Sind „die Ostdeutschen“ schlechte Demokraten, die der DDR nachtrauern – und ist der „Westen“ am Erfurter Debakel ganz unbeteiligt? Keineswegs. Thüringens Politik wurzelt zwar in der Erinnerung an die Deutsche Demokratische Republik, aber der aktuelle Rechtsextremismus-Skandal ist weit mehr als nur ein staatssozialistischer Kater.

  • Ned Richardson-Little

    Ned Richardson-Little leitet derzeit an der Universität Erfurt die Forschungsgruppe "Das andere globale Deutschland: Abweichende Globalisierung und transnationale Kriminalität im 20. Jahrhundert". Sein Buch "The Human Rights Dictatorship: Socialism, Global Solidarity and Revolution in East Germany“ wird Anfang 2020 bei Cambridge University Press erscheinen.

Unter normalen Umständen wäre der dritte Wahl­gang zur Wahl des Minis­ter­prä­si­denten von Thüringen in Deutsch­land nicht Gegen­stand der natio­nalen Debatte. Doch am 5. Februar führten die Ereig­nisse im Erfurter Parla­ment gar zu einem inter­na­tio­nalen Skandal, weil die Christ­de­mo­kraten (CDU) und die Freien Demo­kraten (FDP) zusammen mit der rechts­extremen Alter­na­tive für Deutsch­land (AfD) die Bildung einer Minder­heits­re­gie­rung durch eine linke Koali­tion verhin­derten. Wie bei allen Entwick­lungen im Zusam­men­hang mit Rechts­extre­mismus im Osten Deutsch­lands beschworen die Kommen­ta­toren auch dieses Mal das Schreck­ge­spenst der staats­so­zia­lis­ti­schen Vergan­gen­heit: Der Poli­to­loge Herfried Münkler zum Beispiel machte die Erin­ne­rungs­kultur der DDR für das ganze Fiasko verant­wort­lich. Die damals regie­rende Sozia­lis­ti­sche Einheits­partei (SED) hatte den Kampf gegen den Natio­nal­so­zia­lismus auf ein Klas­sen­kampf­pro­blem redu­ziert und damit der Bevöl­ke­rung der DDR eine anti­fa­schis­ti­sche Ideo­logie einge­impft, die die eigene Herr­schaft legi­ti­mierte, ohne sich wirk­lich mit den Schre­cken des Holo­caust ausein­an­der­zu­setzen. Die heutige Demo­kratie im ehema­ligen Osten sei immer noch, so Münkler, durch die Diktatur defor­miert, die vor 30 Jahren zusam­men­brach, und sie leide weiterhin unter einem Mangel an guten Demokraten.

Aber die poli­ti­sche Dynamik Thürin­gens lässt sich nicht auf solch verein­fa­chende Narra­tive redu­zieren. Das längst unter­ge­gan­gene staats­so­zia­lis­ti­sche Regime kann auch nicht allein für die gegen­wär­tige Krise verant­wort­lich gemacht werden. Die Krise hat ihren Ursprung in den poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Prozessen, die Thüringen seit 1989 erlebt hat – wobei die Geschichte der DDR und ihr heutiges Verständnis von entschei­dender Bedeu­tung bleibt. Im Zentrum der aktu­ellen poli­ti­schen Krise in Thüringen stehen drei konkur­rie­rende histo­ri­sche Erzäh­lungen, die die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche und staats­so­zia­lis­ti­sche Vergan­gen­heit mit der Gegen­wart und der Zukunft Deutsch­lands verbinden. Diese drei Erzäh­lungen funk­tio­nieren aller­dings nicht nach dem einfa­chen Schema „Ost gegen West“. Viel­mehr zeigt die thürin­gi­sche Politik, wie sich seit der Wieder­ver­ei­ni­gung hybride poli­ti­sche Diskurse des rechts­extremen Revi­sio­nismus, des Anti­kom­mu­nismus und des Anti­fa­schismus heraus­ge­bildet haben.

Die rechts­extreme Erzählung

Ein beson­derer histo­ri­scher Diskurs wird in Thüringen von rechts­extremen Revi­sio­nisten unter Führung der AfD geführt. Das Land hat ein lang­jäh­riges, wenn auch keines­wegs einzig­ar­tiges Problem mit Neonazis: Es war die Heimat der Terror­or­ga­ni­sa­tion Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Unter­grund (NSU), ist Gast­geber des jähr­li­chen rechts­extremen Themar-Rockkonzerts und der rechts­extremen Frak­tion des Kyffhäuser-Treffens der AfD. Im Rahmen der Wahl von 2019 nun versuchte die AfD mit ihrem Slogan Voll­ende die Wende“ die Erin­ne­rung an die DDR zu nutzen, um die Revo­lu­tion von 1989 „zu voll­enden“. Ihre Botschaft lautete, dass die wirk­liche Souve­rä­nität nie an die ehema­ligen Bürger der DDR zurück­ge­geben worden sei, sondern man sie statt­dessen einer Kabale von nicht demo­kra­tisch kontrol­lierten Eliten über­lassen habe, die die deut­sche Nation durch den massen­haften Import „kultur­fremder“ Einwan­derer unter­mi­nieren würden. Das war auch ein Echo auf rechts­extreme und popu­lis­ti­sche Stim­mungen anderswo, wie nament­lich jene der Pegida aus dem nahe gele­genen Dresden, die eben­falls versucht hat, sich den Mantel der ostdeut­schen Dissi­den­ten­be­we­gung umzuhängen.

Dennoch ist das von der AfD voran­ge­trie­bene histo­ri­sche Narrativ nicht ausschließ­lich ostdeutsch orien­tiert, sondern verschmilzt mit der unter den west­deut­schen Rechts­extremen seit langem bestehenden Ableh­nung einer auf Erin­ne­rung und Sühne für den Holo­caust ausge­rich­teten Erin­ne­rungs­kultur. Björn Höcke, Geschichts­lehrer aus Hessen, der sowohl von seinen Gegnern als auch von seinen Partei­freunden als Nazi beschrieben wird, beruft sich zwar oft auf die DDR, aber sein histo­ri­scher Blick­winkel ist der eines deut­schen revi­sio­nis­ti­schen Nationalismus.

Holocaust-Denkmal in Berlin; Quelle: boell.de

So sagte er 2017 etwa: „Bis jetzt ist unser Geis­tes­zu­stand nach wie vor der eines völlig besiegten Volkes. Wir Deut­sche sind die einzigen Menschen auf der Welt, die ein Denkmal der Schande im Herzen ihrer Haupt­stadt errichtet haben“. Ähnliche Ansichten wurden von anderen AfD-Führern wie Alex­ander Gauland geäu­ßert, der sagte, dass die Nazi­zeit nur ein „Vogel­schiss“ in der „erfolg­rei­chen“ Geschichte der deut­schen Nation sei. Auch Gauland machte seine Karriere im Westen, wo er für die CDU arbei­tete, bevor er in die AfD eintrat. Obwohl also die Ableh­nung der Holocaust-Gedächtniskultur im Osten Deutsch­lands oft auf die Versäum­nisse der SED bei der Aufar­bei­tung der NS-Vergangenheit zurück­ge­führt wird, ist die AfD auch ein Produkt der west­deut­schen Rechts­extre­misten, die nach 1989 in den Osten zogen, um auf den Trüm­mern der DDR eine neue Bewe­gung aufzubauen.

Eine Wahl zwischen dem Zentrum und den Extremen?

Demons­tra­tion in Erfurt, 7.5.1989; Quelle: boell.de

Umge­kehrt ist der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring ein Einhei­mi­scher, dessen poli­ti­sche Karriere in der christ­li­chen Bürger­be­we­gung begann. In Anleh­nung an die zweite vorherr­schende Geschichts­er­zäh­lung, die während der Wahl zirku­lierte, umreißt er seine eigene Rolle als Vertei­diger von 1989. In Bezug auf das Wählen­können sagte er: „Das haben wir vor 30 Jahren in der fried­li­chen Revo­lu­tion erkämpft, dafür bin ich damals auf die Straße gegangen. […] Die Linke und die AfD wollen ein anderes Land, wir wollen eine bessere Politik.“

Für Mohring war diese Land­tags­wahl eine Wahl zwischen Zentrum und Extremen, und die staats­so­zia­lis­ti­schen Wurzeln der Linken machten sie für ihn ebenso inak­zep­tabel wie die AfD. Als Bodo Ramelow und Die Linke vor fünf Jahren durch den Zusam­men­schluss der Partei des Demo­kra­ti­schen Sozia­lismus (PDS) – der direkten Nach­fol­gerin der Sozia­lis­ti­schen Einheits­partei – und einer Split­ter­gruppe linker Sozi­al­de­mo­kraten (SPD) erst­mals seit ihrer Grün­dung im Jahr 2007 die Macht über­nahmen, löste sie Stra­ßen­pro­teste derje­nigen aus, die darin eine Rück­kehr der SED und mögli­cher­weise sogar der Stasi sahen. In Erfurt forderten Demons­tranten „Keine Macht den Kommu­nisten“ und einige zogen ihre Plakate von 1989 heraus und forderten das Ende der SED. Ramelow wurde beschul­digt, ein „Wolf im Schafs­pelz“ zu sein, der seinen sozia­lis­ti­schen Extre­mismus unter einer Fassade der Mäßi­gung verberge.

In den Jahren seit dieser Wahl hat diese Erzäh­lung jedoch an Reso­nanz verloren, da sich die links-sozialdemokratisch-grüne Koali­tion unter Ramelow als eher gemä­ßigt – und populär – erwies. In der Linken gibt es einige ehema­lige Mitglieder der SED, sowie einige ehema­lige Stasi-Informanten. Aber Ramelow selbst ist aus dem Westen, ein ehema­liger Gewerk­schafter und prak­ti­zie­render Christ. Er wurde vom Bundesamt für Verfas­sungs­schutz über­wacht, bis die Gerichte 2013 eine weitere Über­wa­chung mit der Begrün­dung unter­sagten, es gebe keine Beweise dafür, dass Ramelow anti­de­mo­kra­tisch sei. Zu seinen Koali­ti­ons­part­nern gehört Astrid Rothe-Beinlich von den Grünen, die der kirch­li­chen Umwelt­be­we­gung in der DDR ange­hörte und 1989 an der Beset­zung der Stasi-Zentrale in Erfurt betei­ligt war.

Auch Wolf­gang Tiefensee (SPD) ist ein über­zeugter Dissi­dent – als römisch-katholischer Katholik lehnte er die Wehr­pflicht in der Natio­nalen Volks­armee und die Teil­nahme an der fast obli­ga­to­ri­schen Freien Deut­schen Jugend ab. Diese einzig­ar­tige Konfi­gu­ra­tion bedeu­tete, dass die Geschichte der DDR ein Verhand­lungs­punkt bei den Koali­ti­ons­ver­hand­lungen war. Die abschlie­ßende Verein­ba­rung beinhal­tete die Notwen­dig­keit einer kriti­schen Ausein­an­der­set­zung mit der Vergan­gen­heit und die Erklä­rung, dass „die DDR eine Diktatur, kein Rechts­staat“ gewesen sei. In seiner ersten Rede als Minis­ter­prä­si­dent entschul­digte sich Ramelow für das von der SED began­gene Unrecht.

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Ein Neben­ef­fekt der Fokus­sie­rung auf die Rolle der Partei­mit­glieder der Linken im ostdeut­schen Staat war ein erneuter Blick auf die Akti­vi­täten der Christ­de­mo­kraten in der DDR. Obwohl es in Ostdeutsch­land keine kompe­ti­tiven Wahlen gab, gab es mehrere „Block­par­teien“, darunter eine Ost-CDU, die in Abstim­mung mit der SED wählte. Die beiden Minis­ter­prä­si­denten Thürin­gens vor Ramelow waren Mitglieder der ostdeut­schen CDU, und ein früherer Justiz­mi­nister hatte einen Sitz im DDR-Parlament inne. Eine erneute Prüfung veran­lasste Mike Mohring, eine unab­hän­gige Histo­ri­ker­kom­mis­sion zur Unter­su­chung der Geschichte der ostdeut­schen CDU einzusetzen. 

„Gerech­tig­keit und Solidarität“

Als die CDU sich von ihrer ostdeut­schen Vergan­gen­heit zu distan­zieren suchte, schlug Ramelow bei der Wahl 2019 eine neue – für unsere Zwecke hier dritte – Art hybrider Erin­ne­rungs­kultur vor. In einem Fernseh-Wahlspot mit dem Titel „Geschichte ist der Rahmen unserer Iden­tität“ ging Ramelow den Weg zur KZ-Gedenkstätte Buchen­wald außer­halb von Weimar. Ohne die AfD nament­lich zu erwähnen, sagt er in einem Voice-Over: „Wir können nicht zulassen, dass unsere Geschichte, die Zeit von ’33 bis ’45, als ‚Vogel­schiss‘ abgetan oder unsere Gedenk­stätten als Schande bezeichnet werden“. In dem Video ist zu sehen, wie er an der 1958 von der SED errich­teten Gedenk­stätte stehen bleibt, die auch an die Opfer im Wider­stand gegen den Faschismus erinnert. 

Denkmal „für die Opfer des Faschismus“, 1958, Buchen­wald; Quelle: weimar.de

Im Werbe­video sind die Figuren meist unscharf im Hinter­grund zu sehen – erkennbar für die vielen Thüringer, die den Ort auf persön­li­chen und Schul­aus­flügen besu­chen, aber wahr­schein­lich nicht iden­ti­fi­zierbar für Zuschauer von weiter weg. Die Diskurse des west­li­chen Holocaust-Gedenkens und der sozia­lis­ti­schen Rhetorik vermi­schend, schließt Ramelow: „Nie wieder und niemals vergessen: Gerech­tig­keit und Soli­da­rität“. Die Botschaft betont eine demo­kra­ti­sche Verant­wor­tung auf der Grund­lage der Nazi­ver­bre­chen, bezieht aber auch kultu­relle Aspekte der ostdeut­schen Vergan­gen­heit (das anti­fa­schis­ti­sche Mahnmal, die Sprache der Soli­da­rität) mit ein, anstatt sie einfach auszu­lö­schen. In ähnli­cher Weise reagierte Ramelow auf die Kritik, dass er sich weigere, die DDR als „Unrechts­staat“ zu bezeichnen, indem er einen langen Artikel über den Begriff und seine Verwen­dung zur Beschrei­bung der Nazi-Verbrechen durch den jüdi­schen west­deut­schen Staats­an­walt Fritz Bauer veröf­fent­lichte, der die Frank­furter Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren initi­iert hatte.

Ein gespal­tenes Bundesland

Während der Wahl 2019 setzte sich keine der drei Erzäh­lungen durch. Die AfD konnte ihre bishe­rigen Ergeb­nisse mehr als verdop­peln (auf 23,4%). Nach fünf Jahren einer popu­lären links-sozialdemokratisch-grünen Koali­ti­ons­re­gie­rung sank der Stim­men­an­teil der CDU von 33,5% auf 21,7%. Schließ­lich erhöhte die Linke ihren Stim­men­an­teil auf 31% und wurde damit zur größten Partei; sie wurde aber durch den Einzug der FDP ins Parla­ment und die Schwä­chung der SPD blockiert, wodurch die Koali­tion ihre parla­men­ta­ri­sche Mehr­heit insge­samt verlor. Dass die AfD in der Wähler­gunst nur den zweiten Platz hinter der Linken erreichte, war allein auf die hohe Wahl­be­tei­li­gung der über 60-Jährigen zurück­zu­führen, die entgegen den übli­chen Erwar­tungen mit über­wäl­ti­gender Mehr­heit für die Linke stimmten. Mit anderen Worten, die in der DDR sozia­li­sierten Menschen verhin­derten, dass die Jüngeren, vor allem jene, die im vereinten Deutsch­land aufwuchsen, die AfD zur stärksten Partei in Thüringen machten.

Darüber hinaus wurde die Entschei­dung der Mitte-Rechts-Bewegung, an der Seite der AfD zu wählen, weit­ge­hend von Personen mit Wurzeln im Westen getroffen. Sowohl die lokalen AfD- als auch die FDP-Führer sind in West­deutsch­land geboren und aufge­wachsen. Die Bemü­hungen aus der Thüringer CDU, Brücken zu Rechts­extremen zu bauen, wurden von Karl-Eckhard Hahn, eben­falls ursprüng­lich aus dem Westen, geleitet, dessen Verbin­dungen zur Neuen Rechten bis in die 1980er Jahre zurück­rei­chen. Die Entschei­dung der CDU, mit der AfD zu stimmen, wurde von Bern­hard Vogel – dem ehema­ligen CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen (1992-2003), der zuvor Minis­ter­prä­si­dent von Rheinland-Pfalz war – vertei­digt. Ein weiterer Schlüs­sel­ak­teur des Deba­kels war der Rhein­länder Hans-Georg Maaßen, der das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz, das Ramelow wegen anti­de­mo­kra­ti­schen Verhal­tens über­wachte, geleitet hatte, bevor er nach der Verharm­lo­sung rechts­extremer Gewalt in der Stadt Chem­nitz und wegen unan­ge­mes­sener Verbin­dungen zur AfD entlassen wurde. Maaßen ist zum Gesicht der Werte­Union (einer rechts­kon­ser­va­tiven Frak­tion der CDU) geworden und hat hinter den Kulissen die Zusam­men­ar­beit mit der AfD in Thüringen und anderswo gefördert.

Obwohl die Bundes­re­pu­blik oft dafür gelobt wird, dass sie die Erin­ne­rungs­kultur mit einem starken Gefühl der natio­nalen Schuld und Sühne für den Holo­caust und einer totalen Abscheu vor dem natio­na­lis­ti­schen Revi­sio­nismus gleich­setzt, war dieses Gefühl nie univer­sell. In den 1980er Jahren bestand der west­deut­sche Bundes­kanzler Helmut Kohl bei einem Staats­be­such von US-Präsident Ronald Reagan darauf, auf einem Friedhof, auf dem auch Soldaten des Landes Waffen-SS bestattet wurden, einen Kranz nieder­zu­legen trotz inter­na­tio­naler Empö­rung. Der Histo­ri­ker­streit der 1980er Jahre wurde von promi­nenten konser­va­tiven Gelehrten ausge­löst, die die Schuld der Nazis herun­ter­zu­spielen versuchten, indem sie behaup­teten, der Holo­caust sei eine reak­tive Maßnahme auf die sowje­ti­schen Verbre­chen gewesen, und die deut­schen Kriegs­an­stren­gungen an der Ostfront könnten als ehren­volle Vertei­di­gung des Vater­landes verstanden werden. Diese west­deut­sche national-konservative Tradi­tion, die den Kommu­nismus als eine größere Bedro­hung der inneren Ordnung ansieht als den rechts­extremen Ethno­na­tio­na­lismus, setzt sich bis in die Gegen­wart fort.

Fazit

Es ist nur allzu leicht, die aktu­elle poli­ti­sche Krise in Erfurt auf eine Samm­lung ostdeut­scher Kari­ka­turen zu redu­zieren. Die Links­partei wird als eine Truppe reak­tio­närer Stali­nisten darge­stellt, die versu­chen, sowohl die Mauer als auch die Stasi zurück­zu­bringen. Die Rechts­extremen in Thüringen werden in ähnli­cher Weise als das Endpro­dukt eines Staates patho­lo­gi­siert, der es versäumt hat, demo­kra­ti­sche Werte zu vermit­teln (im Gegen­satz zu den West­deut­schen, die die Demo­kratie unter der Vormund­schaft der west­li­chen Besatzer erlernt haben). Doch die poli­ti­sche Situa­tion in Thüringen, wie im übrigen Osten Deutsch­lands, lässt sich nicht auf einen bloßen histo­ri­schen hang-over des Sozia­lismus redu­zieren, sondern muss im Lichte der viel­fäl­tigen Wieder­ver­ei­ni­gungs­pro­zesse unter­sucht werden, die neue pola­ri­sierte (und pola­ri­sie­rende) Misch­formen von Ost und West hervor­ge­bracht haben.