Unter normalen Umständen wäre der dritte Wahlgang zur Wahl des Ministerpräsidenten von Thüringen in Deutschland nicht Gegenstand der nationalen Debatte. Doch am 5. Februar führten die Ereignisse im Erfurter Parlament gar zu einem internationalen Skandal, weil die Christdemokraten (CDU) und die Freien Demokraten (FDP) zusammen mit der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) die Bildung einer Minderheitsregierung durch eine linke Koalition verhinderten. Wie bei allen Entwicklungen im Zusammenhang mit Rechtsextremismus im Osten Deutschlands beschworen die Kommentatoren auch dieses Mal das Schreckgespenst der staatssozialistischen Vergangenheit: Der Politologe Herfried Münkler zum Beispiel machte die Erinnerungskultur der DDR für das ganze Fiasko verantwortlich. Die damals regierende Sozialistische Einheitspartei (SED) hatte den Kampf gegen den Nationalsozialismus auf ein Klassenkampfproblem reduziert und damit der Bevölkerung der DDR eine antifaschistische Ideologie eingeimpft, die die eigene Herrschaft legitimierte, ohne sich wirklich mit den Schrecken des Holocaust auseinanderzusetzen. Die heutige Demokratie im ehemaligen Osten sei immer noch, so Münkler, durch die Diktatur deformiert, die vor 30 Jahren zusammenbrach, und sie leide weiterhin unter einem Mangel an guten Demokraten.
Aber die politische Dynamik Thüringens lässt sich nicht auf solch vereinfachende Narrative reduzieren. Das längst untergegangene staatssozialistische Regime kann auch nicht allein für die gegenwärtige Krise verantwortlich gemacht werden. Die Krise hat ihren Ursprung in den politischen und gesellschaftlichen Prozessen, die Thüringen seit 1989 erlebt hat – wobei die Geschichte der DDR und ihr heutiges Verständnis von entscheidender Bedeutung bleibt. Im Zentrum der aktuellen politischen Krise in Thüringen stehen drei konkurrierende historische Erzählungen, die die nationalsozialistische und staatssozialistische Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft Deutschlands verbinden. Diese drei Erzählungen funktionieren allerdings nicht nach dem einfachen Schema „Ost gegen West“. Vielmehr zeigt die thüringische Politik, wie sich seit der Wiedervereinigung hybride politische Diskurse des rechtsextremen Revisionismus, des Antikommunismus und des Antifaschismus herausgebildet haben.
Die rechtsextreme Erzählung
Ein besonderer historischer Diskurs wird in Thüringen von rechtsextremen Revisionisten unter Führung der AfD geführt. Das Land hat ein langjähriges, wenn auch keineswegs einzigartiges Problem mit Neonazis: Es war die Heimat der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), ist Gastgeber des jährlichen rechtsextremen Themar-Rockkonzerts und der rechtsextremen Fraktion des Kyffhäuser-Treffens der AfD. Im Rahmen der Wahl von 2019 nun versuchte die AfD mit ihrem Slogan „Vollende die Wende“ die Erinnerung an die DDR zu nutzen, um die Revolution von 1989 „zu vollenden“. Ihre Botschaft lautete, dass die wirkliche Souveränität nie an die ehemaligen Bürger der DDR zurückgegeben worden sei, sondern man sie stattdessen einer Kabale von nicht demokratisch kontrollierten Eliten überlassen habe, die die deutsche Nation durch den massenhaften Import „kulturfremder“ Einwanderer unterminieren würden. Das war auch ein Echo auf rechtsextreme und populistische Stimmungen anderswo, wie namentlich jene der Pegida aus dem nahe gelegenen Dresden, die ebenfalls versucht hat, sich den Mantel der ostdeutschen Dissidentenbewegung umzuhängen.
Dennoch ist das von der AfD vorangetriebene historische Narrativ nicht ausschließlich ostdeutsch orientiert, sondern verschmilzt mit der unter den westdeutschen Rechtsextremen seit langem bestehenden Ablehnung einer auf Erinnerung und Sühne für den Holocaust ausgerichteten Erinnerungskultur. Björn Höcke, Geschichtslehrer aus Hessen, der sowohl von seinen Gegnern als auch von seinen Parteifreunden als Nazi beschrieben wird, beruft sich zwar oft auf die DDR, aber sein historischer Blickwinkel ist der eines deutschen revisionistischen Nationalismus.

Holocaust-Denkmal in Berlin; Quelle: boell.de
So sagte er 2017 etwa: „Bis jetzt ist unser Geisteszustand nach wie vor der eines völlig besiegten Volkes. Wir Deutsche sind die einzigen Menschen auf der Welt, die ein Denkmal der Schande im Herzen ihrer Hauptstadt errichtet haben“. Ähnliche Ansichten wurden von anderen AfD-Führern wie Alexander Gauland geäußert, der sagte, dass die Nazizeit nur ein „Vogelschiss“ in der „erfolgreichen“ Geschichte der deutschen Nation sei. Auch Gauland machte seine Karriere im Westen, wo er für die CDU arbeitete, bevor er in die AfD eintrat. Obwohl also die Ablehnung der Holocaust-Gedächtniskultur im Osten Deutschlands oft auf die Versäumnisse der SED bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zurückgeführt wird, ist die AfD auch ein Produkt der westdeutschen Rechtsextremisten, die nach 1989 in den Osten zogen, um auf den Trümmern der DDR eine neue Bewegung aufzubauen.
Eine Wahl zwischen dem Zentrum und den Extremen?

Demonstration in Erfurt, 7.5.1989; Quelle: boell.de
Umgekehrt ist der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring ein Einheimischer, dessen politische Karriere in der christlichen Bürgerbewegung begann. In Anlehnung an die zweite vorherrschende Geschichtserzählung, die während der Wahl zirkulierte, umreißt er seine eigene Rolle als Verteidiger von 1989. In Bezug auf das Wählenkönnen sagte er: „Das haben wir vor 30 Jahren in der friedlichen Revolution erkämpft, dafür bin ich damals auf die Straße gegangen. […] Die Linke und die AfD wollen ein anderes Land, wir wollen eine bessere Politik.“
Für Mohring war diese Landtagswahl eine Wahl zwischen Zentrum und Extremen, und die staatssozialistischen Wurzeln der Linken machten sie für ihn ebenso inakzeptabel wie die AfD. Als Bodo Ramelow und Die Linke vor fünf Jahren durch den Zusammenschluss der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – der direkten Nachfolgerin der Sozialistischen Einheitspartei – und einer Splittergruppe linker Sozialdemokraten (SPD) erstmals seit ihrer Gründung im Jahr 2007 die Macht übernahmen, löste sie Straßenproteste derjenigen aus, die darin eine Rückkehr der SED und möglicherweise sogar der Stasi sahen. In Erfurt forderten Demonstranten „Keine Macht den Kommunisten“ und einige zogen ihre Plakate von 1989 heraus und forderten das Ende der SED. Ramelow wurde beschuldigt, ein „Wolf im Schafspelz“ zu sein, der seinen sozialistischen Extremismus unter einer Fassade der Mäßigung verberge.
In den Jahren seit dieser Wahl hat diese Erzählung jedoch an Resonanz verloren, da sich die links-sozialdemokratisch-grüne Koalition unter Ramelow als eher gemäßigt – und populär – erwies. In der Linken gibt es einige ehemalige Mitglieder der SED, sowie einige ehemalige Stasi-Informanten. Aber Ramelow selbst ist aus dem Westen, ein ehemaliger Gewerkschafter und praktizierender Christ. Er wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht, bis die Gerichte 2013 eine weitere Überwachung mit der Begründung untersagten, es gebe keine Beweise dafür, dass Ramelow antidemokratisch sei. Zu seinen Koalitionspartnern gehört Astrid Rothe-Beinlich von den Grünen, die der kirchlichen Umweltbewegung in der DDR angehörte und 1989 an der Besetzung der Stasi-Zentrale in Erfurt beteiligt war.
Auch Wolfgang Tiefensee (SPD) ist ein überzeugter Dissident – als römisch-katholischer Katholik lehnte er die Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee und die Teilnahme an der fast obligatorischen Freien Deutschen Jugend ab. Diese einzigartige Konfiguration bedeutete, dass die Geschichte der DDR ein Verhandlungspunkt bei den Koalitionsverhandlungen war. Die abschließende Vereinbarung beinhaltete die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Erklärung, dass „die DDR eine Diktatur, kein Rechtsstaat“ gewesen sei. In seiner ersten Rede als Ministerpräsident entschuldigte sich Ramelow für das von der SED begangene Unrecht.
Ein Nebeneffekt der Fokussierung auf die Rolle der Parteimitglieder der Linken im ostdeutschen Staat war ein erneuter Blick auf die Aktivitäten der Christdemokraten in der DDR. Obwohl es in Ostdeutschland keine kompetitiven Wahlen gab, gab es mehrere „Blockparteien“, darunter eine Ost-CDU, die in Abstimmung mit der SED wählte. Die beiden Ministerpräsidenten Thüringens vor Ramelow waren Mitglieder der ostdeutschen CDU, und ein früherer Justizminister hatte einen Sitz im DDR-Parlament inne. Eine erneute Prüfung veranlasste Mike Mohring, eine unabhängige Historikerkommission zur Untersuchung der Geschichte der ostdeutschen CDU einzusetzen.
„Gerechtigkeit und Solidarität“
Als die CDU sich von ihrer ostdeutschen Vergangenheit zu distanzieren suchte, schlug Ramelow bei der Wahl 2019 eine neue – für unsere Zwecke hier dritte – Art hybrider Erinnerungskultur vor. In einem Fernseh-Wahlspot mit dem Titel „Geschichte ist der Rahmen unserer Identität“ ging Ramelow den Weg zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald außerhalb von Weimar. Ohne die AfD namentlich zu erwähnen, sagt er in einem Voice-Over: „Wir können nicht zulassen, dass unsere Geschichte, die Zeit von ’33 bis ’45, als ‚Vogelschiss‘ abgetan oder unsere Gedenkstätten als Schande bezeichnet werden“. In dem Video ist zu sehen, wie er an der 1958 von der SED errichteten Gedenkstätte stehen bleibt, die auch an die Opfer im Widerstand gegen den Faschismus erinnert.

Denkmal „für die Opfer des Faschismus“, 1958, Buchenwald; Quelle: weimar.de
Im Werbevideo sind die Figuren meist unscharf im Hintergrund zu sehen – erkennbar für die vielen Thüringer, die den Ort auf persönlichen und Schulausflügen besuchen, aber wahrscheinlich nicht identifizierbar für Zuschauer von weiter weg. Die Diskurse des westlichen Holocaust-Gedenkens und der sozialistischen Rhetorik vermischend, schließt Ramelow: „Nie wieder und niemals vergessen: Gerechtigkeit und Solidarität“. Die Botschaft betont eine demokratische Verantwortung auf der Grundlage der Naziverbrechen, bezieht aber auch kulturelle Aspekte der ostdeutschen Vergangenheit (das antifaschistische Mahnmal, die Sprache der Solidarität) mit ein, anstatt sie einfach auszulöschen. In ähnlicher Weise reagierte Ramelow auf die Kritik, dass er sich weigere, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, indem er einen langen Artikel über den Begriff und seine Verwendung zur Beschreibung der Nazi-Verbrechen durch den jüdischen westdeutschen Staatsanwalt Fritz Bauer veröffentlichte, der die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren initiiert hatte.
Ein gespaltenes Bundesland
Während der Wahl 2019 setzte sich keine der drei Erzählungen durch. Die AfD konnte ihre bisherigen Ergebnisse mehr als verdoppeln (auf 23,4%). Nach fünf Jahren einer populären links-sozialdemokratisch-grünen Koalitionsregierung sank der Stimmenanteil der CDU von 33,5% auf 21,7%. Schließlich erhöhte die Linke ihren Stimmenanteil auf 31% und wurde damit zur größten Partei; sie wurde aber durch den Einzug der FDP ins Parlament und die Schwächung der SPD blockiert, wodurch die Koalition ihre parlamentarische Mehrheit insgesamt verlor. Dass die AfD in der Wählergunst nur den zweiten Platz hinter der Linken erreichte, war allein auf die hohe Wahlbeteiligung der über 60-Jährigen zurückzuführen, die entgegen den üblichen Erwartungen mit überwältigender Mehrheit für die Linke stimmten. Mit anderen Worten, die in der DDR sozialisierten Menschen verhinderten, dass die Jüngeren, vor allem jene, die im vereinten Deutschland aufwuchsen, die AfD zur stärksten Partei in Thüringen machten.
Darüber hinaus wurde die Entscheidung der Mitte-Rechts-Bewegung, an der Seite der AfD zu wählen, weitgehend von Personen mit Wurzeln im Westen getroffen. Sowohl die lokalen AfD- als auch die FDP-Führer sind in Westdeutschland geboren und aufgewachsen. Die Bemühungen aus der Thüringer CDU, Brücken zu Rechtsextremen zu bauen, wurden von Karl-Eckhard Hahn, ebenfalls ursprünglich aus dem Westen, geleitet, dessen Verbindungen zur Neuen Rechten bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Die Entscheidung der CDU, mit der AfD zu stimmen, wurde von Bernhard Vogel – dem ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen (1992-2003), der zuvor Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz war – verteidigt. Ein weiterer Schlüsselakteur des Debakels war der Rheinländer Hans-Georg Maaßen, der das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Ramelow wegen antidemokratischen Verhaltens überwachte, geleitet hatte, bevor er nach der Verharmlosung rechtsextremer Gewalt in der Stadt Chemnitz und wegen unangemessener Verbindungen zur AfD entlassen wurde. Maaßen ist zum Gesicht der WerteUnion (einer rechtskonservativen Fraktion der CDU) geworden und hat hinter den Kulissen die Zusammenarbeit mit der AfD in Thüringen und anderswo gefördert.
Obwohl die Bundesrepublik oft dafür gelobt wird, dass sie die Erinnerungskultur mit einem starken Gefühl der nationalen Schuld und Sühne für den Holocaust und einer totalen Abscheu vor dem nationalistischen Revisionismus gleichsetzt, war dieses Gefühl nie universell. In den 1980er Jahren bestand der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl bei einem Staatsbesuch von US-Präsident Ronald Reagan darauf, auf einem Friedhof, auf dem auch Soldaten des Landes Waffen-SS bestattet wurden, einen Kranz niederzulegen – trotz internationaler Empörung. Der Historikerstreit der 1980er Jahre wurde von prominenten konservativen Gelehrten ausgelöst, die die Schuld der Nazis herunterzuspielen versuchten, indem sie behaupteten, der Holocaust sei eine reaktive Maßnahme auf die sowjetischen Verbrechen gewesen, und die deutschen Kriegsanstrengungen an der Ostfront könnten als ehrenvolle Verteidigung des Vaterlandes verstanden werden. Diese westdeutsche national-konservative Tradition, die den Kommunismus als eine größere Bedrohung der inneren Ordnung ansieht als den rechtsextremen Ethnonationalismus, setzt sich bis in die Gegenwart fort.
Fazit
Es ist nur allzu leicht, die aktuelle politische Krise in Erfurt auf eine Sammlung ostdeutscher Karikaturen zu reduzieren. Die Linkspartei wird als eine Truppe reaktionärer Stalinisten dargestellt, die versuchen, sowohl die Mauer als auch die Stasi zurückzubringen. Die Rechtsextremen in Thüringen werden in ähnlicher Weise als das Endprodukt eines Staates pathologisiert, der es versäumt hat, demokratische Werte zu vermitteln (im Gegensatz zu den Westdeutschen, die die Demokratie unter der Vormundschaft der westlichen Besatzer erlernt haben). Doch die politische Situation in Thüringen, wie im übrigen Osten Deutschlands, lässt sich nicht auf einen bloßen historischen hang-over des Sozialismus reduzieren, sondern muss im Lichte der vielfältigen Wiedervereinigungsprozesse untersucht werden, die neue polarisierte (und polarisierende) Mischformen von Ost und West hervorgebracht haben.