Zu den vulgärsten Politparolen der jüngsten Vergangenheit gehört der von Donald Trump herumposaunte (und vorab schon von Ronald Reagan geprägte) Slogan Make America Great Again. Verräterisch ist das letzte Wort: Again. Es suggeriert erstens, dass es früher eine Größe Amerikas gab (gemeint sind aber nur die USA), zweitens, dass es zu einem Verlust dieser Größe kam, und drittens, dass man nur einiges wieder rückgängig machen muss, um zu diesem früheren, angeblich besseren Zustand zurückzukehren.
Dieses Frühere ist allerdings nichts anderes als eine Projektion: noch nicht einmal restaurativ, sondern eine hohle Unterstellung einer zugleich rücksichtslosen und wehleidigen Gegenwart, eine diffuse Sehnsucht nach einer besseren Welt, die man aus der Vergangenheit hervorholen zu können glaubt. Dabei wird mit einer großen und zugleich unaufgeklärten Geste eines scheinbaren Bescheidwissens alles ausgeblendet, was früher vielleicht nicht so gut war: Sklaverei, Ausbeutung, unheilbare Krankheiten, Kriege hier und dort, Benachteiligungen von Menschen aller Art.
Ein optimistischer Wutanfall
Was genau will man also überhaupt wiederhaben? Das andauernde Vergessen vielleicht, dass den Preis für das eigene Wohlergehen womöglich andere zu bezahlen haben? Was war denn früher wirklich besser? Die Frage, so gestellt, ist allgemeiner, und es ist diese Frage, die der vor wenigen Wochen verstorbene Michel Serres in einem seiner letzten Bücher in gut polemischer Absicht stellte: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall.
Auf Französisch erschien das Buch unter dem Titel C’était mieux avant! schon 2017. Dem voraus ging die kurze Streitschrift und Liebeserklärung Petite Poucette von 2012 – auf Deutsch: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, 2013. Deren Protagonistin „Däumelinchen“ (Petite Poucette) aus dem Kunstmärchen von Hans Christian Andersen kehrt auch in der neuen Publikation wieder: Sie vertritt – geschickt mit dem Daumen auf dem Smartphone unterwegs – die Enkelinnen- und Enkelgeneration, deren Gegenwart von den miesepetrigen Meckergreisen – den „grands-papas ronchons“ – kaum noch verstanden wird. Denn diese Meckergreise sind jene, die in Serres zuweilen geradezu grotesken Überspitzungen die Vergangenheit partout zum verlorenen Paradies verklären wollen.

Statler and Waldorf; Quelle: giphy.com
Gibt es einen Erfahrungsschatz, den die Großeltern, heute, ihren Enkelinnen und Enkeln weitergeben können? Wie hilflos ein solcher ‚Schatz‘ anmuten kann, lässt sich schon – damals im Rückblick auf die im Ersten Weltkrieg stumm gewordene Soldatengeneration – in Walter Benjamins Essay „Erfahrung und Armut“ von 1933 nachlesen. Dass man seither aber die Vergangenheit auch noch verklären sollte, das käme, folgt man den Überlegungen von Serres, einer intellektuellen Bankrotterklärung gleich.
Die Verklärung der Vergangenheit führt Serres zufolge ebenso wenig weiter wie das Meckern über die Gegenwart. Das von Stefan Lorenzer hervorragend übersetzte Buch heißt deshalb aus guten Gründen: ein optimistischer Wutanfall. Um eine feinsinnige philosophische Abhandlung handelt es sich also nicht. Wir lesen kein um Ausgewogenheit bedachtes Alterswerk, sondern eine hemdsärmelig formulierte Abrechnung mit einem Klischee – jenem der besseren Vergangenheit eben, das in Serres Augen nichts anderes verdient als eine ebenso heitere wie grobe Zurechtweisung und Verunglimpfung.
Heitere Verunglimpfung
Der bissig-ironische Ton wird gleich auf den ersten Seiten angeschlagen:
Früher wurden wir von Mussolini und Franco regiert, von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceaușescu – alles gute Leute, ausgewiesene Spezialisten für Vernichtungslager und Folter, Massenhinrichtungen, Kriege, Säuberungen. Verglichen mit diesen illustren Akteuren wirkt so ein demokratischer Präsident eher blass, es sei denn, er nötigt eine besiegte Nation, den demütigenden Versailler Vertrag zu unterzeichnen, überzieht Dresden mit Bombenteppichen oder zündet eine Atombombe, um die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki auszulöschen.
Man lese dieses Zitat gerne zweimal durch, hole tief Luft – und fahre dann fort mit der Lektüre:
Sieht man von der Bombardierung der Zivilbevölkerung in den Städten ab, so ist in den Kriegen, meist von Verantwortlichen reiferen Alters beschlossen und organisiert, die männliche Jugend getötet worden: In den Ministerien, Botschaften und Hauptquartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebenen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Töchtern und Söhnen, die überlebt hatten und zweifellos geblendet waren von der imponierenden Gräberzahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahegebracht, die vom ‚Vatermord‘. – Tote und Lügengeschichten, ja, früher war doch wirklich alles besser.
Die Spitze gegen die Psychoanalyse („Vatermord“) ist nicht ohne Witz, weil sie den akademischen Boom der Psychoanalyse selbst als Effekt einer Verdrängung zu verstehen gibt: Statt sich um die Frage zu kümmern, was Menschen ihren Kindern und Enkelkindern und also ihrer Zukunft anzutun in der Lage sind, fällt es offenbar leichter, die persönliche Vergangenheit zum Richtmaß der eigenen Handlungen zu erheben.
Dazu hätte man in dem Buch gerne noch mehr gelesen. Was aber klar scheint: Dämonisierung und Verklärung des Vergangenen erweisen sich ganz schnell als zwei Seiten derselben Medaille – ein Gedanke, den Serres nicht explizit formuliert, aber der erklären hilft, warum die Rekapitulationen der Vergangenheit, so wie sie im Buch selbst ausfallen, so abgeklärt, mit Blick auf die Gegenwart aber auch so heiter daherkommen.
Wie war es denn früher?
Die ganzen folgenden Seiten verwendet Serres darauf, detailreich in Erinnerung zu rufen, wie es ‚früher‘ war. Sein ausgewiesenes wissenschaftshistorisches Interesse verbindet sich dabei mit prägnanten biografischen Erinnerungen:
Bei diesem Früher, da war ich schließlich dabei. Ich kann ein Expertenurteil abgeben. Hier ist es.

Buchcover; Quelle: suhrkamp.de
Serres verfolgt dabei eine Doppelstrategie: Er schildert roh die hygienischen Bedingungen seiner eigenen Herkunft, die medizinischen Katastrophen, die Mühen der Landwirtschaft, die praktisch rechtlose Situation der Frauen, die Schwerfälligkeit der Kommunikation, die Folgen des Krieges, der Korruption, der Armut. Zugleich zeigt er auf, was sich in der Folge und bis zum heutigen Tag alles gebessert hat. Er zählt die tatsächlich revolutionären technischen Innovationen auf, die rasanten medizinischen Fortschritte, die positiven politischen Errungenschaften. Fast hat man Angst, dass der deklarierte Optimist Serres die manifesten Kehrseiten dieser Entwicklungen völlig übersieht – wobei der Wie-es-früher-wirklich-war-Experte am Ende doch noch ins Grübeln gerät:
Die Fortschritte, deren Lob ich singen wollte, haben eine hohe Lebenserwartung gezeitigt, und diese hat uns wiederum eine große Zahl an Greisen beschert, die im Besitz nicht vererbter Vermögen sind. Viele von ihnen kommen an die Macht, um sie für ihre Fortschrittsverweigerung zu nutzen. Durch diese zirkuläre Kausalität bremst der Fortschritt sich selbst.
Blickumkehr
Serres weiß, dass Voltaire seinen Candide – den Optimisten – als Trottel in die Welt schickte und dass seither der Optimismus gerade in der französischen Denktradition nicht gerade hochangesehen ist. Statt die Skepsis, wie die Meckergreise, auf die Gegenwart zu richten und vor lauter selbstproduzierter Blendung vonseiten der Vergangenheit das Bessere der Gegenwart zu übersehen, geht es Serres jedoch gerade umgekehrt darum, die Möglichkeit des Besseren in der Gegenwart für die Zukunft zu retten und stattdessen die Skepsis gegenüber der Vergangenheit, ja gegenüber den glorifizierten Scheinvergangenheiten wachzuhalten.
Diese Blickumkehr geschieht im Buch brachial, die Sprache ist unzimperlich, die Argumentation sprunghaft. Gerade dies macht das Buch allerdings zum Vergnügen. Ein Nachmittag genügt, um es zu lesen. Danach begegnet man den Meckergreisen mit der nötigen Portion Ironie: C’était mieux avant!