Verteidiger wie Kritikerinnen der deutschen Wissenschaftspolitik berufen sich gern auf Max Weber. Die Anwälte des Status Quo berufen sich auf seine Beschreibung der Wissenschaft als „eine geistesaristokratische Angelegenheit“, sie wollen eine vermeintliche „Bestenauslese“ (Ludwig Kronthaler) sowie „Exzellenz“ (Dieter Lenzen) und damit en passent das deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) rechtfertigen. Tatsächlich hat Weber schon lange vor seiner Rede Wissenschaft als Beruf (1917/1919) gemahnt, es müsse „jedem Privatdozenten in die Seele geschrieben werden…, daß er unter keinen Umständen irgendwie einen begründeten Anspruch auf Anstellung hat“. Zu seinem „persönlichen Bedauern“ pflege jedoch „begreiflicherweise ein großer Teil unseres Nachwuchses“ das „Ideal“ der „Sicherung der Existenz“.
All dies wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die deutsche Wissenschaftspolitik in ihrer neoliberalen Verfasstheit verteidigen, wie Peter-André Alt, derzeit noch Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Nur, Weber ist in der heutigen Debatte auch deshalb interessant, weil er über das wissenschaftliche Tun selbst nachdachte. In seiner Rede von der Wissenschaft als Beruf entwickelte er das Bild vom „inneren Berufe zur Wissenschaft“, in dem es gelte, „rein der Sache“ zu dienen. Dies erfordere „Leidenschaft“ und „Eingebung“, die zu wissenschaftlich „wertvollen Einfällen“ führen sollen. Auch kritisierte er scharf, wie das damals waltende „System Althoff“ – ein Inbegriff für intransparente Organisationsführung – sich auf den wissenschaftlichen Nachwuchs auswirkte.
In welcher Relation steht der „wertvolle Einfall“ zum Erfolg einer wissenschaftlichen Karriere? Seinerzeit räumte Weber mit auffallender Bescheidenheit ein, er habe seine Berufung „einigen absoluten Zufälligkeiten zu verdanken“ – während andere, unberufene „Altersgenossen unzweifelhaft mehr als [er] geleistet hatten“. An diese Kritik anknüpfend, greift die #IchbinHanna-Bewegung Webers Begriff des „Hazard“ auf und moniert die Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Laufbahn.
Zu fragen ist: Wer reüssiert heute? Können Wissenschaftler:innen ihrer akademischen „Leidenschaft“ nachgehen – oder verlangt die unternehmerische Hochschule ganz andere Fähigkeiten von ihren Beschäftigten? Was macht die „audit culture“, bei der nur gilt, was sich abzählen lässt – Zahl der Publikationen, impact factor, Patente und allem voran Drittmittelvolumen – mit Wissenschaft und Wissenschaftler:innen? Wie würde Weber – hundert Jahre später – über die heutige Wissenschaft als Beruf urteilen?
Die Doppelhelix des Wissenschaftsbetriebs
Einer Doppelhelix gleich prägen zwei ineinander verschlungene Prinzipien die gegenwärtige, deutschsprachige Wissenschaftsordnung: Die befristete Finanzierung und die befristete Anstellung. So wurde in Deutschland die Grundfinanzierung der Hochschulen seit den 1990er Jahren zugunsten eines Aufwuchses an Drittmittelförderungen zurückgefahren. Drittmittel werden heute maßgeblich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verwaltet. Diese Institutionen vergeben ihre Gelder nach kompetitiven Prinzipien und stets nur für befristete Projekte. Zeitgleich eröffnet das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) als Sonderarbeitsrecht den Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Möglichkeit, Akademiker:innen insgesamt zwölf Jahre befristet zu beschäftigen.
Auch unter den derzeitigen Bedingungen von Befristung und faktischem Berufsverbot nach zwölf Jahren kumulierter Befristung sollen es einige PostDocs bis zur Professur schaffen. Idealtypisch akquirieren sie dazu befristete Fördermittel von BMBF, DFG oder – noch besser – dem European Research Council (ERC). Die Karriereleiter soll über eine Forschungsgruppenleitung zur Bewerbung auf eine Professur (W3) führen. Dafür sind eigene Akquisen Voraussetzung. Auch beim Umweg über eine geringer dotierte Professur (W2 in Deutschland) bleibt ein üppiges Drittmittelvolumen conditio sine qua non. Je prestigeträchtiger, aber vor allem: je mehr, desto besser. Wegen der auf etwa 50% zurückgefahrenen Grundfinanzierung brauchen die deutschen Hochschulen, wo es an Geld für Personal und Arbeitsmittel gleichermaßen fehlt, jene drittmittelstarken Forscher:innen, die ihr eigenes Geld mitbringen.
Auf die negativen Folgen eines zu hohen Drittmittelanteils machte jüngst der Wissenschaftsrat aufmerksam. Denn unter den Bedingungen mangelnder Grundfinanzierung kommt das befristete Drittmittelsystem nicht ohne das zweite Prinzip – die befristete Anstellung – aus. Die befristeten Beschäftigten machen mehr als 80 Prozent des an deutschen Hochschulen beschäftigten akademischen Personals aus; sie stehen einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Professuren als Zuarbeiter:innen für Lehre und Textproduktion zur Verfügung und müssen zugleich, neben eigener, nicht selten hoher Lehrbelastung, ihre Qualifikation (Promotion, Habilitation) voranbringen, um ‚im Spiel‘ zu bleiben.
Machtmissbrauch als Folge prekärer Anstellungsverhältnisse
Welche Folgen hatten unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu Webers Zeiten? Das von ihm vor hundert Jahren kritisierte Prekariat des wissenschaftliche ‚Nachwuchses‘ führte seiner Meinung nach zu fatalen Abhängigkeitseffekten. So zwangen damals die verbeamteten Kollegen den Jüngeren Schweigepflichten auf, beispielsweise über ethik- und rechtswidrige Handlungen der Vorgesetzten. Dem ‚Nachwuchs‘ wurde nahegelegt, unbeliebte Themen zu unterrichten, unbezahlte Lehraufträge anzunehmen und das Benoten von Klausuren zu übernehmen. Dafür wurde er in so unredlicher Weise belohnt, dass der Vorgesetzte, so Weber, sich sicher sein konnte: „[D]as wird mein Mann, der wird von mir abhängig werden“.
Anders gewendet: Weber wollte zwar eine akademische Ordnung, in der der „Nachwuchs“ jeglichen „Anspruch auf Anstellung“ aufgibt, bezeichnete aber das, was eine solche Ordnung für den „Nachwuchs“ bedeutet, als „ungünstig“ und „korrumpierend“. Inzwischen wissen wir, dass die Prekarität geradezu das Einfallstor für den von Weber monierten Missbrauch ist.
Prekäre Beschäftigung führt auch heute zu forschungsfeindlichen Abhängigkeitseffekten. Neben medial vielfach besprochen Formen sexueller Nötigung, dokumentiert das „Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft“: Vorgesetzte erzwingen Ehrenautorschaft auf Publikationen, bestrafen Kritik und entziehen Promovierenden im Konfliktfall das Nutzungsrecht forschungsprojektbezogener Daten.
Homo academicus, 2023
Wie oben gezeigt, bedingt das Drittmittelwesen die Befristung und vice versa. Dies verändert nicht nur die Verteilung von Ressourcen, sondern – tiefgreifender – die Wissenschaftler:innen selbst. Um die Folgen analysieren zu können, knüpfen wir an Webers Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an. Er schlug seinerzeit vor, eine Ordnung nach den Menschen zu beurteilen, die sie begünstigt. Und er warnte: „Auslese“ sei „nicht identisch mit Auslese zu Gunsten des ‚höher entwickelten‘ Typus“. Den Begriff des „Menschentypus“ entwickelte er in Anschluss an Marx und Nietzsche; demnach ist der vorherrschende Menschtypus ein Ergebnis gesellschaftlicher Ordnungen. In diesem Sinne fragen wir nach dem homo academicus 2023: Wen fördert die Wettbewerbsordnung, wer „besteht“ mit höherer Wahrscheinlichkeit?
Wegen fehlender Grundfinanzierung können Forscher:innen ihre Gegenstände meist nicht frei wählen und bearbeiten, sondern müssen unter der Beachtung von engen Antragsfristen und vorgegebenen Themenschwerpunkten (bei BMBF-Förderungen) bzw. der Bedingung maximal dreijähriger Umsetzbarkeit (bei DFG-Projekten) Drittmittel beantragen; Bewilligung stets ungewiss. Statt sich leidenschaftlich auf den Forschungsgegenstand einzulassen, müssen Antragstellerin ihre Forschungsdesigns an Förderbedingungen anpassen. So werden in erster Linie marketing and management skills gefördert – also der Wissenschaft eigentlich un-eigene Fähigkeiten, weit entfernt von Webers „wertvollem Einfall“. Die Schlüsselkompetenz: unter widrigen Bedingungen die persönliche Produktivität zur Schau stellen. Als Erfolg zählt: Zahl der Publikationen – nicht Inhalt; Höhe der eingeworbenen Mittel – nicht Forschungsergebnis.
Statt nach wissenschaftlicher Allgemeinbildung – Bedingung auch für die akademische Lehre – strebt die erfolgreiche Nachwuchsforscherin idealtypisch nach förderwürdiger Spezialisierung. Die Wettbewerbsordnung engt Themenfelder und – bedingt durch die kurzen Förderzeiträume – auch die Komplexität von Fragestellungen empfindlich ein. Unter dem Zwang, zu veröffentlichen, werden immer kleinere Teilergebnisse publiziert und Texte mit geringen Modifikationen re-publiziert.
Der Wettbewerb favorisiert nicht zuallererst jene, die in wissenschaftlicher Hinsicht Herausragendes leisten, sondern diejenigen, die die Spielregeln der Konkurrenz- und Wettbewerbsordnung besonders gut beherrschen. In diesem Wettbewerb setzt sich durch, wer wenig braucht, z.B.: Forscher:innen, die weniger Zeit brauchen, um viel Geld einzuwerben. Forscher:innen, die weniger lesen müssen, weil zu ihrem Thema noch wenig Literatur vorliegt. Und Forscher:innen, die wegen der augenfälligen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse keine umständlichen Rechtfertigungen ihrer Neugier bedürfen. So einen Wettbewerb kannte übrigens schon Weber: „Wenn Bedürfnisstand maßgebend: oft Auslese zu Gunsten des Bedürfnislosesten“.
Mit den Augen Webers besehen, entdecken wir heute kaum Gelegenheiten, akademische ‚Geistesaristokratie‘ zu entfalten. So zeigt die Evaluation des WissZeitVG: Je nach Einrichtungstyp haben in Deutschland bis knapp 80% der Arbeitsverträge eine Laufzeit von unter 6 Monaten bis 3 Jahren. Forschungsprozesse dauern allerdings länger: Eine durchschnittliche Promotion dauert 4,7 Jahre (für die Habilitationsdauer liegen keine Daten vor, unter fünf Jahren ist allerdings selten). Kurzum: Es wird noch immer anspruchsvolle Forschung betrieben – dies aber kaum wegen, sondern allenfalls trotz der gegenwärtigen Arbeitsbedingungen.
„Bestenauslese“ – auf Kosten wissenschaftlicher Qualität?
Die Wettbewerbsordnung mit ihrer Doppelhelix aus Drittmittelfinanzierung und Befristung zeitigt fatale Effekte für die Wissenschaft und die geförderten sowie geforderten Eigenschaften in Wissenschaftskarrieren. Nach außen hin wird die aus akademischer Perspektive dysfunktionale Ordnung jedoch mit einer notwendigen „Bestenauslese“ begründet.
Noch hat allerdings niemand wissenschaftlich nachgewiesen, dass die „Auslese“ einer winzigen Minderheit über Eliteprogramme wie Emmy-Noether, Walter Benjamin, Freigeist usw. tatsächlich „die Besten“ auswählt. Systematisch sollte erforscht werden, ob die in Einwerbungen Erfolgreichen tatsächlich am Ende bis zur Professur kommen. Müssen nicht von ihnen viele irgendwann ins Ausland, bzw. in einem Ministerium oder in der Wirtschaft auf Stellensuche gehen? Alle deutschen Wissenschaftler:innen – so unsere anecdotal evidence – kennen ehemalige ‚Auserkorene‘, die die deutsche Wissenschaft unfreiwillig verlassen mussten. Sie hätten aus wissenschaftsinternen Gründen (Wissenschaftsfreiheit), oder aus wissenschaftsexternen Gründen (materielle Existenzsicherung) eine Dauerstelle gebraucht.
Die Grenzen der vermeintlichen ‚Bestenauslese‘ werden in zahlreichen Konstellationen augenfällig. So wurden die Aufsätze des späteren Nobelpreisträgers Nils Bohr fünf Jahre lang von seinem Fach ignoriert. Hätte er an einer deutschen Universität gearbeitet, hätte es ihm das WissZeitVG nach dieser Zeit nahezu unmöglich gemacht, an einer deutschen Uni beschäftigt zu bleiben. Denn: Das WissZeitVG schränkt nicht nur die Zeit ein, die den Wissenschaftler:innen für ihre „Einfälle“ zur Verfügung steht, sondern auch die Zeit, dass das Fachpublikum sie als „wertvoll“ anerkennt. Man denke auch an die Zahl von Absagen, die die Erfinder:innen der mRNA-Impfstoffe sammelten.
Empirische Forschung zu den Folgen der heutigen ‚Bestenauslese‘ könnten zeigen, dass „wissenschaftliche Eingebungen“ womöglich von „uns verborgenen Schicksalen [abhängen]“. Keine Auswahlkommission kann – gerade jungen Forscher:innen – die Fähigkeit zu künftigen Eingebungen zuverlässig bescheinigen oder absprechen. Wodurch ließe sich der Status Quo also rechtfertigen? Die Kosten – das Verschwinden komplex angelegter Forschung – für das Versprechen vermeintlicher „Bestenauslese“ sind zu hoch. Zumal die audit culture Erfolg eben nur quantitativ bemisst. Dass entfristete Stellen nach der Promotion kompatibel mit guter Wissenschaft sind, zeigt übrigens Großbritannien, das im internationalen Vergleich als wissenschaftlich erfolgreich gilt. Das gleiche trifft für skandinavische Länder, Holland usw. zu, wo Befristungen zwar existieren, jedoch nicht in dem Ausmaß wie in den deutschsprachigen Ländern.
Welche Wissenschaft wollen wir?
Diejenigen, die sich nach dem Mitte März schnell gescheiterten Versuch anschicken, das WissZeitVG zu novellieren, sollten sich bewusst sein, dass jede Ordnung „bestimmte Typen“ von Wissenschaftler:innen „begünstigt“ und andere „benachteiligt“. Welche Art von Forschung kann innerhalb von drei Jahren geplant, durchgeführt, ausgewertet und veröffentlicht werden, wie das Eckpunktepapier es vorschlägt? Welche Wissenschaftler:innen können sich dem Risiko aussetzten, dass die Rechnung nicht aufgeht –, um danach dem Berufsverbot zu unterliegen oder drittmittelbasiert mit Fristverträgen bis zur Rente zu forschen? In Webers Worten: „[J]ede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, […] die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden“. Die Politiker:innen im BMBF und dem Bundestag sollten sich fragen, welchen Fähigkeiten von Wissenschaftler:innen sie fördern wollen. Auch, ob sie nur einen ‚Menschentypus‘ fördern und kraft des WissZeitVG alle anderen aus der Wissenschaft vertreiben wollen. Wie muss Wissenschaft gestaltet werden, damit sie Gründlichkeit, Einfallsreichtum und Kollaboration fördert – und nicht Ellenbogenmentalität und die Akquise von Drittmitteln? „Strebt“ nicht das aktuelle „System“ – wie damals dasjenige Althoffs – danach, „unseren akademischen Nachwuchs allmählich in eine Art von akademischen Geschäftsleuten umzuwandeln“?
Sicher ist: Die derzeitige Wettbewerbsordnung, allem voran die Kombination von Drittmittelfinanzierung und arbeitsrechtlicher Prekarität – siehe WissZeitVG – ist nicht kompatibel mit dem, was uns Nobelpreisträger Anton Zeilinger rät: „Denkt nicht zu viel an künftige Anwendungen.“ Die Wettbewerbsordnung macht es den Forscher:innen unmöglich, „rein der Sache“ der Wissenschaft zu dienen. Um es im sozialdarwinistischen Wortschatz von Hochschulpolitikern wie Lenzen und Kronthaler auszudrücken: Sie fördert nicht die Auslese „zu Gunsten des ‚höher entwickelten‘ Typus“ von Wissenschaftler:innen, sondern das Überleben intellektuell bedürfnisloser, in der Drittmittelwährung handelnder Geschäftsleute, die weniger Zeit brauchen, um oft zu veröffentlichen. Max Weber, der ‚Anwalt der Geistesaristokratie‘ wäre entsetzt darüber, in welchem Maß die audit culture nicht den „Einfall“, sondern die Akquise belohnt.