Inzwischen lässt sich das perfide Schauspiel auf nahezu jeder Demonstration gegen die Bemühungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beobachten: Demonstranten, die in der Kleidung von KZ-Häftlingen Plakate mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ hochhalten; T-Shirts, die Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ zeigen; Redner:innen, die ihr eigenes „Schicksal“ in dem von Sophie Scholl oder Anne Frank wiedererkennen. Die immer schrillere Kritik an der vermeintlichen „Corona-Diktatur“ kommt ohne die Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus und die Verharmlosung seiner Verbrechen nicht mehr aus. In ihr findet eine neue Spielart des Geschichtsrevisionismus eine Bühne, die die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht mehr zu leugnen sucht, sondern durch Aktualisierung zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dahinter steht eine Strategie der Provokation, die bewusst mit der erwartbaren Empörung kalkuliert. Sie eröffnet ein Dilemma, weil jede Gegenrede – ob empört, ironisch, aufklärerisch oder trotzig – immer auch die öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, auf die die widerwärtigen Gleichsetzungen zielen.
Dies spricht nicht gegen deutlichen Widerspruch, wie ihn etwa die Historikerin Andrea Löw wortstark erhoben hat. Aber es unterstreicht, wie wichtig es ist, der Provokation des neuen Geschichtsrevisionismus auch in anderer Weise entgegenzutreten. Das Gedächtnis eines Landes besteht ja nicht nur im öffentlichen Diskurs und seinen erinnerungskulturellen Routinen und Normen. Es setzt sich ebenso aus den vielen Geschichten zusammen, die sich seine Menschen untereinander von der Vergangenheit erzählen und den Vorstellungen, die sie sich von ihr machen. »Kommunikatives Gedächtnis« wird dieser Teil der kollektiven Erinnerung genannt, in dem die persönlichen Erinnerungen der Menschen ihren Platz haben, aber auch ihre je eigenen Auseinandersetzungen mit älterer Vergangenheit. Das Gedächtnis ist ein großes Mitmachprojekt und gerade für den Nationalsozialismus eröffnen eine nicht zu überblickende Fülle an Erinnerungsberichten, Romanen, Filmen und Fachbüchern auch den Nachgeborenen Möglichkeiten, sich ein eigenes Bild von dieser Zeit zu machen. Wie des Nationalsozialismus gedacht wird, hat insofern auch jede:r ein Stück weit selbst in der Hand und damit die Chance, den Anmaßungen des neuen Geschichtsrevisionismus eine andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus entgegenzuhalten: Viel wäre gewonnen, wenn die plumpen Provokationen zum Anlass würden, sich erneut mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu konfrontieren und von den Berichten seiner Opfer neu berühren und irritieren zu lassen.
Zum Beispiel: Theodor Kramer

Theodor Kramer; Quelle: theodorkramer.at
Zum Beispiel von den sensiblen „Angstgedichten“ (Herta Müller) Theodor Kramers. Sie gehören für mich zu dem Eindrucksvollsten, das über die Ausgrenzungsgesellschaft des Nationalsozialismus geschrieben worden ist. Dennoch sind sie – trotz Interventionen von Marcel Reich-Ranicki, Herta Müller und anderen – im deutschen Erinnerungsdiskurs weitgehend unbekannt. Dies ist durchaus erstaunlich, denn in den 1930er Jahren war der 1897 in einem Dorf bei Wien geborene Kramer eine bekannte Person gewesen. Er gehörte zu den meistgedruckten Lyrikern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, erhielt Auszeichnungen, konnte seine Gedichte im Rundfunk lesen und wurde von Schriftstellerkolleg:innen verehrt. „Es ist keiner unter uns“, bekannte etwa Stefan Zweig, „der für Theodor Kramer nicht die äußerste Bewunderung hätte“. Seine Versbücher waren für ihn schon am Ende der 1930er Jahre „zum unzerstörbaren Bestand deutscher Lyrik“ geworden.
In ihnen hatte Kramer damals etwa seit einem Jahrzehnt von den Dingen geschrieben, die er aus eigener Anschauung kannte: von Niederösterreich und den Menschen, die dort lebten. Dabei widmete er sich vor allem jenen, „die ohne Stimme sind“. Seine Gedichte bevölkern Landstreicher, Arbeitslose und Hilfsarbeiter, Mägde, Selbstmörder, Säuferinnen und alte Leute. Ihre Schauplätze sind Wirtshäuser und Versorgungsheime, Krankenanstalten, Asyle, Hinterhöfe, Landstraßen, Stundenhotels, Arbeitsstätten und Bahndämme. Kramer war ein Heimatdichter, aber heimelig wurde es in seinen Versen nicht. Seine Gedichte waren vielmehr genaue Beobachtungen der gesellschaftlichen Realität, in denen der Autor die „Dinge und Begebenheiten bei ihrem rechten Namen“ nennen wollte: Das Schwelgen in der Schönheit der Natur war für Kramer nicht zu haben ohne den Blick auf vergiftete Flüsse und Industriebrachen. Wanderromantik gab es nicht ohne das Elend und die Einsamkeit in den Obdachlosenasylen. Seine Sympathie für die Randfiguren der Gesellschaft sah nicht über deren Schwächen – über Neid, mangelnde Solidarität und Gewalt – hinweg.
Poesie bot für Kramer keinen Ausweg aus den Härten und Unerbittlichkeiten des Lebens. Sie rückte diese vielmehr in ein scharfes Licht, weil „stärker und nachhaltiger“ wirke, „was in Versen vorgetragen“ wird. Dafür erlegte sich Kramer ein enges Formkorsett auf, das meist auf Kreuzreimen gründete und seinen Gedichten einen liedhaften Rhythmus verleiht. Dass seine Gedichte heute, wenn überhaupt, noch als Vertonungen ein Publikum finden, hat hier seinen Grund. Gemessen an den Experimenten anderer Lyriker dieser Zeit wirken seine Verse damit eher konventionell. Doch eben mit der Formstrenge zwang sich Kramer zum so sorgsamen Wägen der Worte: Aus ihr gewann er seine Poesie der Genauigkeit, die sein rund 12.000 Gedichte umfassendes Werk von den frühen Zeilen über die Randgestalten der Gesellschaft bis zu seinen Versen im hohen Alter durchzieht, die mit großer Unerbittlichkeit die Leiden des Alterns sezieren.
Einbruch des Nationalsozialismus

Strassenszene vom „Anschluss“ in Wien, 15. März 1938; Quelle: kulturpool.at
Poetische Präzision bestimmt auch seine Gedichte zum Nationalsozialismus, zu dem Kramer früh und deutlich Stellung bezogen hatte. Noch im Frühjahr 1933 protestierte Kramer öffentlich gegen den Abdruck seiner Gedichte in nationalsozialistischen Zeitschriften und zog alle seine Arbeiten aus Deutschland zurück. Als fünf Jahre später Österreich unter dem Jubel der meisten seiner Bewohner dem Deutschen Reich „angeschlossen“ wurde, traf dies Kramer hart – nicht nur, weil an seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus kein Zweifel bestehen konnte, sondern vor allem, weil er den neuen Machthabern durch den Glauben seiner Eltern als „Jude“ galt.
Dass er Jude war, hatte für Kramer bislang kaum eine Rolle gespielt. Nun machte es auch ihn zur Zielscheibe der antisemitischen Politik, die sich insbesondere in Wien mit ungeahnter Brutalität Bahn brach: Mit Gewalt auf den Straßen. Mit einer Vielzahl stigmatisierender Regelungen und Verbote. Nur sechs Wochen nach dem umjubelten Einmarsch der Wehrmacht in Österreich mussten er und seine Frau ihre Wohnung verlassen und – gemeinsam mit Kramers Bruder – bei seiner Mutter einziehen. Kaum später begann das Ehepaar sich nach Ausreisemöglichkeiten umzusehen: in die USA, nach England oder die Dominikanische Republik – Hauptsache ins Ausland. Die Suche gestaltete sich schwierig und verursachte bei dem Dichter einen Nervenzusammenbruch und einen Selbstmordversuch im August 1938. Erst ein Jahr später gelang schließlich die Flucht dank prominenter Unterstützung: Thomas Mann, Stefan Zweig, Franz Werfel und andere setzten sich im Ausland für Kramer ein. Ende Juli 1939 erreichte er England, wo er Krieg und Holocaust überlebte.
Gedichte von der Angst
Verglichen mit anderen Schicksalen hatte Theodor Kramer damit Glück. Er entging durch seine Flucht kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges einer späteren Deportation. Und er gehörte auch nicht zu denen, die im Frühjahr 1938 auf offener Straße gedemütigt und misshandelt oder verhaftet und in Gefängnissen gefoltert wurden. „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“, bekannte er im Sommer 1938 während seiner Suche nach einer Ausreisemöglichkeit. „Ich fahr wie früher mit der Straßenbahn/ und gehe unbehelligt durch die Gassen/ ich weiß bloß nicht, ob sie mich gehen lassen./ Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.“

Juden und NS-Gegner wurden im März 1938 gezwungen die Straßen von Parolen zu reinigen; Quelle: Kulturpool.at
Statt der offenen Gewalt des Nationalsozialismus, die uns heute deutlich vor Augen steht, durchlebte Kramer im Frühjahr und Sommer 1938 die ebenso rasante und brutale, aber weniger sichtbare Isolation der Juden. Und für sie fand er in seinen Gedichten Worte und Bilder, die noch heute die tiefe Unsicherheit spüren lassen, in die der Nationalsozialismus seine Opfer stürzte: „So gewaltig ist nichts, und nichts lässt so nicht ruhn,/ wie die Angst, die den Menschen befällt,/ wenn es ihm nicht erlaubt ist, sein Tagwerk zu tun/ und er gar nichts mehr gilt auf der Welt./ Wie ein Schlafwandler, der jäh erwacht aus dem Traum/ auf dem First, steht er da und nichts bietet im Raum/ seinem Griff sich, woran er sich hält.“ Kramers Angstgedichte aus dem Frühjahr und Sommer 1938 vermessen den plötzlichen Verlust des bisherigen Lebens in vielerlei Hinsicht und führen ihn an den Details des neuen Alltags vor. An den überfüllten Wohnungen etwa, in denen nicht nur Menschen gezwungenermaßen zusammenrücken, sondern auch ihr Hausrat. „Nun ziehn die Leute überall zusammen,/ die Kinder finden still ins Haus zurück;/ die Möbel, die von Mutters Eltern stammen,/ stehn seltsam neben manchem Schleiflackstück./ Der Blick hält sich an Bett und Tisch und Kasten,/ sonst ist die Wohnung nur ein Magazin;/ um einen Brief zu schreiben, um zu rasten,/ schiebt man die Garnituren her und hin.“ Möbel und andere Dinge hindern das Leben, verstopfen den engen Raum, sind zugleich aber auch Überbleibsel, an die sich die Menschen klammern: „Tisch und Spind, die Wandbank in der Ecke,/ jedes Ding gewinnt an Wichtigkeit;/ Schutz gewähren plötzlich Wand und Decke/ wie zu Vaters und zu Mutters Zeit./ … / Um den nächsten Monat noch zu leben, rechnet man beständig hin und her;/ den verstimmten Flügel fortzugeben,/ den man nie benützte, fällt nun schwer.“
Alleine und ohne Halt
Überhaupt ist Kramer auf die Wohnung zurückgeworfen, die nun alles geworden ist: „Schlafraum, Straße, Garten und Café“. Durch die Straßen seines geliebten Wien bewegt er sich nur unsicher und verloren. „Wenn mich auf der Straße jemand streift,/ muß ich denken: will er mir auch gut?/ Früher hätt ich nicht daran gedacht,/ und ich hätte mir nichts draus gemacht,/ hätt sein Blick auch scheel auf mir geruht.“ Unerbittlich seziert Kramer dabei auch, wie er und andere die eigene Isolation noch selbst vorantreiben. „Er sieht niemanden an und betritt keinen Schank,/ denn er meint, ihm ist mehr noch verwehrt,/ als man ihm schon verwehrte; das macht ihn ganz krank,/ daß er selber sich alles erschwert/ … / Seinen Reis trägt er früh unterm Mantel scheu heim;/ eh gekündigt wird, räumt er das Haus./ Was die Welt von ihm weiß, hält er ängstlich geheim,/ und das Heimlichste plaudert er aus./ Wo er niedersitz, schweigt er und macht sich ganz klein,/ und er scharrte am liebsten für immer sich ein/ vor der Zeit, wie im Winkel die Maus.“

Straßenszene, Wien 1938; Quelle: kulturpool.at
Gesten der Solidarität, wie ein an die Tür gehängter Blütenzweig, rühren ihn, auch wenn er nicht weiß, ob dieser nur „aus einer Art von Pflicht“ hinterlassen wurde oder von einem früheren Freund. Von ihnen fühlt sich Kramer so entfernt, dass er noch im Mai 1938 bekannte, sie nicht mehr verstehen zu können: „Ich kann nichts über euch mehr schreiben,/ ich weiß heut nicht mehr was ihr sinnt./ Vertraut war ich mit eurem Treiben/ und Tun schon als verwöhntes Kind;/ … / Was ist von alledem geblieben?/ Mein Kinn schrumpft ein, es graut mein Haar;/ viel habe ich über euch geschrieben,/ für damals war es wohl auch wahr.“ Heftig empfindet er den Verlust der Heimat, die er in seinen früheren Gedichten so intensiv beschrieben hat: „Andre, die das Land so sehr nicht liebten,/ warn von Anfang an gewillt zu gehen;/ ihnen – manche sind schon fort – ist besser,/ ich doch müßte mit dem eignen Messer/ meine Wurzeln aus der Erde drehn.“
Wie er die alten Freunde und das ihm bislang so vertraute Land verliert, so findet er unter denen, deren Schicksal er teilt, keinen neuen Halt. „Immer zählte ich mich zu den anderen“, bekennt Kramer in einem fiktiven Dialog mit religiösen Juden, „über Nacht ward mir bestimmt zu wandern/ und man reihte stumm zu Euch mich ein:/ was lasst sehn‘ hab ich mit Euch gemein.// Nicht den Glauben, nicht die gleiche Sitte/ und es schweigt mein Blut in Eurer Mitte/ so wie es schwieg die ganze Zeit:/ gleich sind wir ein wenig nur im Leid.// … / Schwer ist’s für uns beide zu beginnen/ blicken wir auch noch so sehr nach innen/ und vielleicht kommt es dazu auch nie:/ gleich an uns ist nur das eine – sie.“
Weitergeben!
Kramers leise Gedichte sind voller eindrücklicher Bilder und Empfindungen der rasanten Ausgrenzung, die der Nationalsozialismus vor seiner genozidalen Gewalt bedeutete. Sie schaffen Nähe auch für heutige Leser:innen, machen dessen Verbrechen anschaulich und greifbar, und zeigen mit ihrer Poesie der Präzision doch, wie entfernt Kramers Erfahrungen den heutigen sind. Mein Nachdenken über den Nationalsozialismus haben sie nachhaltig geprägt und viele seiner Zeilen sind mir Merksätze geworden. Theodor Kramer hätte das wohl gefallen. Ende Mai 1938, einige Wochen vor seinem Selbstmordversuch, notierte er ein kleines Gedicht über das Kaffeehaus, wo er viele Jahre das Leben beobachtet und bedichtet hatte. Resignation und Trauer bestimmen die Verse: „Ich war, wenn dort die Wände/ mich bargen, erst zu Haus;/ dort schrieb ich viele Bände,/ damit ist es nun aus.// Ich mach mir keine Zeichen,/ längst bleibt mein Merkheft leer;/ ein Mensch wie meinesgleichen/ hat nichts zu schreiben mehr.“ Kramer war müde, lebensmüde, aber nicht ohne Hoffnung: „ich will bald schlafen gehen;/ von dem, was ich geschrieben,/ bleibt dies und das wohl stehn./ Wenn zwei sich’s weitergeben/ bei einer Schale Tee,/ dann sitz ich still daneben/ im himmlischen Cafe.“ Ließe sich eine bessere Zeit für die Weitergabe seiner einprägsamen Verse denken, als dieser Winter der dumpfen Geschichtsrelativierung?
Kramers Gedichte aus dem Frühjahr und Sommer 1938 finden sich vor allem im ersten Band der Gesammelten Gedichte, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2005. Wer sie lieber hören als lesen mag, dem seien die Vertonungen von Wenzel empfohlen: Lied am Rand und Vier Uhr früh.