Benutzung.
Bei den anderen beiden Wirkstoffen Eflornithin und Fexinidazol wurde zwar die Wirkung gegen Schlafkrankheitserreger erst nach der Dekolonisation festgestellt. Doch mangels Wirtschaftlichkeit waren die Produkte bald nicht mehr auf dem Markt. Eflornithin, ein Mittel gegen weibliche Gesichtsbehaarung (Hirsutismus) ist seit 1990 auch als Schlafkrankheitstherapeutikum zugelassen. Bereits 1995 stellte das Pharma-Unternehmen Sanofi die Produktion jedoch aus wirtschaftlichen Gründen ein, auch wenn der Wirkstoff als Mittel gegen Gesichtshaar auf dem Markt blieb. Erst intensive Kampagnenarbeit der Médecins Sans Frontières und Verhandlungen der WHO führten dazu, dass Sanofi 2001 die Produktion wiederaufnahm.

Plakat der „Drugs for Neglected Diseases Initiative“; Quelle: adeevee.com
Auch die Produktion des in den 1970er Jahren entwickelten Wirkstoffes Fexinidazol hat das Unternehmen Hoechst (heute Sanofi) aus marktstrategischen Gründen aufgegeben. Erst durch die Forschungsförderung der Drugs for Neglected Diseases Initiative begann Sanofi 2005 mit der Vorbereitung klinischer Studien für eine Zulassung. Seit 2019 verfügbar erweist sich das Produkt momentan als therapeutischer wie logistischer Segen: Im Gegensatz zu den bisherigen Medikationen ist es weit weniger toxisch, wirkt in allen Stadien der Krankheit, kann oral verabreicht werden und macht so einen Krankenhausaufenthalt während der Therapie unnötig. Endlich zeichnet sich damit eine Kontrolle der Schlafkrankheit ab. Zugleich zeigt die Geschichte der Medikamentenproduktion aber deutlich, wie sehr auch nach dem Ende des Kolonialismus globale Strukturen der Ungleichheit die Produktion medizinischen Wissens und damit Therapiemöglichkeiten im Globalen Süden bestimmten.
Medizinisches Wissen und tatsächliche Therapiemöglichkeiten
Neben der Frage, welche auf der Welt auftretenden Krankheiten im Blick medizinischer Forschungen stehen, steht die Frage nach dem globalen Zugang zu bestehenden Therapiemöglichkeiten. Sie ist besonders offensichtlich am Beispiel der HIV/AIDS-Pandemie. Obwohl der Umgang mit HIV und AIDS seit den 1980er Jahren von massiver Stigmatisierung und homophober Gewalt begleitet war, erzielten Forscher:innen während der letzten Jahrzehnte bemerkenswerte Erfolge: Stellte eine HIV-Infektion bis Mitte der 1990er Jahre ein sicheres Todesurteil dar, war dies mit der Entwicklung der antiretroviralen Therapie (ART) vorbei. Mittlerweile haben Infizierte bei frühzeitiger Diagnose und langfristiger ärztlicher Begleitung eine normale Lebenserwartung bei guter Lebensqualität. Hinzu kommt: Solange unter der Therapie das Virus im Blut nicht nachweisbar ist, können Infizierte es auch nicht weitergeben. Im Jahr 2019 galt dies etwa für 96% der deutschen HIV-Patient:innen.
Doch die Entwicklung der antiretroviralen Therapie führte keineswegs dazu, dass das AIDS-Sterben auf der Welt endete. Die weltweit höchste Zahl von AIDS-Toten verzeichneten die Vereinten Nationen im Jahr 2005 mit 1,95 Millionen Gestorbenen und damit zu einem Zeitpunkt, als das erfolgreiche ART-Verfahren bereits über zehn Jahre alt war. Im Globalen Norden war die Krankheit damals längst zu einer beherrschbaren Infektion geworden. Im Globalen Süden ist HIV/AIDS hingegen noch heute einer der „big three“, der drei „großen Killer“ und verzeichnet weiterhin hohe Neuansteckungsraten. Das Wissen zur Bekämpfung der Krankheit ist also eigentlich seit langem vorhanden. Solange es jedoch keinen ausreichenden Zugang zu Therapien gibt, bleibt HIV ein globales Problem.
Globalisierte Krankheiten in einer globalisierten Welt
Manches aus der Geschichte von Schlafkrankheit und HIV/AIDS wiederholt sich in der aktuellen Pandemie. Auch ohne den „Möglichkeitsraum“ der Kolonien hat die Corona-Pandemie immense Aktivitäten der medizinischen Forschung provoziert und der Impfstoffentwicklung in kürzester Zeit einen rasanten Wissenssprung ermöglicht. Auch sie erweist sich als Türöffner für neue Technologien, die erst jetzt in großem Rahmen getestet werden können. Wie Paul Ehrlich die kolonialen Schlafkrankheitsstudien als Erprobungsfeld für die Chemotherapie von Infektionskrankheiten nutzte, lassen sich auch an Corona erzielte Erkenntnisse auf weitere Felder der Medizin übertragen. Vor allem die sogenannten mRNA-Impfstoffe, an denen seit über 15 Jahren geforscht wird, versprechen völlig neuartige Therapiemöglichkeiten auch für andere Krankheiten.
Kann sich ihr Wirkprinzip bald auch an Krebs, Alzheimer oder Diabetes bewähren? Die Hoffnung zumindest ist greifbarer geworden. Für Malaria konnte mit der mRNA-Technik bereits zum ersten Mal ein funktionierender Impfstoff entwickelt werden, der schon jetzt als „absolute game changer“ gefeiert wird. Ob der Impfstoff jedoch tatsächlich die Welt von dieser Seuche befreien wird, muss sich erst noch erweisen. Auch hierüber werden ökonomische Interessen mitbestimmen, wie sie derzeit die Diskussion um die Patente der Corona-Impfstoffe prägen. Wie sehr die Gesundheitsversorgung im Globalen Süden unter dem Forschungsboom zum Corona-Virus leiden könnte, lässt die Lepra-Impfstoffentwicklung erahnen. Sie ist gegenwärtig fast vollständig zum Erliegen gekommen, weil die damit beschäftigten Labore aufgekauft und für Corona-Vakzin-Testreihen benutzt werden. Im Gegensatz zu Corona ist die Lepra-Bekämpfung ein Feld humanitärer Interventionen und damit durch Spenden finanziert.
Insofern ist es wichtig, nicht allein auf wissenschaftliche Fortschritte zu vertrauen, sondern in der Pandemiebekämpfung immer wieder an die Ungleichheiten zwischen Globalem Norden und Globalem Süden zu erinnern. Das Beispiel HIV/AIDS zeigt exemplarisch, was passieren kann, wenn in einer Pandemie Forschungsergebnisse nur in den reichen Regionen der Welt verwertbar gemacht werden. Natürlich ist die Verteilung von Impfstoffen nur bedingt mit der Schaffung einer Gesundheitsinfrastruktur zu vergleichen, in der HIV-Infizierte über Jahrzehnte täglich Medikamente erhalten könnten. Dennoch rufen angesichts der aktuellen globalen Verteilung der Corona-Impfstoffe insbesondere AIDS-Expert:innen dazu auf, mit der neuen Pandemie nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.
Nachdrücklich wird gemahnt, dass eine dauerhafte Verbreitung von Corona-Infektionen in anderen Teilen der Welt zwangsläufig zu Mutationen und absehbar auch zu Resistenzen führen werde, vor denen sich auch Europa nicht wird schützen können. Doch ob mit diesem Argument, dass die globale Bekämpfung der Pandemie zu einem Interesse des Nordens erklärt, tatsächlich vergangene Fehler vermieden werden, scheint fraglich. Wichtiger wäre es anzuerkennen, dass der Umgang mit der Pandemie nicht von den noch immer bestehenden Ungleichheiten zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden zu trennen ist. Globale Krankheiten treffen eben weder die ganze Welt gleichermaßen, noch erweisen sie sich als die großen Gleichmacher. Vielmehr liegt die Globalität von Krankheiten oftmals gerade in der Unterschiedlichkeit, mit der sie verschiedene Weltregionen prägen.