Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) wird gegenwärtig in einem Diskurs thematisiert, der das Recht von Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung mit einer bestimmten Form der Kritik nichtwestlicher Gesellschaften und Gemeinschaften verbindet. Stichworte wie „Frauen im Islam“ oder „Frauen in afrikanischen Gesellschaften“ werden mit einer feministischen Kritik an Gewalt gegen Frauen verbunden und verknüpft. Organisationen wie die UNICEF oder die WHO organisieren Aufklärungskampagnen, um FGM zu begrenzen und abzuschaffen.
Diese flagrante Verletzung der Menschenrechte hat in diesem Diskurs ein geographisches Zentrum; laut WHO handelt es sich um 30 Länder in Afrika, dem Mittleren Osten und Asien, in denen FMG tagtäglich und massenhaft praktiziert wird. Mehr als 200 Millionen heute lebende Frauen und Mädchen wurden demnach Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung. ‚Führend‘ ist Somalia, wo bis zu 98 Prozent aller Frauen dieser Prozedur unterzogen werden. Aber auch in Großbritannien werden Frauen und Mädchen immer noch verstümmelt – obwohl FMG hier seit 1985 verboten ist.
Das alles ist bekannt. Weit weniger bekannt ist allerdings, dass die weibliche Genitalverstümmelung in weiten Teilen Europas über Jahrhunderte praktiziert worden ist – und zwar nicht von Angehörigen nichtchristlicher Bekenntnisse oder von afrikanischen Einwanderern, sondern von ‚weißen’ Ärzten, die diese Operationen an ‚weißen’ Frauen und Mädchen vorgenommen haben.
Gynäkologie, Hysterie und weibliche Sexualität

James Marian Sims; Quelle: wikipedia.org
Die Geschichte der Gynäkologie im Westen ist die Geschichte der Unterwerfung weiblicher Körper unter die Kontrolle männlicher Ärzte: Im Gegensatz zum 17. und 18. Jahrhundert, in denen die Frauenheilkunde und die Geburtshilfe auch von Nichtmedizinerinnen und Hebammen praktiziert wurde, geriet das Fach im 19. Jahrhundert in Europa und in den USA vollkommen unter die Dominanz weißer männlicher Schulmediziner. Ärzte wie der „Vater der Gynäkologie“ – und auch Sklavenhalter – Dr. James Marion Sims aus Alabama unterwarfen um die Mitte des 19. Jahrhunderts schwarze Sklavinnen zahlreichen schmerzhaften, weil ohne Anästhesie vorgenommenen und medizinisch zweifelhaften Experimenten auf dem Operationstisch, um eine Behandlungsmethode für Vaginalfisteln zu finden.
Aber nicht nur die Reproduktionsfähigkeit von Frauen wurde auf eine solche Weise institutionell und diskursiv medikalisiert. Vielmehr geriet weibliche Sexualität als solche zunehmend ins Visier männlicher Ärzte, die ‚abweichende’ Formen von Sexualität im Zusammenhang mit der Biopolitik ihrer jeweiligen Nationalstaaten eifrig und argwöhnisch kontrollierten. So galt insbesondere weibliche Masturbation zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine Krankheit, die mit allen Mitteln zu bekämpfen war – nicht zuletzt mit der Klitoridektomie.

Steven Blanckaert: Lexicon medicum. Halle, 1748; Quelle: beim Autor
Diese gänzliche oder teilweise operative Entfernung der Klitoris wurde zu diesem Zeitpunkt zwar schon länger praktiziert; sie erlebte aber im Zeichen der Diskussion um Bevölkerungszuwachs, öffentlicher Gesundheit und Veränderungen der ‚angemessenen’ Rollen von Frauen während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine deutliche Zunahme. So heißt es in einem einflussreichen Fachbuch für Frauenheilkunde im Jahre 1836 unverblümt: „Sehr selten kommt eine bedeutende Hypertrophie der Klitoris vor. Beobachtet man sie, so ist diess [sic] bei Individuen, wo sich schon bei Kindheit die Klitoris ansehnlich entwickelte und später diese Entwickelung exzessiv befördert wird durch Reizung dieses Organ’s auf widernatürliche Weise. In solchen Fällen bleibt kein kürzeres und sicheres Mittel als die Exstirpation der Klitoris.“
Frauen sollten mit diesem brachialen Eingriff von Geisteskrankheiten, Hysterie und Masturbation geheilt werden. Die Historikerin Marylin French spricht in diesem Zusammenhang von einem „Krieg gegen Frauen“. Führend in diesem „Krieg“ waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutsche und französische Ärzte. Bereits 1828 führte ein französischer Gynäkologe unter Berufung auf eine Operation in Berlin aus, „dass im Juni 1825 ein Mädchen von 14 Jahren als Folge der Masturbation in den absolutesten Idiotismus gefallen sei, und dass ein Arzt aus Berlin sie durch Entfernung der Klitoris geheilt habe“. Und schon 1832 war die Lehrmeinung der Ärzte in Frankreich ganz klar:
Die Klitoris weist mitunter eine unmäßige Länge und Dicke auf, die die Genitalfunktionen beeinträchtigen können. Frauen mit dieser Entstellung unterliegen oft den Versuchungen derjenigen Leidenschaften, die ihre Gesundheit untergraben und gleichzeitig ihre Moral beschädigen. Die Entfernung der Klitoris ist das einzig mögliche Mittel, um einem solchen Fall gerecht zu werden.
Im Journal de médecine et de chirurgie pratiques à l’usage des médecins praticiens aus dem Jahre 1835 bemerkte der Verfasser ganz in diesem Sinne und ohne jeden Selbstzweifel:
Ein kleines Mädchen von zehn Jahren praktizierte den Onanismus seit ihrer zartesten Kindheit. Sie verdankte diese Angewohnheit ihrem Kindermädchen , welches festgestellt hatte, dass sie sich durch Reizung der Klitoris beruhigen ließ. […] Als den Eltern der Grund für ihre Erschöpfungszustände klar wurde, unternahmen sie alles Erdenkliche, um die Ursache abzustellen, vergeblich. Auch mechanische Mittel hinderten sie nicht daran, [ihrem Laster nachzugehen]. Seit acht Jahren schon frönte sie der Onanie und man musste befürchten, dass sie in Zustände der Idiotie und Erschöpfung fallen würde. Also entschlossen sich die Eltern zur Entfernung der Klitoris. Die Operation wurde mit großem Erfolg von Doktor Jobert durchgeführt.
Das Vorbild für diese brachiale Praxis war, wie zu Beginn des 19. Jh. häufig, die griechische Medizin. So heißt es in einem Text aus dem Jahr 1839: „[D]ie Klitoris ist für alle möglichen Formen der Degeneration empfänglich. Die Alten [Griechen], die sie sehr oft amputierten, hatten kein anderes Ziel, als die zu große Feuchtigkeit der Frauen zu mäßigen.“
In Großbritannien war es namentlich Dr. Isaak Baker Brown, der als Autorität auf dem Gebiet der Klitoridektomie zur Behandlung von Hysterie galt. Im Jahr 1866 schrieb er über einen seiner „Fälle“, er habe sich von seiner Patientin und ihrer Mutter ausdrücklich bestätigen lassen, „dass sie seit langem der Selbststimulation der Klitoris gefrönt hatte, die ihr von einer Klassenkameradin beigebracht worden sei. Der Beginn ihrer Erkrankung korrespondierte genau mit dem Ursprung der Ursache. Ja, Ursache und Wirkung sind in diesem Fall so perfekt manifest, dass man zur Stellung einer korrekten Diagnose wenig mehr hören muss als diese Geschichte. […] Am Tage nach ihrer Einweisung wurde sie operiert und von diesem Tage ab hatte sie nie wieder einen Anfall.“
Klitoris-Beschneidung als ärztliche Technik
Die Liste der Fachbücher, medizinischen Artikel und Nachschlagewerke, die zwischen 1820 und 1920 erschienen sind und die Klitoridektomie als Heilmittel für Neurosen, Idiotie, Hysterie, Schwächezustände oder Nervosität von Frauen vorschlugen, ist lang. Alleine die Bibliothèque Nationale de France weist zwischen 1825 und 1916 ganze 62 Titel auf, in denen Fachärzte dieses Mittel als Panazee, als Universal-Heilmittel vorschlugen.

Nikolaus Friedreich; Quelle: america.pink
Gänzlich unumstritten war die Klitoridektomie allerdings nicht. Als sich in der Zeit der deutlichen Zunahme dieser Praxis um die Mitte des 19. Jahrhunderts vorsichtige Kritik an ihr äusserte, erschien es deshalb zunehmend notwendig, dass auch führende medizinischen Autoritäten die Klitoridektomie rechtfertigten. So zum Beispiel der Ordinarius für Pathologie in Heidelberg, Nikolaus Friedreich, der in Rudolf Virchows berühmten Archiv für Pathologische Anatomie und Physiologie und für Klinische Medicin 1882 über eine erfolgreiche Behandlung von Hysterie durch die chirurgische Entfernung der Klitoris berichtete. Friedreich verteidigte das Vorgehen, Hysterie durch die Entfernung der Klitoris zu ‚heilen’; er polemisierte gegen die „neueren Gynäkologen und Neuropathologen“, die jenen „Theil der weiblichen Geschlechtsapparate“ unberücksichtigt lassen würden, „welcher bei seinem Reichthume an Nerven wohl mehr und häufiger als die übrigen Theile den Ausgangspunkt einer localen, das Gesammtnervensystem früher oder später in Mitleidenschaft ziehenden Reizung darzustellen geeignet sein möchte.“
Dabei bezog Professor Friedreich sich wiederum auf „Baker Brown in London“, der 1866 „die Klitoris als jenes Gebilde bezeichnete, von welchem in zahlreichen Fällen die Entstehung der Hysterie abgeleitet werden kann und durch dessen therapeutische Inangriffnahme die schwersten und allen sonstigen Mitteln in hartnäckiger Weise trotzenden Formen der genannten Erkrankung rasch und dauernd beseitigt werden könnten“. Zudem verwies Friedreich auf seinen Wiener Kollegen Gustav Braun, der zwei „junge unverheirathete Weiber von 24 resp. 25 Jahren […], die, von äusserst heftigen geschlechtlichen Aufregungen gequält, der Masturbation in höchstem Grade ergeben und dadurch in einen Zustand solcher körperlichen und intellectuellen Schwäche gerathen waren, dass sie zu jeder Beschäftigung völlig unfähig wurden“. Erst „durch die Amputation der Clitoris und der kleinen Nymphen vermittelst der galvanokaustischen Schneideschlinge“ habe Braun „Heilung erzielt“. Friedreich schlug allerdings, anders als Braun, vor, die Klitoris nicht, wie bisher, durch Beschneidung zu entfernen, sondern durch Kauterisieren; zugleich setzte er sich für den Einsatz eines Anästhetikums ein.
…bis ins 20. Jahrhundert
In England und den USA hielten sich die Theorien Baker Browns über den Zusammenhang von Masturbation und psychischen Krankheiten auch noch Jahre, nachdem ihr Erfinder als Scharlatan aus der medizinischen Gesellschaft ausgeschlossen worden war. Ein Kompendium mit dem sprechenden Titel Excessive Venery Masturbation aus dem Jahre 1889 verwies auf die Selbstbefriedigung als Ursache der meisten Krankheiten. Noch 1916 erklärte ein Artikel in einer französischen Fachzeitschrift die Entfernung der Klitoris und der Schamlippen als letztendliches Heilmittel in Fällen von vaginalem Juckreiz. In den USA wurde Klitoridektomie noch in den 1950er Jahren diskutiert, um die „Heilung“ von „frigiden“ Frauen zu fördern. Als frigide wurden diejenigen Frauen bezeichnet, die nur durch Reizung der Klitoris zum Orgasmus kämen, während „reife, wahre“ Frauen einen „vaginalen“ Orgasmus erfahren würden.
Erst das Vordringen der Psychoanalyse setzte dem medizinischen Diskurs um die Klitoridektomie eine Grenze – ein Prozess, der durch die „Entdeckung“ der Klitoridektomie unter den kolonisierten Völkern vor allem Afrikas noch gestärkt wurde. Die Notwendigkeit der kontrastierenden Herausstellung der Überlegenheit und Zivilisation der ‚weißen Rasse’ gegenüber den Kolonisierten erlaubte es den kritischen Stimmen, die sich gegen die Klitoridektomie erhoben, sich des Diskurses zu bemächtigen und die Praxis, welche nun als barbarisch klassifiziert werden konnte, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Operationssälen und den gynäkologischen Praxen Europas zu verbannen.