Der kürzlich verstorbene Philosoph Michael Serres verfasste in seinen letzten Lebensjahren eine Reihe von heiteren Streitschriften. Darunter eine, die das Nörgeln an der Gegenwart und die Verklärung der Vergangenheit grandios zerlegt.

Zu den vulgärsten Polit­pa­rolen der jüngsten Vergan­gen­heit gehört der von Donald Trump herum­po­saunte (und vorab schon von Ronald Reagan geprägte) Slogan Make America Great Again. Verrä­te­risch ist das letzte Wort: Again. Es sugge­riert erstens, dass es früher eine Größe Amerikas gab (gemeint sind aber nur die USA), zwei­tens, dass es zu einem Verlust dieser Größe kam, und drit­tens, dass man nur einiges wieder rück­gängig machen muss, um zu diesem früheren, angeb­lich besseren Zustand zurückzukehren.

Dieses Frühere ist aller­dings nichts anderes als eine Projek­tion: noch nicht einmal restau­rativ, sondern eine hohle Unter­stel­lung einer zugleich rück­sichts­losen und wehlei­digen Gegen­wart, eine diffuse Sehn­sucht nach einer besseren Welt, die man aus der Vergan­gen­heit hervor­holen zu können glaubt. Dabei wird mit einer großen und zugleich unauf­ge­klärten Geste eines schein­baren Bescheid­wis­sens alles ausge­blendet, was früher viel­leicht nicht so gut war: Skla­verei, Ausbeu­tung, unheil­bare Krank­heiten, Kriege hier und dort, Benach­tei­li­gungen von Menschen aller Art.

Ein opti­mis­ti­scher Wutanfall

Was genau will man also über­haupt wieder­haben? Das andau­ernde Vergessen viel­leicht, dass den Preis für das eigene Wohl­ergehen womög­lich andere zu bezahlen haben? Was war denn früher wirk­lich besser? Die Frage, so gestellt, ist allge­meiner, und es ist diese Frage, die der vor wenigen Wochen verstor­bene Michel Serres in einem seiner letzten Bücher in gut pole­mi­scher Absicht stellte: Was genau war früher besser? Ein opti­mis­ti­scher Wutanfall.

Auf Fran­zö­sisch erschien das Buch unter dem Titel C’était mieux avant! schon 2017. Dem voraus ging die kurze Streit­schrift und Liebes­er­klä­rung Petite Poucette von 2012 – auf Deutsch: Erfindet euch neu! Eine Liebes­er­klä­rung an die vernetzte Gene­ra­tion, 2013. Deren Prot­ago­nistin „Däume­lin­chen“ (Petite Poucette) aus dem Kunst­mär­chen von Hans Chris­tian Andersen kehrt auch in der neuen Publi­ka­tion wieder: Sie vertritt – geschickt mit dem Daumen auf dem Smart­phone unter­wegs – die Enkelinnen- und Enkel­ge­nera­tion, deren Gegen­wart von den miese­pe­trigen Mecker­greisen – den „grands-papas ronchons“ – kaum noch verstanden wird. Denn diese Mecker­greise sind jene, die in Serres zuweilen gera­dezu grotesken Über­spit­zungen die Vergan­gen­heit partout zum verlo­renen Para­dies verklären wollen.

Statler and Waldorf; Quelle: giphy.com

Gibt es einen Erfah­rungs­schatz, den die Groß­el­tern, heute, ihren Enke­linnen und Enkeln weiter­geben können? Wie hilflos ein solcher ‚Schatz‘ anmuten kann, lässt sich schon – damals im Rück­blick auf die im Ersten Welt­krieg stumm gewor­dene Solda­ten­ge­ne­ra­tion – in Walter Benja­mins Essay „Erfah­rung und Armut“ von 1933 nach­lesen. Dass man seither aber die Vergan­gen­heit auch noch verklären sollte, das käme, folgt man den Über­le­gungen von Serres, einer intel­lek­tu­ellen Bank­rott­erklä­rung gleich.

Die Verklä­rung der Vergan­gen­heit führt Serres zufolge ebenso wenig weiter wie das Meckern über die Gegen­wart. Das von Stefan Lorenzer hervor­ra­gend über­setzte Buch heißt deshalb aus guten Gründen: ein opti­mis­ti­scher Wutan­fall. Um eine fein­sin­nige philo­so­phi­sche Abhand­lung handelt es sich also nicht. Wir lesen kein um Ausge­wo­gen­heit bedachtes Alters­werk, sondern eine hemds­är­melig formu­lierte Abrech­nung mit einem Klischee – jenem der besseren Vergan­gen­heit eben, das in Serres Augen nichts anderes verdient als eine ebenso heitere wie grobe Zurecht­wei­sung und Verunglimpfung.

Heitere Verun­glimp­fung

Der bissig-ironische Ton wird gleich auf den ersten Seiten angeschlagen:

Früher wurden wir von Musso­lini und Franco regiert, von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceaușescu – alles gute Leute, ausge­wie­sene Spezia­listen für Vernich­tungs­lager und Folter, Massen­hin­rich­tungen, Kriege, Säube­rungen. Vergli­chen mit diesen illus­tren Akteuren wirkt so ein demo­kra­ti­scher Präsi­dent eher blass, es sei denn, er nötigt eine besiegte Nation, den demü­ti­genden Versailler Vertrag zu unter­zeichnen, über­zieht Dresden mit Bomben­tep­pi­chen oder zündet eine Atom­bombe, um die Zivil­be­völ­ke­rung von Hiro­shima und Naga­saki auszulöschen.

Man lese dieses Zitat gerne zweimal durch, hole tief Luft – und fahre dann fort mit der Lektüre:

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Sieht man von der Bombar­die­rung der Zivil­be­völ­ke­rung in den Städten ab, so ist in den Kriegen, meist von Verant­wort­li­chen reiferen Alters beschlossen und orga­ni­siert, die männ­liche Jugend getötet worden: In den Minis­te­rien, Botschaften und Haupt­quar­tieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zwei­stel­ligen Millio­nen­be­reich betrie­benen Ermor­dung ihrer Söhne widmeten. Den Töch­tern und Söhnen, die über­lebt hatten und zwei­fellos geblendet waren von der impo­nie­renden Gräber­zahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahe­ge­bracht, die vom ‚Vater­mord‘. – Tote und Lügen­ge­schichten, ja, früher war doch wirk­lich alles besser.

Die Spitze gegen die Psycho­ana­lyse („Vater­mord“) ist nicht ohne Witz, weil sie den akade­mi­schen Boom der Psycho­ana­lyse selbst als Effekt einer Verdrän­gung zu verstehen gibt: Statt sich um die Frage zu kümmern, was Menschen ihren Kindern und Enkel­kin­dern und also ihrer Zukunft anzutun in der Lage sind, fällt es offenbar leichter, die persön­liche Vergan­gen­heit zum Richtmaß der eigenen Hand­lungen zu erheben.

Dazu hätte man in dem Buch gerne noch mehr gelesen. Was aber klar scheint: Dämo­ni­sie­rung und Verklä­rung des Vergan­genen erweisen sich ganz schnell als zwei Seiten derselben Medaille – ein Gedanke, den Serres nicht explizit formu­liert, aber der erklären hilft, warum die Reka­pi­tu­la­tionen der Vergan­gen­heit, so wie sie im Buch selbst ausfallen, so abge­klärt, mit Blick auf die Gegen­wart aber auch so heiter daherkommen.

Wie war es denn früher?

Die ganzen folgenden Seiten verwendet Serres darauf, detail­reich in Erin­ne­rung zu rufen, wie es ‚früher‘ war. Sein ausge­wie­senes wissen­schafts­his­to­ri­sches Inter­esse verbindet sich dabei mit prägnanten biogra­fi­schen Erinnerungen:

Bei diesem Früher, da war ich schließ­lich dabei. Ich kann ein Exper­ten­ur­teil abgeben. Hier ist es.

Buch­cover; Quelle: suhrkamp.de

Serres verfolgt dabei eine Doppel­stra­tegie: Er schil­dert roh die hygie­ni­schen Bedin­gungen seiner eigenen Herkunft, die medi­zi­ni­schen Kata­stro­phen, die Mühen der Land­wirt­schaft, die prak­tisch recht­lose Situa­tion der Frauen, die Schwer­fäl­lig­keit der Kommu­ni­ka­tion, die Folgen des Krieges, der Korrup­tion, der Armut. Zugleich zeigt er auf, was sich in der Folge und bis zum heutigen Tag alles gebes­sert hat. Er zählt die tatsäch­lich revo­lu­tio­nären tech­ni­schen Inno­va­tionen auf, die rasanten medi­zi­ni­schen Fort­schritte, die posi­tiven poli­ti­schen Errun­gen­schaften. Fast hat man Angst, dass der dekla­rierte Opti­mist Serres die mani­festen Kehr­seiten dieser Entwick­lungen völlig über­sieht – wobei der Wie-es-früher-wirklich-war-Experte am Ende doch noch ins Grübeln gerät:

Die Fort­schritte, deren Lob ich singen wollte, haben eine hohe Lebens­er­war­tung gezei­tigt, und diese hat uns wiederum eine große Zahl an Greisen beschert, die im Besitz nicht vererbter Vermögen sind. Viele von ihnen kommen an die Macht, um sie für ihre Fort­schritts­ver­wei­ge­rung zu nutzen. Durch diese zirku­läre Kausa­lität bremst der Fort­schritt sich selbst.

Blickum­kehr 

Serres weiß, dass Voltaire seinen Candide – den Opti­misten – als Trottel in die Welt schickte und dass seither der Opti­mismus gerade in der fran­zö­si­schen Denk­tra­di­tion nicht gerade hoch­an­ge­sehen ist. Statt die Skepsis, wie die Mecker­greise, auf die Gegen­wart zu richten und vor lauter selbst­pro­du­zierter Blen­dung vonseiten der Vergan­gen­heit das Bessere der Gegen­wart zu über­sehen, geht es Serres jedoch gerade umge­kehrt darum, die Möglich­keit des Besseren in der Gegen­wart für die Zukunft zu retten und statt­dessen die Skepsis gegen­über der Vergan­gen­heit, ja gegen­über den glori­fi­zierten Schein­ver­gan­gen­heiten wachzuhalten.

Diese Blickum­kehr geschieht im Buch brachial, die Sprache ist unzim­per­lich, die Argu­men­ta­tion sprung­haft. Gerade dies macht das Buch aller­dings zum Vergnügen. Ein Nach­mittag genügt, um es zu lesen. Danach begegnet man den Mecker­greisen mit der nötigen Portion Ironie: C’était mieux avant!

Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein opti­mis­ti­scher Wutan­fall, aus dem Fran­zö­si­schen von Stefan Lorenzer, Frank­furt am Main: Suhr­kamp 2019.