Vereinfacher und Polarisierer finden derzeit viel Gehör. Populisten aller Couleur fordern klare Grenzen und stabile Identitäten, Moralisten glauben, stets sauber zwischen zwischen richtig und falsch, gut und böse trennen zu können. Eine Zeit, Bücher von Toni Morrison zu lesen.

Toni Morrison muss man als Autorin niemandem mehr vorstellen. Schon häufig ist darauf hinge­wiesen worden, dass die Schrift­stel­lerin zu den heraus­ra­genden Vertre­te­rinnen der afro­ame­ri­ka­ni­schen Lite­ratur zählt. Ihren ersten Roman Sehr blaue Augen veröf­fent­lichte sie im Jahr 1970; mit Solo­mons Lied gelang ihr 1977 der Durch­bruch. Ein Jahr nach der Veröf­fent­li­chung von Menschen­kind (1987) erhielt sie den Pulitzer Preis, auf Jazz folgte 1993 der Nobel­preis für Lite­ratur. Weitere Bücher und Auszeich­nungen kamen hinzu. Das Werk der mitt­ler­weile 86jährigen umfasst damit gegen­wärtig elf Romane. In allen schreibt sie fast ausschließ­lich aus der Perspek­tive der Afro­ame­ri­kaner, und in jedem ist Rassismus ein Thema. Das gilt auch für ihre beiden jüngsten Romane, die vor kurzem auf dem deut­schen Markt unter den Titeln Heim­kehr (2014) und Gott, hilf dem Kind (2017) veröf­fent­licht wurden.

Gebro­chene Welten

Doch es handelte sich nicht um Bücher von Toni Morrison, wenn diese beiden Romane nicht auch um andere Themen kreisten: Heim­kehr führt die Leser in die USA der 1950er Jahre zurück, und damit nicht nur in die Zeit der Segre­ga­tion, die in den Südstaaten noch immer gesetz­lich veran­kert war, sondern auch in die Jahre des Korea­kriegs. Im Vorder­grund der Geschichte steht der vier­und­zwan­zig­jäh­rige Frank Money: Als Soldat war er in Korea; seit seiner Heim­kehr vor einem Jahr hat er nicht mehr recht Fuß gefasst. In Seattle hält er sich als Tage­löhner über Wasser; die Rück­kehr in seinen Heimatort Lotus/Georgia kommt für ihn nicht infrage. Der Gedanke, als Über­le­bender dieses Krieges den Fami­lien seiner beiden in Korea gefal­lenen Freunde unter die Augen treten zu müssen, beschämte ihn zu sehr. Über­haupt hasst er dieses Dorf, in dem es immer nur Arbeit auf den Baum­woll­plan­tagen gab, und eine ihn ersti­ckende Enge, aber sicher­lich keine Perspek­tive. Dass Frank doch nach Lotus reist, liegt an einem alar­mie­renden Brief, der die drin­gende Bitte enthält, sich sofort auf den Weg zu machen. Seine Schwester Cee schwebe in Lebensgefahr.

Gordon Parks: untitled, Alabama, 1956; Quelle: slate.com

Die Geschichte von Lula Ann Bride­well, der Haupt­figur in Gott, hilf dem Kind, beginnt hingegen mit ihrer Geburt Anfang der neun­ziger Jahre. Ihre Mutter „Sweet­ness“ ist entsetzt, als sie das Kind zur Welt bringt: „Sie war so schwarz, dass sie mir Angst machte. Mitter­nachts­schwarz, suda­ne­sisch schwarz.“ Niemand in ihrer Familie habe „auch nur annä­hernd diese Farbe“ gehabt, erklärt sie und unter­streicht: „Ich habe eine helle Haut und gutes Haar, so wie die meisten von uns, die wir die Gelben nennen, und Lula Anns Vater ist genauso. (…) Ihr hättet meine Groß­mutter sehen sollen; sie wurde für eine Weiße gehalten, und gegen­über keinem ihrer Kinder hätte sie jemals etwas anderes behauptet.“

Lula Ann wächst bei ihrer Mutter auf, deren Ehe über die fort­dau­ernden Strei­te­reien, aus welcher Familie die Schwärze der Tochter käme, zerbro­chen ist. Sie wird streng erzogen, und Sweet­ness hält Lula Ann sowohl emotional als auch körper­lich auf Abstand. Als ihre Mutter sie das erste Mal bei der Hand nimmt, ist Lula Ann acht Jahre alt; ihre Aussage vor Gericht hatte damals maßgeb­lich dazu beigetragen, dass die Lehrerin Sophie Huxley wegen Kinds­miss­brauchs mit fünf­und­zwanzig Jahren Gefängnis bestraft wurde. Als Erwach­sene wird Lula Ann, die sich jetzt „Bride“ nennt, der Verur­teilten wieder­be­gegnen. Huxley wird Bride zusam­men­schlagen – die junge Frau, die inzwi­schen bei einem Kosmetik-Unternehmen Karriere gemacht hat und ihre Haut­farbe hervor­hebt, indem sie ausschließ­lich weiß trägt; die attrak­tive, gutver­die­nende Bride, die gerade von ihrem Freund „Booker“ verlassen wurde, der dazu nur einen einzigen Satz sagte: „Du bist nicht die Frau, die ich will.“

Jenseits von schwarz und weiss

Bei beiden Büchern ist die Hand­lung nicht das Zentrale. Und enttäuscht sein werden jene, die nach starken oder gar makel­losen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­guren suchen. Toni Morrison baut in ihren Romanen Figuren auf, von denen die einen inter­es­san­tere, die anderen unin­ter­es­san­tere Züge haben. Dies ist unab­hängig davon, ob es sich um Afro­ame­ri­kaner oder um Weiße handelt, wobei es oft gar nicht sofort evident ist oder sogar bis zum Schluss des Buches unklar bleibt, welche Haut­farbe die jewei­ligen Personen haben. Warum sollte dies auch anders sein? In einem kürz­lich erschie­nenen Inter­view in der Süddeut­schen Zeitung erzählte Morrison, dass sie Frank Money in Heim­kehr erst als „schwarzen Mann“ kennt­lich gemacht habe, nachdem ihr Lektor sie dazu gedrängt hatte. „Niemand weiß, ob er schwarz ist oder weiß,“ sagte er. Sie antwor­tete: „Na und?“

Dass die Farbe der Haut für das Leben der Afro­ame­ri­kaner einen ganz beträcht­li­chen Unter­schied machen kann, führt Toni Morrison in beiden Romanen vor Augen. Aber sie selbst defi­niert ihre Figuren nicht über die Haut­farbe. Diese tun es höchs­tens selber, wie Sweet­ness, die beteuert, es sei ihr egal, wie oft Lula Ann ihren Namen wech­sele. Denn sie ist davon über­zeugt: „Ihre Farbe ist ein Kreuz, das sie immer zu tragen haben wird.“ Für Toni Morrison ist das eine zu einfache Antwort. Sie gibt ihren Lesern mehr zu denken auf, während sie ihre lite­ra­ri­schen Figuren, deren Sicht­weisen, Leben und Prägungen entwirft. Wie erklärt sich das Verhalten von Menschen, ist eine ihrer zentralen Fragen. Wie wurden sie zu dem, was sie sind? Frank Money – nach seiner Rück­kehr aus dem Krieg ein Trinker; seine Schwester Cee – unselb­ständig, leicht­gläubig, gehor­chend; Bride – allein auf ihr Aussehen fixiert, mit ihrer Schön­heit spie­lend und wenig mehr als Glamour im Sinn; Booker – belesen, aber nicht weniger mit sich selbst befasst als Bride, die er ohne viele Worte sitzenlässt…

Keine dieser Personen geht in diesen Eigen­schaften auf, wie im Verlauf der Bücher deut­lich wird, nachdem verschie­dene Figuren zu Wort gekommen sind, die aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln erzählen. Insbe­son­dere in Gott, hilf dem Kind verän­dert sich dadurch das Gesche­hene; die Charak­tere und die erzählte Geschichte werden komplex. In Heim­kehr hat Morrison zu diesem Zweck einen Vorspann vor jedes Kapitel gesetzt, der ihrem Haupt­prot­ago­nisten Frank Money vorbe­halten ist. In diesen kursiv gesetzten Passagen greift er erzäh­le­risch aus, macht Einge­ständ­nisse – oder weist die Autorin zurecht. Letz­teres geschieht gleich zu Beginn des Buches, als Frank eine schreck­liche Geschichte aus seiner Kind­heit erzählt: In der Nähe einer Koppel hatten er und seine Schwester zufällig beob­achtet, wie Männer einen toten Körper in eine Grube warfen. Im Gras versteckt liegend, sahen sie von den Männern nur die Hosen­beine, von dem erschlafften Körper nur den Fuß: Er war schwarz. An die Autorin gewandt, kommen­tierte Frank: „Du willst meine Geschichte erzählen, also lass dir, was du auch denkst und was du auch schreibst, eins sagen: Das Vergraben der Leiche hab ich tatsäch­lich vergessen. Erin­nert habe ich mich nur an die Pferde.“

Gordon Parks, untitled, Alabama, 1956; Quelle: huffingtonpost.com

Franks Inter­ven­tion ist sympto­ma­tisch dafür, wie Toni Morri­sons Romane funk­tio­nieren: Immer wieder verwei­gern sie sich der schnellen Urteils­bil­dung über die einzelnen Personen und weisen einfache Erklä­rungen für deren Verhalten zurück. Trotzdem wird deut­lich, dass die Kind­heit und die (nicht) erfah­renen Liebe und Zuwen­dung für Morrison wich­tige Themen sind, um ihre Figuren begreif­lich zu machen. Das gleiche gilt für Gewalt­er­fah­rungen unter­schied­lichster Art: In Gott hilf dem Kind ist es die Gewalt an Kindern bis hin zum Mord, die als Thema wieder­kehrt; in Heim­kehr ist es unter anderem die Kriegs­ge­walt. Frank Money wird nach seiner Rück­kehr aus Korea immer wieder von entsetz­li­chen Bildern aus dem Krieg heim­ge­sucht. Frank sah, „was er, wo immer er sich auch befand, häufig sah, wenn er allein und nüch­tern war – einen Jungen, der sich seine Därme in den Bauch zurück­stopfte …Oder er hörte den jungen Kerl, der nur noch die untere Hälfte seines Gesichts hatte, die ‚Mama‘ rief.“

Toni Morrison führt die Leser auf die Spur eines Kriegs­traumas. Das erscheint heute schon fast erwartbar. Doch die Autorin nutzt das heute etablierte Wissen über Symptome einer Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung zu einem doppelten Kunst­griff: Zum einen gibt es kaum etwas, was schärfer unter­strei­chen könnte, dass der Korea­krieg Jahr­zehnte lang ein „verges­sener Krieg“ war – und mit ihm die Soldaten, um deren psychi­sche Verfas­sung sich damals niemand scherte. Zum andern greift sie mit dem ‚trau­ma­ti­sierten Kriegs­heim­kehrer‘ aber auch auf ein verbrei­tetes Deutungs­muster zurück, bei dem sie sicher sein kann, dass ihre Lese­rinnen und Leser ihr folgen (auch wenn sie selbst gar nicht von „Trauma“ spricht). Franks Geschichte wird am Ende kompli­zierter sein. „Ich kam mir so gut vor, wenn ich von meiner Trauer über meine toten Kame­raden gespro­chen habe“, wird er gegen Schluss einräumen, bevor er der Autorin im Zwie­ge­spräch erzählt, dass er sie (und auch sich selbst) bislang belogen hat.

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Ein Veto gegen Schrei­hälse und Stimmungsmacher

Toni Morrison fordert ihre Lese­rinnen und Leser mit beiden Romanen immer wieder zur Refle­xion heraus – auch über sich selbst. Oft sind es nicht einmal die Haupt-, sondern die Neben­fi­guren, die dazu den Anstoß geben: Reverend Locke beispiels­weise, der Frank darüber aufklärt, dass er sich auch im Norden der USA, wo die Rassen­tren­nung aufge­hoben ist, nirgendwo an einer Imbiss­bude wird hinsetzen können. „Die Gewohn­heit ist genauso mächtig wie das Gesetz, und sie kann genauso gefähr­lich sein“, hört man ihn sagen. Und Sophie Huxley, die im Gefängnis von den Wärte­rinnen wie der „Boden­satz“ unter den Krimi­nellen behan­delt wird, erklärt: „Kleinen Kindern etwas anzutun, war die Vorstel­lung, die sie von ganz unten hatten.“ Es sei ein Hohn, fügt sie hinzu: „Denn welcher Drogen­dealer kümmert sich darum, wen er vergiftet oder wie alt seine Opfer sind. Welcher Brand­stifter holt erst die Kinder aus dem Haus, ehe er Feuer legt. Und welcher Spreng­stoff­at­ten­täter weiß genau, wen seine Bombe trifft.“

Toni Morrison, 2008; Quelle: wikipedia.org

Toni Morrison rela­ti­viert keine Gewalt. Warum sollte sie auch, wo sie doch zum Thema macht, wie sehr Gewalt und Diskri­mi­nie­rung Menschen zeichnen und über Jahre in ihren eigenen Hand­lungen bestimmen kann. Aber ihre Romane zeigen, dass sie ein Veto gegen Schrei­hälse und Stim­mungs­ma­cher einlegt, und das allemal, wenn Bigot­terie im Spiel ist. Morri­sons Romane handeln von Verlust, von Schmerz und von Trauer, und in beträcht­li­chem Maße von der Fehl­bar­keit des Menschen, aller Menschen. Morri­sons Romane sind damit auch ein Einspruch gegen Über­heb­lich­keit und gegen den Dünkel in all seinen Schat­tie­rungen. Verhal­tens­an­wei­sungen aber enthalten sie keine. Morrison hat ethi­sche Grund­sätze; eine Mora­listin aber ist sie nicht. Dazu passt, dass ihr Stil lako­nisch ist, ihr Blick analy­tisch, ihre Beob­ach­tungen präzise. Wie kommt es, dass … lautet die stille Frage, die ihre Romane durch­zieht. Wer ihre Bücher liest, muss aushalten können, dass es meist keine einfa­chen Antworten gibt. Sie wären ein Trug­schluss. Wie auch die Annahme, dass man die Verant­wor­tung für das eigene Leben oder das anderer gänz­lich abstreifen könnte.

Toni Morrison: Heim­kehr, Roman, Reinbek: Rowohlt 2014 (Home, 2012)
Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind, Roman, Reinbek: Rowohlt 2017 (God help the child, 2015)