Was ist gerecht? Seit Aristoteles wird diese Frage in der westlichen Welt kontrovers diskutiert. Heute hat sie zwei Dimensionen: Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch der Verteilung von Anerkennung und Repräsentation.

  • Pablo Hubacher Haerle

    Pablo Hubacher Haerle ist Student der Philosophie und Volkswirtschaft an der Universität Zürich. Er interessiert sich für Populismus, Rap und Wittgenstein.

Das Wort wird selten ausge­spro­chen und ist dennoch fast in jeder poli­ti­schen Debatte präsent: Ob um gender­neu­trale Toiletten, nied­ri­gere Steu­er­sätze für Reiche oder die gesell­schaft­liche Verant­wor­tung von Konzernen gestritten wird – schluss­end­lich geht es immer um Gerech­tig­keit. Sowohl von links als auch von rechts wird dieser Begriff herbei­zi­tiert, um entweder zu Reformen aufzu­rufen oder den Status-Quo zu vertei­digen. Der Kampf für Gerech­tig­keit ist ein uraltes Narrativ, das von Sopho­kles bis zu den Wachowski-Geschwistern („Matrix“), wieder und wieder erzählt wird. Verbirgt sich hinter der Gerech­tig­keit aber noch mehr als bloss ein emotio­naler Kniff beim Erzählen einer Geschichte? Ist da noch mehr als nur ein rheto­ri­scher Schachzug gewiefter Politiker?

Aris­to­teles und die Anfänge

Aris­to­teles beschäf­tigt sich im fünften Buch der Niko­ma­chi­schen Ethik mit der Tugend der Gerech­tig­keit. Er trifft dabei eine Unter­schei­dung, die auch heute wieder rele­vant ist, nämlich die zwischen „kommu­ta­tiver“ und „distri­bu­tiver“ Gerech­tig­keit. Die kommu­ta­tive Gerech­tig­keit fordert, dass alle genau gleich­be­han­delt werden, unab­hängig von persön­li­chen, finan­zi­ellen oder poli­ti­schen Eigen­schaften. Herrscht abso­lute Gleich­be­hand­lung, so ist die daraus resul­tie­rende Situa­tion gerecht. Dieses Konzept wird von Aris­to­teles mit dem arith­me­ti­schen Mittel vergli­chen: die Summe wird geteilt durch die Anzahl der Teil­nehmer. Dabei ist uner­heb­lich, wer wie viel zum Kuchen beigetragen hat, jeder bekommt ein gleich grosses Stück. Das klas­si­sche Beispiel hierfür ist das Recht: Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Aris­to­teles; Quelle: ocesaronada.net

Die distri­bu­tive Gerech­tig­keit hingegen erlaubt, dass Personen unter­schied­lich behan­delt werden. Wenn z.B. in der grie­chi­schen Polis ein eloquenter und gebil­deter Bürger ins Amt eines Poli­ti­kers gewählt wird, während dies einem anderen verwehrt wird, muss dies keine Unge­rech­tig­keit sein. Denn wenn die beiden Bürger in rele­vanten Aspekten verschieden sind, sollten sie auch verschieden behan­delt werden. Die Zutei­lung von Aner­ken­nung, poli­ti­schen Ämtern oder mate­ri­ellen Gütern sollte danach ausge­richtet werden, wie die einzelnen Indi­vi­duen beschaffen sind. Aris­to­teles findet für diese Form der Gerech­tig­keit eine Paral­lele zur Geome­trie: Wer am meisten zum Kuchen beigetragen hat, soll propor­tional mehr davon profi­tieren. Sein Beispiel hierfür ist die Inves­ti­tion: die Inves­torin, welche das umfang­reichste Kapital bereit­stellt, soll dafür die höchste Rendite erhalten.

Für beide Formen von Gerech­tig­keit sieht Aris­to­teles eine gemein­same Wurzel: die Gleich­heit. Das was einge­for­dert wird, muss dem entspre­chen, was wegge­nommen wurde. Wenn ich z.B. für mich und meine Gruppe Gerech­tig­keit in Form von Privi­le­gien einfor­dere, dann müssen diese der Ungleich­be­hand­lung und Diskri­mi­nie­rung entspre­chen, die meine Gruppe erfahren hat. Wurde oder wird eine Gruppe chro­nisch und struk­tu­rell benach­tei­ligt, so kann es durchaus gerecht sein, spezi­elle Rechte oder Privi­le­gien einzu­for­dern. Unter­schied­liche Eigen­schaften recht­fer­tigen unter­schied­liche Behandlung.

Der Libe­ra­lismus bediente sich, würde er ernst­ge­nommen, der kommu­ta­tiven Gerech­tig­keit: wenn jeder die selben Start­be­din­gungen hat, so ist man für sein Glück selbst verant­wort­lich und die resul­tie­rende Vertei­lung also gerecht. Das Wich­tige in diesem Satz ist aber das Ante­ze­dens: Gerecht kann eine libe­rale Gesell­schaft nur sein, wenn Privi­le­gien abge­schafft werden, seien diese in den finan­zi­ellen Möglich­keiten, der Bildung oder dem privaten, z.B. sexu­ellen, Leben. Als Verfech­terin des Libe­ra­lismus müsste man sich also für Erbschafts­steuern, Chan­cen­gleich­heit und offene Grenzen stark machen.

Rawls und die Ökonomie

Der einfluss­reichste Text über Gerech­tig­keit aus neuerer Zeit stammt vom ameri­ka­ni­schen Philo­so­phen John Rawls. In seinem Buch A Theory of Justice präsen­tiert Rawls eine Theorie darüber, was gerecht sei und was nicht. Seine Grund­idee ist einfach erklärt: Um heraus­zu­finden was gerecht ist, muss man von seiner eigenen Posi­tion abstra­hieren und sich das mensch­liche Zusam­men­leben aus objek­tiver Perspek­tive anschauen. Diesen Stand­punkt erreicht man laut Rawls mittels eines Gedan­ken­ex­pe­ri­ments: Man stelle sich vor, alle Menschen träfen sich vor ihrer Geburt in einem Vorraum der mensch­li­chen Exis­tenz. Sie schauten herunter auf die Welt und sähen die Zustände unter den Lebenden: Erfolg, Benach­tei­li­gung, Krieg und Frieden. Nun müssten sie darüber entscheiden, nach welchen gesell­schaft­li­chen Prin­zi­pien sie leben wollen, ohne zuvor zu wissen, in welches Leben sie hinein­ge­boren werden, d.h. ob sie als privi­le­gierte oder unter­drücke Person auf die Welt kommen. Rawls zufolge wären folgende Prin­zi­pien für alle zustim­mungs­würdig: Erstens, jeder soll die glei­chen Rechte auf Grund­frei­heiten sowie Zugang zu einfluss­rei­chen Ämtern haben. Zwei­tens, jede Verän­de­rung in der Gesell­schaft ist nur dann gerecht­fer­tigt, wenn die am schlech­testen Gestellten am meisten von ihr profi­tieren – etwa bei Steu­er­re­formen. Solche Über­le­gungen führen zur Frage, wie gerecht­fer­tigt eine radi­kale Umver­tei­lung sei. Dabei lohnt sich der Blick in die ökono­mi­sche Literatur.

Anfang dieses Jahres hat ein renom­miertes Team von Ökonom­Innen den World Inequa­lity Report veröf­fent­lich. Darin wird deut­lich, dass seit den 1980er Jahren den obersten 1% der Welt­be­völ­ke­rung ein immer grösser werdender Anteil an Einkommen und Vermögen zukommt. Gleich­zeitig ist die Vertei­lung der Einkommen der unteren 99% gerechter geworden – vor allem durch das Entstehen einer Mittel­schicht in China und Indien. Diese Erfolgs­story stimmt aber nur auf globalem Level. Inner­halb der meisten Ländern (inkl. USA, Europa und China) ist die Einkom­mens­un­gleich­heit gestiegen.

Anteil der obersten 1% am Brut­to­so­zi­al­pro­dukt, Quelle: ourworldindata.org

Die Ökonomie liefert also keine abschlies­sende Antwort darauf, ob die Welt gerechter geworden ist oder nicht. Sie bemüht sich um adäquate Beschrei­bungen und fokus­siert dazu auf mess­bare Grössen wie Löhne, BIP und Vermögen. Häufig wird dabei aller­dings die starke These vertreten, dass ökono­mi­sche Ungleich­heit den einzig rele­vanten Aspekt von Gerech­tig­keit darstellt. Wenn die mate­ri­ellen Güter – und der Zugang zu ihnen – gerecht verteilt wären, würden sich andere Unge­rech­tig­keiten, etwa auf dem Arbeits­markt sowie in Bildung und Politik, wie von selbst auflösen.

Kultu­relle Ungerechtigkeit

Doch so plau­sibel dies klingen mag: Gerech­tig­keit lässt sich nicht auf Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit redu­zieren, sondern hat auch eine ethi­sche und damit nicht-quantifizierbare Dimen­sionen. Es gibt eine von mate­ri­ellen Gütern unab­hän­gige Dimen­sion der Gerech­tig­keit: die der Vertei­lung von Aner­ken­nung und Reprä­sen­ta­tion. Der einfluss­reiche Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Edward Said setzte die kultu­relle Macht der poli­ti­schen und ökono­mi­schen voran. Er unter­suchte das Macht­ge­fälle zwischen der „west­li­chen“ und der „östli­chen“ Welt und kam zum Schluss, dass die Art und Weise wie der Orient im Okzi­dent reprä­sen­tiert wurde, erst den Weg für die Kolo­ni­sie­rung bereitet hat. Ohne Lite­ratur, Kunst und Jour­na­lismus, die nicht-europäische Länder und Personen über Jahr­hun­derte hinweg syste­ma­tisch als minder­wertig reprä­sen­tiert hatten, wäre die mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Unter­drü­ckung in dieser Form gar nicht möglich gewesen.

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Die Sensi­bi­lität bezüg­lich Sprach­ge­brauch und Diver­sität, die zurzeit unter dem Label „Iden­ti­täts­po­litik“ einer grös­seren Öffent­lich­keit bekannt wird, speist sich aus solchen Über­le­gungen. Manch einer mag dies über­trieben und wirkungslos scheinen. Gewisse Autoren (wie z.B. der New Yorker Professor Mark Lilla) bezeichnen iden­tity poli­tics sogar als Grund­pro­blem linker Politik: Anstatt sich auf die ökono­mi­schen Probleme von globalem Kapital und unter­drückter Arbei­ter­schaft zu kümmern, beschäf­tige man sich lieber mit den Aner­ken­nungs­pro­blemen von Minderheiten.

Aber so berech­tigt die Kritik an Iden­ti­täts­po­litik in einzeln Fällen sein mag, darf deshalb nicht die ganze Frage nach der Aner­ken­nungs­ge­rech­tig­keit verworfen werden. Auch wenn absurde Vorschriften und Forde­rungen nach glei­cher Reprä­sen­ta­tion und Sprach­sen­si­bi­lität gemacht werden, heisst das nicht, dass gleiche Reprä­sen­ta­tion und sprach­liche Sensi­bi­lität absurd sind. Und genau dieses Thema ist jüngst auch Gegen­stand empi­ri­scher Forschung geworden: So hat ein Team von Ökonom­innen unter­sucht, wie sich die Beset­zung des Bürger­meis­ter­pos­tens durch Frauen auf die Selbst­ein­schät­zung von Schü­le­rinnen auswirkt. Das Resultat: In den Ortschaften mit Bürger­meis­te­rinnen sind die Mädchen ehrgei­ziger und selbst­be­wusster, und werden von ihren Eltern eher darin bekräf­tigt, sich ambi­tio­nierte und selbst­be­stimmte Ziele zu stecken. Die psycho­lo­gi­schen und sozialen Auswir­kungen von gesell­schaft­li­cher Aner­ken­nung sind also ganz real.

Die Frage, ob man nun eher gegen ökono­mi­sche Ungleich­heit oder für gleiche Aner­ken­nung kämpfen sollte, erweist sich bei näherer Betrach­tung daher als Scheinfrage: Die Philo­so­phin Nancy Fraser verweist darauf, dass ökono­mi­sche Ungleich­heit und verwehrte Aner­ken­nung zumeist Hand in Hand gehen und daher auch gemeinsam Ziel von poli­ti­schem Handeln seien. Das spricht für einen Dialog – zwischen den Diszi­plinen, etwa zwischen Ökonom­innen und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lern, aber auch zwischen libe­ralen Reformen und linker Iden­ti­täts­po­litik.

Nicht eine Gerechtigkeit

Die Frage nach der Gerech­tig­keit beschäf­tigt die Gemüter und Gehirne seit mehr als 2000 Jahren, gerade weil sich keine abschlies­sende Antwort darauf finden lässt. Eine Ursache dafür liegt darin, dass unser Konzept von Gerech­tig­keit verschie­denen, sich teil­weise sogar wider­spre­chenden Intui­tionen entspricht und deshalb nicht verein­heit­licht werden kann. Viel­mehr müssen wir „Gerech­tig­keit“ als Sammel­be­griff für eine ganze Familie von Bedeu­tungen verstehen.  So war denn auch etwa für Theodor W. Adorno eine abso­lute Gerech­tig­keit „jenseits der Zeit“, d.h. ein abstrakter und ohnmäch­tiger Begriff. Viel­mehr müsse Gerech­tig­keit aus den bestehenden Umständen und konkreten Situa­tionen heraus gedacht werden. Wenn sich im Wandel der Zeit die Konzep­tionen über Gerech­tig­keit immer wieder verän­dert haben, so heisst das nicht, dass unsere Vorfahren in ihren Vorstel­lungen falsch lagen und wir heute erst erkennen, worin die gerechte Gesell­schaft zu bestehen hätte. Viel­mehr heisst dies, dass sich die Gerech­tig­keit grund­sätz­lich über die Zeit hinweg verän­dert und sich in unter­schied­li­chen Kontexten unter­schied­lich zeigt. Und genau dies muss also die Aufgabe sein: Wie muss Gerech­tig­keit gedacht werden, dass sie sich heute als Vision anbietet, für die es sich zu kämpfen lohnt?