
Krakau um 1900; Quelle: krakow.pl
Ich stehe in Kraków (Krakau) auf dem grossen, zentralen Platz der Altstadt, dem Rynek Główny, mit den 1257 errichteten, in der Renaissance und im 19. Jh. erweiterten „Tuchhallen“ in seiner Mitte, ein Platz, der bis heute fast ohne Lücken gesäumt wird von Bürgerhäusern und Palästen aus der Renaissance, dem Barock und dem 18. Jahrhundert. Krakaus Altstadt wurde 1978 als erste Stadtanlage überhaupt zum UNESCO-Welterbe erkoren, und die Schönheit des weiten Platzes lässt heute noch den Atem stocken.
Wohl gehört – selbstverständlich – auch die Begräbniskirche der polnischen Könige auf dem Burghügel Wewel zu Krakau, und unweit des Rynek Główny hatte der spätere Papst Johannes Paul II. als Kardinal Woytila residiert; die Verbindung von Nationalismus und Katholizismus hat in der Stadt tiefe Spuren hinterlassen. Aber die Tuchhallen erzählen noch eine andere Geschichte. Im Zentrum der Stadt errichtete das kaufmännische Bürgertum im 13. Jahrhundert eine Markthalle: ein Ort des Handels, der rationalen Kalkulation von Preisen und Gewinnchancen, ein Ort der Zirkulation von Waren, Menschen und Ideen. Der Rynek Główny, der „Hauptmarkt“, ist ein säkularer Ort, trotz der mächtigen Marien-Kirche an seiner Seite.
Unser Europa
Die mittelalterlichen Tuchhallen, die Renaissance-Bürgerhäuser rund um diesen riesigen öffentlichen Raum und das rechtwinklige Strassenraster der Altstadt sind die inszenierte Genealogie dessen, was seit dem 18. Jahrhundert „Aufklärung“ genannt wird: Der bürgerliche Wille, das Leben autonom, d.h. möglichst wenig bedrängt von kirchlicher und obrigkeitlicher Fürsorge zu gestalten, und die aufgeklärten Ideen von Vernunft und Diesseitigkeit entstanden an solchen Orten des rationalen kaufmännischen Kalküls. Es war die Rationalität von Bürgern, die mit ihren Wohnhäusern am Platz ebenso ihren erworbenen Reichtum zur Schau stellten, wie sie sich auf den öffentlichen Raum des gemeinsamen Wohls hin orientierten und diesen Raum zugleich einhegten. Keine Frage, dass die Dinge im Detail weitaus komplizierter sind, auch in Krakau. Aber wenn irgendetwas, dann ist die Anlage dieses Platzes – und ähnlicher Plätze in anderen Städten – die DNA des aufgeklärten Europa. Unseres Europas.

Auschwitz-Birkenau
Rund sechzig Kilometer westlich von Krakau liegt Auschwitz: zum einen das „Stammlager“ mit dem berühmten Tor „Arbeit macht frei“, zum andern, ganz in der Nähe, Auschwitz-Birkenau, das Vernichtungslager. Ich fahre nicht hin. Nicht, weil ich etwas gegen Gedenkstätten hätte, sie sind wichtig. Aber ich weiss für mich selbst nicht, wie ich angemessen an einem Ort sein kann, wo vor noch nicht allzu langer Zeit weit über eine Million Menschen in systematischer, zum Teil gar, bei allem Irrsinn der Gewalt, in ‚rationaler‘ Weise bestialisch ermordet wurden. Also stehe ich auf dem Rynek Główny in Krakau und stelle mir diese banale, schon hunderttausendfach gestellte Frage: Wie um alles in der Welt war es möglich, dass mitten in Europa und in der Zeit, als seine wunderbaren Städte mit elektrischem Licht, Telefon, Radio und Strassenbahnen auch technologisch enlightened waren, solche Höllen auf Erden errichtet wurden? Wie nur? – Man geht dann in ein Kaffee und schaut den anderen Touristen zu, die über den Platz schlendern und Selfies schiessen, die Tuchhallen im Hintergrund.
Was also war, frage ich mich, die Aufklärung? Auch in Krakau sollte man angesichts der wunderbaren Platzanlage nicht allzu sehr ins Schwärmen geraten. Schon im Spätmittelalter wurde hier, wie der Reiseführer verrät, das Zusammenleben von deutschen und polnischen Bürgern sowie von Christen und Juden durch polnischen Chauvinismus und christlich motivierten Anti-Judaismus vergiftet; seit dem späten 15. Jh. hatten Krakaus Juden im Ghetto zu wohnen. Bürgerliche Selbständigkeit, Rationalität und die Gemeinsamkeiten des öffentlichen Raums haben, wie man weiss, auch später in der Geschichte weder verlässlich vor Diskriminierung geschützt noch Verbrechen verhindert. Die Aufklärung, diese vom Glauben an Rationalität befeuerte Kritik an – im Wesentlichen – kirchlichem Obskurantismus, aristokratischen Privilegien und rückständigen, ineffizienten Regierungsformen, vertrug sich nicht nur bestens mit dem aufkommenden wissenschaftlichen Rassismus und dem kolonialen Ausgreifen Europas in überseeische Gebiete, sondern sie lieferte dieser in Frankreich so genannten mission civilisatrice auch das ideologische Rüstzeug. Und es widersprach ihr auch nicht, die Proklamation der allgemeinen Menschenrechte mit der Behauptung einer weiblichen Sonderanthropologie zu komplettieren, die Frauen zu zartliebenden Gattinnen und Müttern zu stilisieren, welchen ipso facto keine politischen Rechte zukommen konnten. Die Philosophie der Aufklärung hat zwar von „dem“ Menschen gesprochen und sie formulierte ihre Ideale immer universalistisch, meinte aber im Grunde immer nur den weissen Mann. Das spricht nicht gegen diese Ideale, aber schon etwas gegen die Aufklärung.
Dialektik der Aufklärung
Das ist alles bekannt, wohl dokumentiert und vielfach kommentiert worden. Aber Auschwitz? Was hat die Aufklärung mit Auschwitz zu schaffen? Dazu gibt es viele Antworten; sie kreisen um die Überlegung, dass Rationalität als solche in keiner Weise eine ethisch richtige Form des Handelns bestimmen kann. Vielleicht sogar im Gegenteil – sie könnte die Anstrengungen der Ethik durch ihre ‚kalte‘ Rationalität unterspülen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die deutschen, jüdischen und marxistischen Philosophen, die 1933 vor den Nazis nach Amerika geflüchtet sind, haben der Aufklärung gerade ihre „strahlende“ Rationalität vorgehalten, die jedes ethische, oder wie sie es nannten, „vernünftige“ Moment mathematisierbaren Kalkülen unterwirft. Vernunft höre dann auf, ein Mittel zur Emanzipation zu sein, sondern werde zu einem Instrument der Macht, zu einer Anleitung für Unterdrückung und Ausbeutung.
Beispiele für diese „Dialektik der Aufklärung“ waren für Horkheimer/Adorno die rational durchkomponierten sexuellen Arrangements und Grausamkeiten des Marquis de Sade, die entseelte Marktlogik der kapitalistisch-fabrikindustriellen Produktion, oder eben „Auschwitz“, ihre Metapher für die in Barbarei „umgeschlagene“ Aufklärung schlechthin. Michel Foucault hat, dreissig Jahre später, die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und ihren dunklen Kehrseiten auf die knappe Formel gebracht: „Wie kommt es, dass die Rationalisierung zur Raserei der Macht wird?“ Und auch er hatte eine ‚Gegengeschichte‘ der Aufklärung geschrieben:

Panoptische Gefängnisanlage, Postkarte; Quelle: e-ir.info
1975 hatte er in Überwachen und Strafen, seinem grossen Buch über die Geschichte des Gefängnisses, das sogenannte Panoptikum, d.h. die vom englischen Utilitaristen Jeremy Bentham 1791 entworfene rationale Gefängnisanlage, zur Blaupause moderner, aufgeklärter Regierungsrationalität tout court erklärt: Eine Anlage, in der jeder „ein Rädchen“ ist und alle Individuen der grossen, anonymen und vollständig rationalen Macht dieser Maschine unterworfen sind: als sujets, als Unterworfene und zugleich jene Subjekte, welche sich von der Aufklärung die Realisierung ihrer Träume von ‚Autonomie‘ und ‚Befreiung‘ erhoffen, die in Wahrheit aber von dieser Maschine überhaupt erst produziert, sozialisiert wurden – und von ihr vollständig beherrscht werden.
Soll man also an der Aufklärung verzweifeln, sich gar nicht mehr auf sie beziehen? In Krakau bieten heute noch über hundert Kirchen Trost und Erbauung für all jene, die ihr Heil nicht oder nicht mehr von der Aufklärung erwarten. Eine zweifelhafte Alternative (aber das wäre eine andere Geschichte). Horkheimer und Adorno ihrerseits wurden zutiefst kulturkritisch; nach Auschwitz könne es, so Adornos berühmtes Diktum, keine Poesie mehr geben. Gerade in Deutschland hat sich ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem Hintergrund der jüngsten Geschichte zuerst eine rechte, dann vor allem aber eine linke Rationalitäts- und Technikkritik entwickelt. Das war die Kritik an der von Max Horkheimer so genannten „instrumentellen Vernunft“, die das im Nationalsozialismus offenbarte Versagen der Aufklärung darin sah, ihre ursprünglichen Ansprüche auf individuellen Vernunftgebrauch (das sapere aude Kants) wirtschaftlichen und politischen Zwecken geopfert zu haben, statt der Befreiung der Menschen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu dienen.
Die Freiheit des Subjekts
Diese Kritik aber wurde und wird bis heute begleitet vom Glauben, dass man sich dennoch ‚positiv‘ auf die Aufklärung als einem Emanzipationsprojekt beziehen könne. Die marxistische Linke (sofern es sie noch gibt), aber auch etwa Jürgen Habermas halten entschieden daran fest, dass „Vernunft“ sich nicht in technischer oder ökonomischer Rationalität erschöpfe, sondern auch die Einrichtung einer „vernünftigen“ Gesellschaft meine. Andere sind da skeptischer. Jean-François Lyotard hat in seinem berühmten Buch Das postmoderne Wissen von 1979 diagnostiziert, dass die Zeiten der „grossen Erzählungen“, namentlich von der Emanzipation der Menschheit hin zu einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft, unwiederbringlich vorbei seien, weil es weltweit zu viele denkbare Formen von Vernunft und ‚vernüftig eingerichteter Gesellschaft‘ gebe, zu viele Sprachen auch und zu viele Sprachspiele, um sich noch auf „die“ Vernunft beziehen zu können. Auch der Soziologe Niklas Luhmann hat kategorisch verneint, dass sich so etwas wie die von Habermas beschworene „substanzielle“ (das heisst ‚gute‘) Vernunft noch behaupten lasse, ohne eben eine blosse Behauptung unter vielen möglichen zu sein und in ihrem Absolutheitsanspruch sogleich dekonstruiert zu werden. Die Beispiele solcher Stimmen liessen sich mehren.
Soll man also die Aufklärung dem berühmten Misthaufen der Geschichte überlassen – oder soll man ‚trotz allem‘ weiterhin an sie ‚glauben‘? Michel Foucault hat sich – in kritischer Distanz zu seinen früheren Arbeiten – in seinem Spätwerk auf eine inspirierende Weise der „Erpressung“ entzogen, „für oder gegen die Aufklärung“ zu sein. In seinem 1984, dem Jahr seines Todes verfassten Text „Was ist Aufklärung?“ argumentierte Foucault, Immanuel Kant habe in seinem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahr 1784 die Frage nach der Gegenwart gestellt – das heisst die Frage, wie man in der Gegenwart eine „Haltung“ einnehmen könne, die den Beschränkungen der Vernunft und den Einschränkungen der Freiheit kritisch begegnet.
Denn die Aufklärung – und damit auch die Moderne – war für Foucault keine Epoche und auch keine Sammlung von Dogmen, ‚für‘ oder ‚gegen‘ die man sein könne, sondern eine Form der Kritik, d.h. eine, wie er sagte, „historische Analyse der uns gegebenen Grenzen und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung“. Aufklärung heisst dann: sich nicht mit dem Bestehenden, mit den uns gegebenen Grenzen zufrieden zu geben. Eine solche Aufklärung ist kein sicherer Anker irgendwo im 18. Jahrhundert, ist kein Grund für Selbstgefälligkeit – schon gar nicht jenen gegenüber, die angeblich ‚nicht aufgeklärt‘ sind – und sie ist keine feste Norm für unser Handeln. Sie sei, so Foucault, vielmehr als „kritische Haltung“ auf die Zukunft und auf die anzustrebende, niemals ganz erreichbare „Freiheit des Subjekts“ gerichtet.
Klingt gut –. Es ist für uns auch kaum denkbar, diesen Anspruch auf Freiheit aufzugeben. ,Für uns’ heisst allerdings: es ist unsere, westliche Konzeption von Freiheit. Foucault hat wie selbstverständlich betont, dass „der Kampf um die Freiheit“ vielleicht die „Wurzel“ des „einzigartigen […] historischen Geschicks“ der „abendländischen Gesellschaften“ sei. Wir können auf diesen ‚Kern’, ohne den Kritik nicht denkbar ist, nicht verzichten. Aber wir können genau deshalb auch nicht mehr ausschliessen und nicht verhindern, dass selbst der Anspruch auf die „Freiheit des Subjekts“ als eurozentrisch dekonstruiert werden kann. Die Erinnerung an die Aufklärung und ihre schalen Universalismen jedenfalls hilft dagegen schon lange nicht mehr. Vielleicht müssen wir beginnen, von jenen Anderen, die zum Beispiel als Flüchtlinge zu uns kommen, zu hören, was für sie die „Freiheit des Subjekts“, gar „Aufklärung“ bedeutet. Es würde unsere Begriffe erweitern, bereichern, verschieben – und dabei vielleicht auch bekräftigen.