Wurden die Twin Towers gesprengt? Beherrschen die Juden die Welt? Werden wir durch Chemtrails vergiftet? Das Internet ist voll von solchen „Fragen“ und Behauptungen, die große Resonanz finden. Was ist so grundfalsch an ihnen? Ein Klärungsversuch.

Es wäre naiv anzu­nehmen, wir würden in einer Welt leben, in der es keine Verschwö­rungen gibt. Revo­lu­tio­näre müssen sich verschwören, um einen Plan zum Sturz eines unge­rechten Regimes zu fassen und eine neue Ordnung zu begründen; Putschisten, meist aus den Rängen einer Armee, verschwören sich, um mit ille­gi­timen Mitteln die Macht bestimmter Gruppen zu sichern. Auch Bank­räuber und andere, die ein krummes Ding drehen wollen, verschwören sich.

Sie alle fassen einen geheimen Plan, der jenseits oder auch gegen die legalen und öffent­li­chen Entschei­dungs­wege und gegen die Regie­rung bzw. die Macht­haber durch­ge­setzt werden soll. Sie geloben, sich durch nichts von ihrem gemein­samen Vorhaben abbringen zu lassen – und sie schwören einander Treue, als eine Gruppe, die sich in Gegen­satz zu allen anderen setzt. Verschwö­rungen sind, mit einem Wort, das Gegen­teil von öffent­li­chen bzw. demo­kra­tisch legi­ti­mierten Entschei­dungen, auch das Gegen­teil von rechts­staat­li­chen Verfahren. Die Geschichte kennt genü­gend Beispiele von erfolg­rei­chen ebenso wie von geschei­terten Verschwö­rungen. Darüber muss man nicht lange debattieren.

Nun liegt es aller­dings in der Natur der Sache, dass Verschwö­rungen immer erst nach­träg­lich bekannt werden (und auch das nicht immer). Niemand und nichts garan­tiert daher, dass nicht gerade jetzt irgendwo eine Verschwö­rung im Gange sein könnte, dass nicht in einem Hinter­zimmer fins­tere Pläne gefasst und böse Absichten beschworen werden. Die zumin­dest rela­tive Offen­heit poli­ti­scher Aushandlungs- und Entschei­dungs­pro­zesse in demo­kra­ti­schen Staaten ist, mit anderen Worten, grund­sätz­lich keine Absi­che­rung gegen den Verdacht, ja über­haupt gegen die Möglich­keit ihres dunklen Gegen­teils. Man kann nie wissen… – und plötz­lich wird das vergleichs­weise banale Wissen, dass es immer wieder unter­schied­lichste Verschwö­rungen gab, vom para­no­iden Wahn über­tönt und verdrängt, dass dunkle Mächte unsere Welt regieren. Wie funk­tio­niert dieser Übergang?

Umbrüche und Krisen

Hans Baldung, genannt Grien: Hexen­sabbat, 1514, Zeich­nung auf farbig grun­diertem Papier, weiß gehöht; Quelle: albrecht-duerrer-apokalypse.de

Verschwö­rungs­theo­rien treten gehäuft in histo­ri­schen Situa­tionen auf, in denen das Vertrauen in das Funk­tio­nieren des poli­ti­schen Systems schwindet oder über­haupt Welt­bilder und gesell­schaft­liche Ordnungen ins Wanken geraten. Während der Pest­wellen des 14. Jahr­hun­derts, die bis zu einem Drittel der Bevöl­ke­rung das Leben gekostet haben, wurden „die Juden“ als die verant­wort­li­chen „Brun­nen­ver­gifter“ denun­ziert und in großer Zahl ermordet. Gesell­schaft­liche Krisen und Kriege, aber auch kultu­relle Verän­de­rungen zu Beginn der Frühen Neuzeit wurden von einer Flut von Gerüchten über „Hexen“ begleitet, die im Bund mit dem Teufel stünden; sie haben zur Verfol­gung, Folte­rung und Verbren­nung von Tausenden von (mehr­heit­lich) Frauen geführt.

Auch die Krisen der Moderne waren von Verschwö­rungs­theo­rien begleitet; seit dem Ende der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion verbrei­tete sich die konser­va­tive Theorie, die Revo­lu­tion sei das Werk der Frei­maurer und der Illu­mi­naten gewesen, und seit es eine revo­lu­tio­näre Linke gibt, kursieren Gerüchte und Theo­rien darüber, dass alle Linken in einem geheimen Netz­werk orga­ni­siert seien und – im 20. Jahr­hun­dert – von der Zentrale in Moskau aus gesteuert würden. Unter Präsi­dent Ronald Reagan wurde gar von offi­zi­eller Seite die Theorie verbreitet, alle Terror­gruppen welt­weit würden vom Kreml aus „geführt“ (die These war nach­weis­lich falsch).

Theodor Fritsch: Die Zionis­ti­schen Proto­kolle, 1924; Quelle: dhm.de

Dennoch lässt sich sagen, dass im 20. Jahr­hun­dert und bis heute Verschwö­rungs­theo­rien gehäuft bei auto­ri­tären Regimen und aggressiv anti­de­mo­kra­ti­schen „Bewe­gungen“ auftraten. Die Natio­nal­so­zia­listen haben ihren Weg zur Macht mit Verschwö­rungs­theo­rien gepflas­tert; die wahr­schein­lich am Anfang des 20. Jh. in Russ­land entstan­denen soge­nannten „Proto­kolle der Weisen von Zion“ lieferten dabei das Script für alle nach­fol­genden anti­se­mi­ti­schen Verschwö­rungs­theo­rien bis heute. Tota­li­täre Regime wie etwa jenes Stalins in der Sowjet­union oder werdende auto­ri­täre Systeme wie dasje­nige Erdoğans versuchten und versu­chen syste­ma­tisch, ihre Macht durch das immer wieder insze­nierte „Aufde­cken“ von Verschwö­rungen zu stabi­li­sieren. Die reale Verschwö­rung nicht nur einiger putschender Offi­ziere im Juni 2016 in der Türkei, sondern die „Aufde­ckung“ einer angeb­li­chen Verschwö­rung „aller“ Anhänger des Predi­gers Gülen ist dafür ein klas­si­sches Beispiel: Die dunkle Verschwö­rung einer im Verbor­genen agie­renden Oppo­si­tion verlangt und legi­ti­miert die entspre­chend dras­ti­schen Maßnahmen der Macht­haber. Sie legi­ti­miert den Ausnahmezustand.

„Ich stelle ja nur Fragen…“

Etwas anders funk­tio­niert jene Vari­ante von Verschwö­rungs­theo­rien, die in demo­kra­ti­schen Systemen auftreten, vor allem dann, wenn das Vertrauen in die Legi­ti­mität ihrer poli­ti­schen Verfahren am Schwinden ist. Das sind Situa­tionen, in denen die gesell­schaft­liche Wirk­lich­keit noch komplexer erscheint, als sie in einem imagi­nären „Früher“ gewesen sein soll, Situa­tionen, in welchen die wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Prozesse noch schwerer zu durch­schauen seien als angeb­lich zuvor, und der Wandel der Verhält­nisse als so sehr beschleu­nigt erscheint, dass es nicht mehr rechten Dingen zugehen könne. Dem Willen des „Volkes“ jeden­falls scheinen sie nicht mehr zu entsprechen.

Verschwö­rungs­theo­re­tiker in Aktion, New York, o. J., Quelle: welt.de

In solchen als krisen­haft empfun­denen Situa­tionen bieten Verschwö­rungs­theo­rien einfache, scheinbar einleuch­tende Erklä­rungen. Sie postu­lieren handelnde, agie­rende Subjekte hinter anonymen Prozessen – und sie ermög­li­chen daher, Verant­wort­liche, ja Schul­dige zu adres­sieren. Sie behaupten das Vorhan­den­sein eines Planes, der die verwir­renden Verhält­nisse zu entwirren und die „eigent­li­chen“, die „verbor­genen“ Zusam­men­hänge zu erklären scheint. Der „Plan“ und die mit ihm asso­zi­ierten „Verschwörer“ bilden ein erklä­rendes Zentrum für dispa­rate Phäno­mene, er sugge­riert Einsicht, Verstehen, ja Durch­schauen der Verhältnisse.

Allein, niemand lässt sich gern „Verschwö­rungs­theo­re­tiker“ schimpfen. Es liegt viel­mehr in der Logik der Verschwö­rungs­theorie, dass sie in der Regel eben keine „Theorie“ sein will, kein abstraktes Gedan­ken­ge­bäude, und dass sie nur in ihren offen para­no­iden Erschei­nungs­formen die Verschwörer und ihren Plan explizit benennt. Oft ist daher die Form der Verschwö­rungs­theorie die gegen alle Evidenz immer wieder gestellte „Frage“, die obsessiv vorge­tra­gene Vermu­tung, der durch nichts wider­leg­bare Verdacht. Dazu kommen, garniert durch den Anspruch auf Wissen­schaft­lich­keit, regel­mäßig ein paar Schein-Evidenzen, die bescheiden damit sich begnügen, noch keine „umfas­sende“ Erklä­rung zu sein. Aber es seien, so das klas­sisch verschwö­rungs­theo­re­ti­sche Argu­ment, doch genau solche „Fragen“, die man stellen müsse, wenn man sich nicht von der „Lügen­presse“ Sand in die Augen streuen lasse…

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Genau dieser Vernei­nung – „ich sage ja nicht, dass…, ich frage nur“ – verdanken Verschwö­rungs­theo­rien in unseren post­mo­dernen, gegen­über Wahr­heits­be­haup­tungen skep­ti­schen Gesell­schaften ihr Funk­tio­nieren, ihre Attrak­ti­vität und ihre Durch­schlags­kraft: Sie sind als Frage getarnte Theo­rien, die nicht wider­legt werden können. Sie müssen nicht unbe­dingt explizit die Verschwörer benennen – vor allem dann nicht, wenn sie sich nicht gänz­lich ins para­noide Reich der Geis­ter­seher verab­schieden, sondern gleichsam noch „massen­me­di­en­taug­lich“ bleiben wollen. Eine solche Verschwö­rungs­theorie kann sich ganz darauf beschränken, in den leeren Raum, den ihre Fragen öffnen, ihre unaus­ge­spro­chenen Antworten als bloße Vermu­tungen stehen zu lassen. Durch die Behaup­tung aber, nur Fragen zu stellen und keine Aussagen zu machen, ist sie nicht zu wider­legen; sie hält die Türe zum Reich der Geis­ter­seher ständig offen.

Kondens­streifen als angeb­liche „Chem­trails“; Quelle: Wikipedia.org

Mit diesen als Fragen getarnten Vermu­tungen dringen Behaup­tungen und poli­ti­sche Vorur­teile in den öffent­li­chen Raum ein, die sich in einer offenen Debatte nicht legi­ti­mieren ließen. Der Verschwö­rungs­theo­re­tiker konstru­iert im Grunde einen diskur­siven Ausnah­me­zu­stand: Nur weil ein „Notstand“ zu benennen sei, der in der „Lügen­presse“ nicht benannt werde, und nur, weil auf eine „Kata­strophe“ hinge­wiesen werden müsse, die unter den Teppich gekehrt werde, fühlt sich der Verschwö­rungs­theo­re­tiker dazu ermäch­tigt, nun doch den Verdacht – die bloße Frage! – zu äußern, ob nicht doch „die Juden“ das Banken­system mani­pu­lieren, ob nicht doch die CIA eine so fins­tere Macht sei, dass sie 9/11 insze­niert habe, ob nicht doch die Mäch­tigen in Brüssel wirk­lich die euro­päi­schen Völker durch die „unge­bremste“ Migra­tion zerstören wollen, oder ob wir nicht doch alle durch „Chem­trails“ vergiftet werden… Wie man nicht zuletzt im ameri­ka­ni­schen Wahl­kampf verfolgen konnte, haben auch die abstru­sesten Verschwö­rungs­theo­rien die Funk­tion und den Effekt, dass sie den Raum des Sagbaren verschieben, dass sie poli­ti­sche Debatte neu „framen“, dass sie die Energie einfor­dern, zurück­ge­wiesen zu werden, und dass sie genau damit in die Kapil­laren öffent­li­cher Diskurse eindringen. Verschwö­rungs­theo­rien sind korrosiv.

Die Sehn­sucht nach Autorität

Und schließ­lich bieten Verschwö­rungs­theo­rien auch noch in der Form bloßer „Fragen“ ihren Anhän­gern ein Maß an Trost, das die begrenz­teren, hypo­the­ti­scheren, beschei­de­neren Vermu­tungen und Theo­rien über die verwir­renden Dinge in der Welt nicht zu bieten vermögen. Sie sugge­rieren die beru­hi­gende Gewiss­heit, dass auch die schreck­lichsten Dinge nicht zufällig geschehen, dass, mit andern Worten, die Verhält­nisse und Ereig­nisse, denen wir alle ausge­setzt sind, in keinem Fall als eine unglück­liche Verket­tung von kontin­genten Umständen, gar als nicht-intendierter side-effect von nicht einmal mitein­ander korre­lierten Entwick­lungen zu deuten sind.

„The Roth­schild conc­spi­racy“, Quelle: youtube.com

Die Anony­mität der Markt­pro­zesse, die vom Einzelnen abstra­hie­rende Logik büro­kra­ti­scher Prozesse, die Gewalt geopo­li­ti­scher Macht­kon­flikte und das Unge­steu­erte des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hangs können tatsäch­lich als bedrü­ckend, ja als Leid verur­sa­chend erfahren werden. Ange­sichts solcher Leid­er­fah­rungen und Bedrü­ckungen verspricht die Verschwö­rungs­theorie den Trost einer Deutung: Sie werden imaginär auf einen, wie Jacques Lacan sagen würde, (bösen) „Großen Anderen“ zurück­ge­führt, der im leeren Zentrum dieser Prozesse, dort, wo in Wahr­heit niemand sitzt und steuert, die Welt lenkt. Der Philo­soph Karl E. Popper hat nicht zu Unrecht Verschwö­rungs­theo­rien eine „Vari­ante des Theismus“ genannt – d.h. ein Glaube, der mit dem Wirken eines Allmäch­tigen rechnet. Verschwö­rungs­theo­re­tiker imagi­nieren diese steu­ernde Macht wider alle Evidenz, ihr ganzes Denken kreist um sie. Ist es daher nicht genau diese Form der Macht, die sie begehren? Verschwö­rungs­theo­re­tiker stehen jeden­falls in der Regel poli­tisch nicht zufällig auf der Seite auto­ri­tärer Herr­schaft. Denn sie wünschen sich eine Auto­rität herbei, die dem Chaos der Wirk­lich­keit einen ordnenden Plan entgegensetzt.

Dies und der unüber­seh­bare Zug ins Para­noide, der jeder Verschwö­rungs­theorie anhaftet, tragen nicht dazu bei, die gesell­schaft­li­chen Krisen zu bewäl­tigen, auf die sie zu reagieren scheint. Verschwö­rungs­theo­rien haben viel­mehr den Effekt, Verwir­rung zu stiften. Sie verbiegen den Raum des rational Sagbaren, sie fachen den Hass auf Fremde bzw. „Andere“ an, fördern das Miss­trauen gegen­über den Medien, verbreiten Irra­tio­na­lismus und unter­mi­nieren die Demo­kratie. Und man muss nicht bis ins Mittel­alter oder in die Frühe Neuzeit zurück­gehen, um zu sehen, dass ihre Tendenz, für alle Übel der Welt bestimmte Gruppen verant­wort­lich zu machen, im Pogrom enden kann.