Im Amerikanischen gibt es die trockene Formulierung „We have a situation“. Voller understatement und doch alles Mögliche umfassend, kündet sie von einer unerwarteten, unmittelbaren und gefährlichen neuen Lage, die eine sofortige Reaktion erfordert. Und wenn’s auf nationaler Ebene ganz dramatisch wird, versammeln sich der Präsident und seine Top-Berater im „Situation Room“ im Keller des Weißen Hauses – eingerichtet 1961 unter John F. Kennedy.

Der Situation Room in Stanley Kubricks „Dr. Strangelove“; Quelle: youtube.com
Im Deutschen ist das Wort philosophisch aufgeladen. Dass es vom Politischen nicht zu trennen ist, sieht man bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Ästhetik von 1817 erstmals über die „Situation“ nachgedacht hat. Diese Vorlesungen sind bekannt für ihre „These“ vom Ende der Kunst. Weniger bekannt ist, dass sie auch eine Theorie des Anfangs der Kunst und des Anfangens überhaupt beinhalten. Und Anfangen meint bei Hegel etwas ganz Konkretes und Praktisches: Seine Vorlesungen über die Ästhetik sind eine Theorie des menschlichen Handelns, der politischen Intervention und des Widerstands.
Hegel und die Situation
Am Beispiel des Dramas, der Gattung, die das menschliche Handeln zum Gegenstand hat, untersucht Hegel die Frage, womit das menschliche, soziale und politische Handeln eigentlich beginnt – und wie es hervorzurufen sei. Dazu entwickelt Hegel eine umfassende und erstaunlich kleinteilige Herleitung des Handelns. Für den Philosophen muss der Anfang der Handlung in etwas liegen, das der Handlung vorausgeht und diese erst ermöglicht. Die Handlung, so überlegt Hegel, setzt einen „gleichförmig“ bestehenden Zustand voraus, den die Handlung dann bewusst unterbricht. Diese Unterbrechung, den Ort des Übergangs von der Nicht-Handlung zur Handlung, vom status quo zur Tätigkeit, nennt Hegel die „Situation“. Es ist einer dieser Hegel’schen Begriffe, bei denen erst im Rückblick klar wird, dass sie eine Kategorie und einen Wissensgegenstand bezeichnen, den man sonst gar nicht hätte und dessen analytische Kraft nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Die „Situation“ bezeichnet den Vor-Ort der Handlung, in dem verschiedene Möglichkeiten als Potenz gespeichert sind, und zugleich den Stachel und Anreiz, der eine konkrete Handlung hervortreten lässt. Die Situation, so erläutert Hegel, beginnt zunächst ganz harmlos, zeitigt dann jedoch eine Störung, die notwendig Reaktionen hervorruft.
Als Beispiel (das Hegel allerdings noch nicht vor Augen haben konnte), kann man an eine Reihe soziologischer Komödien von Carl Sternheim denken: Zu Beginn der ersten Komödie Die Hose verliert die Frau eines kleinbürgerlichen Beamten beim Spazierengehen ihre Unterhose – und in der Reaktion darauf führt das weitere Geschehen zum Ersten Weltkrieg. Durch eine nur vermeintlich harmlose Irritation des status quo löst die Situation eine „Notwendigkeit des Agierens“ (Hegel) aus und setzt ein Geschehen in Gang, das sich immer weiter fortpflanzt.
Der Status quo
Der Zustand, in den die Handlung interveniert, ist der gesellschaftliche status quo, die „Prosa“ der bürgerlichen Verhältnisse. Auf der Suche nach dem Anfang des Handelns ist Hegel also bei den Verhältnissen angelangt, und die Verhältnisse (um es mit Brechts Dreigroschenoper zu sagen), „die sind nicht so“. Der Anfang des Handelns liegt für Hegel in den historischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Handeln formen und auf es einwirken: in der Macht der bürgerlichen Ordnung, dem Alltag und der Arbeitswelt, den sozialen und ökonomischen Abhängigkeiten, Disziplinierungen und Diskriminierungen. Also eigentlich in dem, was man das „Heteronome“ oder die „Heteronomie“ nennen könnte. Das moderne, denkende und handelnde Subjekt hat seinen Anfang in etwas anderem, in der Geschichte, dem Sozialen, dem Gesellschaftlichen, aber auch dem Zufälligen und Sinnlosen – es erfährt sich ganz wörtlich als „Unterworfenes“. Hegel skizziert eine explizit bürgerliche Welt der Bedingtheiten, die die Möglichkeit des autonomen Anfangens und Handelns nicht besonders wahrscheinlich machen.
Handeln als Widerstand

Valie Export: Aktionshose Genitalpanik (1969); Quelle: christies.com
Statt beim Anfang des Handelns ist Hegel bei dessen Krise angekommen, d.h. dessen ständig drohendem Gebremstwerden durch Umstände und Bedingungen. Bei dieser Beschreibung des Bürgerlichen als übermächtigem Schicksal lässt er es dann jedoch nicht bewenden: Für ihn ist die Kunst gerade ein Einspruch gegen die Abhängigkeit und Ohnmacht des individuellen Handelns. Die Kunst empört sich, so Hegel, gegen die Beschränktheit und damit „gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft selbst“. Sie besteht darauf, Anfänge zu erproben und zu setzen – und das heisst: Situationen herzustellen.
Dass die Situation den Menschen dazu provoziert, handelnd Stellung zu beziehen, ist nämlich nicht nur eine dramatische, sondern auch eine politische Funktion, wie man exemplarisch an der Weiterentwicklung des Denkens der „Situation“ durch die Künstler-, Intellektuellen- und Aktivistengruppe der „Situationisten“ (1957-1972) sehen kann. Indem Hegel die „Situation“ als Provokation einer Reaktion und als erregendes Moment eines Spiels verstanden hat, bereitete er ihre politische und künstlerische Weiterentwicklung durch die Situationisten vor: Nicht zufällig gehören Hegels Schriften, die Alexandre Kojève in Frankreich bekannt gemacht hat, zu den Schlüsseltexten der Situationistischen Bewegung.
Die Situationisten
Am Beginn der ersten Nummer der Situationistischen Internationale vom Juni 1958 steht ein programmatischer Artikel mit dem sperrigen Titel „Vorbereitende Probleme bei der Konstruktion einer Situation“. Wie Hegel gingen die Situationisten an den Ort vor der Handlung zurück, nicht um die unerschöpfliche Fülle an Möglichkeiten und Handlungsweisen, die in der Situation angelegt ist, zu beschreiben, sondern um diese zu aktivieren. Durch die bewusste Planung und „Ausstattung eines Moments“ wollten sie eine Störung des Alltags und seiner Handlungsroutinen herbeiführen.

„Bikini-Mädchen“, Internationale Situationniste, Nr. 1, 1958; Quelle: 1000littlehammers.files.wordpress.com
Die erste Nummer der Zeitschrift ist mit einer Serie von Frauen in Bikini-Höschen bebildert – der Name „Bikini“ war bekanntlich eine Anspielung an die Atombombentests der Amerikaner auf dem Bikini-Atoll ab 1946, die in der Tat eine neue „Situation“ schufen. Die „Situation“, wie sie die Situationisten auffassten und auch kreieren wollten, ist eine gesellschaftliche Intervention und ein soziales Experiment: Sie soll den Zuschauer zu einem ungeplanten und alternativen Handeln provozieren und ihn dazu bringen, im öffentlichen Raum spontan und gestaltend aktiv zu werden. Der Situationismus orientierte sich dabei, im Gegensatz zu Hegel, nicht mehr am bürgerlichen Theater („Le théâtre est mort!“). Er hob die Grenze zwischen Zuschauer und Publikum, Bühne und Welt, Kunst und Alltag auf und ersetzte das Theater durch Performance, Intervention und politische Handlung.
Die „bewusst konstruierte Situation“
Die Vision der Situationisten war, dass das politische Individuum in seinem Handeln einen Anfang setzen könne und die Situation eine „NEUE WIRKLICHKEIT“ herbeiführe. Doch auch diese neue Wirklichkeit müsste sich zunächst gegen die Macht der Verhältnisse und des Alltags behaupten. Im dem programmatischen Artikel heisst es, dass es im Alltag zwar zu handlungserregenden „Situationen“ komme, diese änderten jedoch nichts am status quo: „Getrennte, ziellos herumziehende Individuen“ träfen zwar zufällig aufeinander, doch „ihre voneinander abweichenden Gemütsregungen heben sich gegenseitig auf und erhalten ihre feste Umwelt der Langeweile aufrecht.“ Nur die „bewusst konstruierte Situation“ könne diese Umwelt der Langeweile unterbrechen und eine wirkliche Störung des Alltags garantieren – eine Störung, die sich dann, so die Hoffnung, zu einer neuen Gesellschaftsform verselbständigen werde.
Mit der „bewusst konstruierten Situation“ erkauften die Situationisten den Widerstand gegen die Verhältnisse jedoch teuer: Die Kehrseite der situationistischen Befreiung des Alltags war das Einsetzen eines Spielleiters: Ein Konstrukteur stellt die Situation bewusst her, kombiniert und koordiniert Figuren und nimmt Interventionen vor. Seine „Vorrangstellung“ und die „temporären Unterordnung“ des Spiels unter seine Verantwortung führen ein Moment der Herrschaft in das Spiel ein, das sich auch in der situationistischen Phantasie einer „kollektiven Weltherrschaft“ Ausdruck verschafft.

Pjotr Pawlenski mit angenageltem Hoden auf dem Roten Platz; Quelle: welt.de
Pjotr Pawlenski oder: Die anarchistische Situation
Lässt sich eine Situation denken, die nicht auf diesem Moment der Herrschaft gründet? Die Situationen des Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski stellen Strukturen der Herrschaft aus und konfrontieren sie mit der Idee der Herrschaftslosigkeit – dem Anarchismus. Dabei dreht Pawlenski den Ansatz der Situationisten auf eine interessante Weise um: Während diese Situationen bewusst konstruieren, die etwas provozieren sollen, provoziert Pawlenski Situationen, die ihre (Herrschafts-)Konstruktionen ausstellen sollen: In einem Gespräch, das 2016 unter dem Titel Gefängnis des Alltäglichen als Broschüre erschienen ist, bestätigt Pawlenski eindrücklich die Bedeutung der „Situation“ für die politische Kunst.
Pawlenski erläutert die Aktion FIXIERUNG vom 10. November 2013, bei der er nackt und mit angenagelten Hoden auf dem Roten Platz sass. „Die Geste des Hodenannagelns ist in unserer Kultur im Prinzip ziemlich stark verwurzelt“, erklärt er. Es ist eine Geste, derer sich die Häftlinge in den russischen Gefängnissen bedienen – eine Geste, mit der sie ihre Freiheitsbeschränkung auf die Spitze treiben. Pawlenski macht diese Geste sichtbar, er trägt das Gefängnis ins Zentrum der Stadt, auf den Platz, auf dem der Staat sich in Militärparaden und die Gesellschaft sich in Grossereignissen feiert. In der Mitte der Gesellschaft und vor der Mauer des Kreml zitierte Pawlenski die Geste aus dem Gefängnis – und wählte dafür einen besonderen Tag: „Der 10. November ist der Tag der Polizei. Jedes Jahr werden in der ganzen Stadt Banner aufgehängt“. Für Pawlenski ist diese Arbeit mit „kulturellen Markern“ grundlegend. Dass die Bezüge, die seine Aktion herstellt, erst im Nachhinein, in der Reflexion, deutlich werden, ist dabei einkalkuliert. Der Künstler arbeitet mit der Nachzeitigkeit und der Verzögerung des Verstehens.
(Un)freiwillige Akteure
Der wichtigste Teil der Situation, erklärt Pawlenski, war die Polizei: Diese gestaltet die Situation erst. Die Polizisten haben Handlungsanweisungen, Reglemente, die sie exekutieren und deren Objekt sie zugleich sind. Sie müssen handeln, sind darin aber nicht frei. Auf dem Roten Platz ergibt sich daraus etwas Paradoxes: Die Aufgabe der Polizei ist es, so Pawlenski,
Ereignisse zu neutralisieren, zu liquidieren, eine Straße oder einen Platz rein zu halten. Aber hier sind sie gezwungen, genau das Gegenteil zu tun. Sie konstruieren ein Ereignis. Sie werden zu Handlungsträgern. Alles basiert auf Ihnen. Mein Handeln ist auf ein Minimum reduziert. Ich sitze einfach nur da und mache nichts…
Die Polizisten werden hier in die Rolle unfreiwilliger Situationisten versetzt, sie stellen Pawlenski (als Situation) erst her. Er selbst versetzt sich in den Charakter des Zuständlichen („Ich bleibe statisch“), das von etwas unterbrochen wird, das sich als Moment der Herrschaft entlarvt. Pawlenski verschmilzt mit der Situation, sein nackter Körper verkörpert sie – und damit eine Form des passiven, herrschaftsfreien Widerstands. Seine Kunst nennt er eine „Arbeit mit Steuerungsmechanismen“. Die Polizisten, die Herren der Situation, werden in den Prozess der politischen Kunst hineingezogen: Sie sind nicht nur Funktionen der Macht, sondern auch Funktionen der Kunst. Einer Kunst, die die Verwobenheit von Autonomie und Heteronomie vor Augen führt.
Denken als Widerstand
An dieser Stelle rechnet Pawlenskis Kunst nicht nur mit einer nachzeitigen und verzögerten Reflexion, sondern setzt darauf. Während die Macht in Gestalt der Polizisten sich dadurch entlarvt, dass sie sofort und reflexhaft handelt, ermutigt die Situation das potentiell revolutionäre Subjekt dazu zu denken. Der Zeuge der Situation hat, so Pawlenski, zwei Möglichkeiten zu reagieren: „Er könnte einfach schnell antworten oder er könnte überlegen und eine Entscheidung treffen. Genau das ist der Raum, in dem der Kampf stattfindet.“ Pawlenskis Kunst zielt darauf, die unbewussten Wahrnehmungsmuster und Handlungsreflexe zu irritieren, sie der Veränderung und dem Nachdenken zugänglich zu machen. Mit der Irritation beginnt etwas Neues, die Möglichkeit der autonomen Entscheidung, ein Anfang, der ein Vorbild sein kann: „Präzedenzfälle im Bereich der Bedeutung“ nennt Pawlenski seine Aktionen. Die Kraft, Anfänge zu setzen, liegt also nicht allein in der Handlung selbst, sondern auch in dem Nachdenken über sie, im philosophischen Denken, das nach Hegel auch eine Form des – situationistischen und politischen – Handelns ist.