Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) gilt heute als Gewalt gegen Frauen in nicht-westlichen Gesellschaften. Die ‚eigene‘ Geschichte der Genitalverstümmelung, die bis ins frühe 20. Jahrhundert reichte, geht dabei vergessen.

  • Norbert Finzsch

    Norbert Finzsch ist em. Pro­fes­sor für Anglo-Ameri­kani­sche Ge­schich­te an der Uni­versität zu Köln. Er ist Mit­heraus­geber der Reihe "American Culture", Mitglied des Wissen­schaft­lichen Bei­rats und Mit­heraus­geber der "Reihe Geschlecht - Kultur - Gesellschaft" und Mit­glied des Wissen­schaftlichen Beirats der Reihe "Konflikte und Kultur - Histori­sche Perspek­tiven".

Weib­liche Geni­tal­ver­stüm­me­lung (Female Genital Muti­la­tion, FGM) wird gegen­wärtig in einem Diskurs thema­ti­siert, der das Recht von Frauen auf sexu­elle Selbst­be­stim­mung mit einer bestimmten Form der Kritik nicht­west­li­cher Gesell­schaften und Gemein­schaften verbindet. Stich­worte wie „Frauen im Islam“ oder „Frauen in afri­ka­ni­schen Gesell­schaften“ werden mit einer femi­nis­ti­schen Kritik an Gewalt gegen Frauen verbunden und verknüpft. Orga­ni­sa­tionen wie die UNICEF oder die WHO orga­ni­sieren Aufklä­rungs­kam­pa­gnen, um FGM zu begrenzen und abzuschaffen.

Diese flagrante Verlet­zung der Menschen­rechte hat in diesem Diskurs ein geogra­phi­sches Zentrum; laut WHO handelt es sich um 30 Länder in Afrika, dem Mitt­leren Osten und Asien, in denen FMG tagtäg­lich und massen­haft prak­ti­ziert wird. Mehr als 200 Millionen heute lebende Frauen und Mädchen wurden demnach Opfer von weib­li­cher Geni­tal­ver­stüm­me­lung. ‚Führend‘ ist Somalia, wo bis zu 98 Prozent aller Frauen dieser Prozedur unter­zogen werden. Aber auch in Groß­bri­tan­nien werden Frauen und Mädchen immer noch verstüm­melt – obwohl FMG hier seit 1985 verboten ist.

Das alles ist bekannt. Weit weniger bekannt ist aller­dings, dass die weib­liche Geni­tal­ver­stüm­me­lung in weiten Teilen Europas über Jahr­hun­derte prak­ti­ziert worden ist – und zwar nicht von Ange­hö­rigen nicht­christ­li­cher Bekennt­nisse oder von afri­ka­ni­schen Einwan­de­rern, sondern von ‚weißen’ Ärzten, die diese Opera­tionen an ‚weißen’ Frauen und Mädchen vorge­nommen haben.

Gynä­ko­logie, Hysterie und weib­liche Sexualität

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James Marian Sims; Quelle: wikipedia.org

Die Geschichte der Gynä­ko­logie im Westen ist die Geschichte der Unter­wer­fung weib­li­cher Körper unter die Kontrolle männ­li­cher Ärzte: Im Gegen­satz zum 17. und 18. Jahr­hun­dert, in denen die Frau­en­heil­kunde und die Geburts­hilfe auch von Nicht­me­di­zi­ne­rinnen und Hebammen prak­ti­ziert wurde, geriet das Fach im 19. Jahr­hun­dert in Europa und in den USA voll­kommen unter die Domi­nanz weißer männ­li­cher Schul­me­di­ziner. Ärzte wie der „Vater der Gynä­ko­logie“ – und auch Skla­ven­halter – Dr. James Marion Sims aus Alabama unter­warfen um die Mitte des 19. Jahr­hun­derts schwarze Skla­vinnen zahl­rei­chen schmerz­haften, weil ohne Anäs­thesie vorge­nom­menen und medi­zi­nisch zwei­fel­haften Expe­ri­menten auf dem Opera­ti­ons­tisch, um eine Behand­lungs­me­thode für Vagi­nal­fis­teln zu finden.

Aber nicht nur die Repro­duk­ti­ons­fä­hig­keit von Frauen wurde auf eine solche Weise insti­tu­tio­nell und diskursiv medi­ka­li­siert. Viel­mehr geriet weib­liche Sexua­lität als solche zuneh­mend ins Visier männ­li­cher Ärzte, die ‚abwei­chende’ Formen von Sexua­lität im Zusam­men­hang mit der Biopo­litik ihrer jewei­ligen Natio­nal­staaten eifrig und argwöh­nisch kontrol­lierten. So galt insbe­son­dere weib­liche Mastur­ba­tion zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts als eine Krank­heit, die mit allen Mitteln zu bekämpfen war – nicht zuletzt mit der Klitoridektomie.

Steven Blanckaert: Lexicon medicum. Halle, 1748; Quelle: beim Autor

Steven Blanck­aert: Lexicon medicum. Halle, 1748; Quelle: beim Autor

Diese gänz­liche oder teil­weise opera­tive Entfer­nung der Klitoris wurde zu diesem Zeit­punkt zwar schon länger prak­ti­ziert; sie erlebte aber im Zeichen der Diskus­sion um Bevöl­ke­rungs­zu­wachs, öffent­li­cher Gesund­heit und Verän­de­rungen der ‚ange­mes­senen’ Rollen von Frauen während der ersten Jahr­zehnte des 19. Jahr­hun­derts eine deut­liche Zunahme. So heißt es in einem einfluss­rei­chen Fach­buch für Frau­en­heil­kunde im Jahre 1836 unver­blümt: „Sehr selten kommt eine bedeu­tende Hyper­tro­phie der Klitoris vor. Beob­achtet man sie, so ist diess [sic] bei Indi­vi­duen, wo sich schon bei Kind­heit die Klitoris ansehn­lich entwi­ckelte und später diese Entwi­cke­lung exzessiv beför­dert wird durch Reizung dieses Organ’s auf wider­na­tür­liche Weise. In solchen Fällen bleibt kein kürzeres und sicheres Mittel als die Exstir­pa­tion der Klitoris.“

Frauen sollten mit diesem brachialen Eingriff von Geis­tes­krank­heiten, Hysterie und Mastur­ba­tion geheilt werden. Die Histo­ri­kerin Marylin French spricht in diesem Zusam­men­hang von einem „Krieg gegen Frauen“. Führend in diesem „Krieg“ waren zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts deut­sche und fran­zö­si­sche Ärzte. Bereits 1828 führte ein fran­zö­si­scher Gynä­ko­loge unter Beru­fung auf eine Opera­tion in Berlin aus, „dass im Juni 1825 ein Mädchen von 14 Jahren als Folge der Mastur­ba­tion in den abso­lu­testen Idio­tismus gefallen sei, und dass ein Arzt aus Berlin sie durch Entfer­nung der Klitoris geheilt habe“. Und schon 1832 war die Lehr­mei­nung der Ärzte in Frank­reich ganz klar:

Die Klitoris weist mitunter eine unmä­ßige Länge und Dicke auf, die die Geni­tal­funk­tionen beein­träch­tigen können. Frauen mit dieser Entstel­lung unter­liegen oft den Versu­chungen derje­nigen Leiden­schaften, die ihre Gesund­heit unter­graben und gleich­zeitig ihre Moral beschä­digen. Die Entfer­nung der Klitoris ist das einzig mögliche Mittel, um einem solchen Fall gerecht zu werden.

Im Journal de méde­cine et de chir­urgie prati­ques à l’usage des méde­cins prati­ciens aus dem Jahre 1835 bemerkte der Verfasser ganz in diesem Sinne und ohne jeden Selbstzweifel:

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Ein kleines Mädchen von zehn Jahren prak­ti­zierte den Onanismus seit ihrer zartesten Kind­heit. Sie verdankte diese Ange­wohn­heit ihrem Kinder­mäd­chen , welches fest­ge­stellt hatte, dass sie sich durch Reizung der Klitoris beru­higen ließ. […] Als den Eltern der Grund für ihre Erschöp­fungs­zu­stände klar wurde, unter­nahmen sie alles Erdenk­liche, um die Ursache abzu­stellen, vergeb­lich. Auch mecha­ni­sche Mittel hinderten sie nicht daran, [ihrem Laster nach­zu­gehen]. Seit acht Jahren schon frönte sie der Onanie und man musste befürchten, dass sie in Zustände der Idiotie und Erschöp­fung fallen würde. Also entschlossen sich die Eltern zur Entfer­nung der Klitoris. Die Opera­tion wurde mit großem Erfolg von Doktor Jobert durchgeführt.

Das Vorbild für diese brachiale Praxis war, wie zu Beginn des 19. Jh. häufig, die grie­chi­sche Medizin. So heißt es in einem Text aus dem Jahr 1839: „[D]ie Klitoris ist für alle mögli­chen Formen der Dege­ne­ra­tion empfäng­lich. Die Alten [Grie­chen], die sie sehr oft ampu­tierten, hatten kein anderes Ziel, als die zu große Feuch­tig­keit der Frauen zu mäßigen.“

In Groß­bri­tan­nien war es nament­lich Dr. Isaak Baker Brown, der als Auto­rität auf dem Gebiet der Klito­ri­dek­tomie zur Behand­lung von Hysterie galt. Im Jahr 1866 schrieb er über einen seiner „Fälle“, er habe sich von seiner Pati­entin und ihrer Mutter ausdrück­lich bestä­tigen lassen, „dass sie seit langem der Selbst­sti­mu­la­tion der Klitoris gefrönt hatte, die ihr von einer Klas­sen­ka­me­radin beigebracht worden sei. Der Beginn ihrer Erkran­kung korre­spon­dierte genau mit dem Ursprung der Ursache. Ja, Ursache und Wirkung sind in diesem Fall so perfekt mani­fest, dass man zur Stel­lung einer korrekten Diagnose wenig mehr hören muss als diese Geschichte. […] Am Tage nach ihrer Einwei­sung wurde sie operiert und von diesem Tage ab hatte sie nie wieder einen Anfall.“

Klitoris-Beschneidung als ärzt­liche Technik

Die Liste der Fach­bü­cher, medi­zi­ni­schen Artikel und Nach­schla­ge­werke, die zwischen 1820 und 1920 erschienen sind und die Klito­ri­dek­tomie als Heil­mittel für Neurosen, Idiotie, Hysterie, Schwä­che­zu­stände oder Nervo­sität von Frauen vorschlugen, ist lang. Alleine die Biblio­t­hèque Natio­nale de France weist zwischen 1825 und 1916 ganze 62 Titel auf, in denen Fach­ärzte dieses Mittel als Panazee, als Universal-Heilmittel vorschlugen.

Nikolaus Friedreich; Quelle: america.pink

Niko­laus Friedreich; Quelle: america.pink

Gänz­lich unum­stritten war die Klito­ri­dek­tomie aller­dings nicht. Als sich in der Zeit der deut­li­chen Zunahme dieser Praxis um die Mitte des 19. Jahr­hun­derts vorsich­tige Kritik an ihr äusserte, erschien es deshalb zuneh­mend notwendig, dass auch führende medi­zi­ni­schen Auto­ri­täten die Klito­ri­dek­tomie recht­fer­tigten. So zum Beispiel der Ordi­na­rius für Patho­logie in Heidel­berg, Niko­laus Friedreich, der in Rudolf Virchows berühmten Archiv für Patho­lo­gi­sche Anatomie und Physio­logie und für Klini­sche Medicin 1882 über eine erfolg­reiche Behand­lung von Hysterie durch die chir­ur­gi­sche Entfer­nung der Klitoris berich­tete. Friedreich vertei­digte das Vorgehen, Hysterie durch die Entfer­nung der Klitoris zu ‚heilen’; er pole­mi­sierte gegen die „neueren Gynä­ko­logen und Neuro­pa­tho­logen“, die jenen „Theil der weib­li­chen Geschlechts­ap­pa­rate“ unbe­rück­sich­tigt lassen würden, „welcher bei seinem Reicht­hume an Nerven wohl mehr und häufiger als die übrigen Theile den Ausgangs­punkt einer localen, das Gesammt­ner­ven­system früher oder später in Mitlei­den­schaft ziehenden Reizung darzu­stellen geeignet sein möchte.“

Dabei bezog Professor Friedreich sich wiederum auf „Baker Brown in London“, der 1866 „die Klitoris als jenes Gebilde bezeich­nete, von welchem in zahl­rei­chen Fällen die Entste­hung der Hysterie abge­leitet werden kann und durch dessen thera­peu­ti­sche Inan­griff­nahme die schwersten und allen sons­tigen Mitteln in hart­nä­ckiger Weise trot­zenden Formen der genannten Erkran­kung rasch und dauernd besei­tigt werden könnten“. Zudem verwies Friedreich auf seinen Wiener Kollegen Gustav Braun, der zwei „junge unver­hei­ra­thete Weiber von 24 resp. 25 Jahren […], die, von äusserst heftigen geschlecht­li­chen Aufre­gungen gequält, der Mastur­ba­tion in höchstem Grade ergeben und dadurch in einen Zustand solcher körper­li­chen und intellec­tu­ellen Schwäche gera­then waren, dass sie zu jeder Beschäf­ti­gung völlig unfähig wurden“. Erst „durch die Ampu­ta­tion der Clitoris und der kleinen Nymphen vermit­telst der galva­no­kaus­ti­schen Schnei­de­sch­linge“ habe Braun „Heilung erzielt“. Friedreich schlug aller­dings, anders als Braun, vor, die Klitoris nicht, wie bisher, durch Beschnei­dung zu entfernen, sondern durch Kaute­ri­sieren; zugleich setzte er sich für den Einsatz eines Anäs­the­ti­kums ein.

…bis ins 20. Jahrhundert

In England und den USA hielten sich die Theo­rien Baker Browns über den Zusam­men­hang von Mastur­ba­tion und psychi­schen Krank­heiten auch noch Jahre, nachdem ihr Erfinder als Schar­latan aus der medi­zi­ni­schen Gesell­schaft ausge­schlossen worden war. Ein Kompen­dium mit dem spre­chenden Titel Exces­sive Venery Mastur­ba­tion aus dem Jahre 1889 verwies auf die Selbst­be­frie­di­gung als Ursache der meisten Krank­heiten. Noch 1916 erklärte ein Artikel in einer fran­zö­si­schen Fach­zeit­schrift die Entfer­nung der Klitoris und der Scham­lippen als letzt­end­li­ches Heil­mittel in Fällen von vagi­nalem Juck­reiz. In den USA wurde Klito­ri­dek­tomie noch in den 1950er Jahren disku­tiert, um die „Heilung“ von „frigiden“ Frauen zu fördern. Als frigide wurden dieje­nigen Frauen bezeichnet, die nur durch Reizung der Klitoris zum Orgasmus kämen, während „reife, wahre“ Frauen einen „vagi­nalen“ Orgasmus erfahren würden.

Erst das Vordringen der Psycho­ana­lyse setzte dem medi­zi­ni­schen Diskurs um die Klito­ri­dek­tomie eine Grenze – ein Prozess, der durch die „Entde­ckung“ der Klito­ri­dek­tomie unter den kolo­ni­sierten Völkern vor allem Afrikas noch gestärkt wurde. Die Notwen­dig­keit der kontras­tie­renden Heraus­stel­lung der Über­le­gen­heit und Zivi­li­sa­tion der ‚weißen Rasse’ gegen­über den Kolo­ni­sierten erlaubte es den kriti­schen Stimmen, die sich gegen die Klito­ri­dek­tomie erhoben, sich des Diskurses zu bemäch­tigen und die Praxis, welche nun als barba­risch klas­si­fi­ziert werden konnte, bis zur Mitte des 20. Jahr­hun­derts aus den Opera­ti­ons­sälen und den gynä­ko­lo­gi­schen Praxen Europas zu verbannen.