
Vermutlich sah es auf Melillas Plaza de las Cuatro Culturas an diesem Freitag aus wie immer. Gegen 7:30 Uhr dürften die ersten Verwaltungsangestellten ihren Morgenkaffee an einem der Tresen im Zentrum der Stadt zu sich genommen haben; dass nachts wieder die Hubschrauber gekreist hatten, war vermutlich weder Kellnern noch Gästen eine Erwähnung wert. Daran hat man sich längst gewöhnt. Wann immer die marokkanischen Behörden „Bewegung“ auf dem Monte Gourougou melden, die von den ins Rif-Gebirge gerichteten High-Tech Kameras der spanischen Polizei nicht ohnehin registriert wurden, heben in Melilla ein oder zwei Hubschrauber ab. Selbst die Sirenen der zum Zaun bretternden Polizeijeeps veranlassen die Melillenser*innen nicht einmal zum Blick in die Lokalnachrichten. Es ist eh klar, was los ist. Etwa alle zwei bis drei Wochen versuchen Migrant*innen in großen oder kleinen Gruppen, den Zaun in die Exklave zu überwinden. Seltener gelingt es einigen Duzend.
Gegen 11:30, beim Pausencafé und dem dazu üblichen „pitufo con mermelada“ in einem der Cafés mit Blick auf die Mauern von Melillas mittelalterlicher Altstadt, dürfte sich jedoch in den News Feeds bereits verbreitet haben, dass es bei diesem „Salto“ anders gelaufen ist als sonst: Normalerweise versuchen die Behörden, Tote direkt am Zaun zu vermeiden. Ein Massaker mit 37 Toten ist ungewöhnlich.

Quelle: pressenza.com

Quelle: dw.com
Von Hilfsorganisationen und einigen Bewohner*innen der benachteiligten Stadtteile abgesehen, dürfte sich niemand zum Zaun begeben haben, um zu sehen, ob Hilfe gebraucht wird. Die meisten Menschen in der Stadt erleben die Tragödie vom Freitag nicht anders als die Europäer*innen. Sie lesen die Nachricht auf dem Handy, diskutieren vielleicht mit der Kollegin, ob Unverständnis für die Gewalt der Flüchtlinge (ja, viele Spanier*innen sprechen von der Gewalt der Flüchtlinge!) oder Verständnis für die Flucht und Mitleid überwiegen – doch ereilt jede Besucher*in Melilas das merkwürdige Gefühl, dass die Ereignisse am Zaun von der zentralen Plaza de las Cuatro Culturas ähnlich weit weg sind, wie von Berlin oder Madrid, wo sich zur Zeit des Massakers die NATO trifft. Dabei läuft es sich vom Zentrum der 12 km2 großen Exklave in dreißig Minuten bequem zum Zaun.
Was geschah am Zaun?

Der muslimische Friedhof von Melilla; Foto: Alexander Kern
Wie genau die Menschen zu Tode kamen, ist noch nicht aufgeklärt – und es muss bezweifelt werden, dass sich das ändert. Sterben einzelne Flüchtende am Zaun, werden diese in der Regel auf dem muslimischen Friedhof Melillas bestattet. Jedes Jahr kommen neue anonyme Grabsteine dazu. Doch für die 37 Leichen vom Freitag haben die marokkanischen Behörden eine schnelle Beerdigung im Massengrab angekündigt. Der Verdacht liegt nahe, dass so eine Identifizierung der Toten und eine Obduktion der Leichen verhindert werden sollen.
Dennoch liegen Informationen vor. Im Netz kursieren von NGOs, Anwohner*innen und Journalist*innen verbreitete Videos, die einem den Atem stocken lassen. Auf dem sieben Meter hohen Zaun hängende Flüchtende werden von marokkanischen Gendarmen mit Steinen beworfen, die spanische Guardia Civil schießt Tränengas in eine Menschenmenge, die im engen Geflecht der Zaunanlagen bereits in Panik geraten ist. Auf spanischer Seite prügelt die Polizei Menschen zurück durch den Zaun, dort empfängt sie ebenfalls prügelnd die marokkanische Polizei. Videos zeigen hunderte Menschen am Boden, von denen sich nicht sagen lässt, wer noch lebt und wer schon tot ist. Einige bitten um Hilfe, manche bluten, viele liegen reglos da. Kein Polizist leistet erste Hilfe, niemand bringt Wasser, kein Rettungswagen ist in Sicht. Augenzeugen berichten, die Menschen hätten so stundenlang am Boden gelegen, der nordafrikanischen Julisonne ausgesetzt. Die Zahl von 37 Toten wurde offiziell bestätigt, Berichte von Migranten, die das Erstaufnahmelager CETI in Melilla erreichen konnten, lassen jedoch vermuten, dass es noch mehr Tote gibt.
Legalisiertes Unrecht
Freilich sind all diese Praktiken de jure verboten. Es sind Tötungen, schwere Körperverletzungen und unterlassene Hilfeleistungen. Nicht zuletzt erleben wir eklatante Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Flüchtlinge, die spanischen Boden betreten, haben ein Recht auf ein Asylverfahren und die Prüfung ihrer Asylgründe. Tausendfach fängt die spanische Guardia Civil jedoch Menschen auf spanischem Territorium ab, bringt sie gewaltsam zum Zaun zurück und übergibt sie der marokkanischen Polizei. Diese in Spanien als „devoluciones en caliente“ bezeichneten Push-Backs werden von den spanischen Behörden freimütig zugegeben. Die Einsatzkräfte seien es, die bestimmen, wann der Akt der Grenzüberquerung tatsächlich abgeschlossen ist. Erst dann sei eine devolucion, eine „Rückgabe“, nicht mehr möglich, erklärte mir ein Mitglied des Grenzschutzes im Juni 2021. Tatsächlich gibt es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von 2020, das diese Praxis gewaltsamer Push-Backs in Melilla legalisiert, nachdem sie 2017 am selben Gerichtshof für illegal erklärt worden war. Die Rechtfertigung von 2020 lautet, dass die Asylsuchenden sich bereits ihrerseits in die Illegalität begeben hätten, wenn sie die Grenze nicht auf legalem Wege passieren. Offenkundig verfehlt diese Argumentation die Realität der Fluchtmigration. Diese bietet praktisch keine legalen Wege für die Einreise nach Europa.
Die Grenze als biopolitische Sortiermaschine

Grenzkontrollposten in Melilla; Quelle: wikipedia.org

Grenzzaun in Melilla; Foto: Alexander Kern
Die Praxis vor Ort bleibt von der juristischen Diskussion ohnehin unberührt. Von dem Push-Back-Verbot von 2017 dürfte man in Melilla höchstens in den Nachrichten und Pressemitteilungen von NGOs gelesen haben. Tatsächlich organisiert sich das Grenzregime an der europäisch-afrikanischen Landgrenze nicht entlang rechtlicher, sondern entlang politischer Arrangements. Auf Grundlage eines „Freundschaftsabkommens“ zwischen Spanien und Marokko dürfen Melillenser*innen und die Anwohner*innen der benachbarten marokkanischen Städte mit ihrem Personalausweis die Grenze passieren. Laut Angaben der Policía Nacional pendeln so täglich über 20.000 Marokkaner*innen in die Exklave, um auf dem Bau, als Haushaltshilfe, in der Gastronomie oder in Werkstätten zu arbeiten. Auch der in Spanien verbotenen Prostitution gehen einige dieser Arbeitsmigrant*innen nach. Oft ohne Arbeitsvertrag angestellt, ist diese importierte Arbeiterklasse kaum vor Überausbeutung und sozialen Härten geschützt. Andererseits genügt auch ein für spanische Verhältnisse niedriger Lohn im armen nordmarokkanischen Rif als Lebensgrundlage. Nimmt man den ausgeprägten Warenhandel zwischen Marokko und Spanien hinzu, entsteht das Bild einer hochpermeablen und gleichzeitig quasi-militärisch bewachten Hochsicherheitsgrenze: Stacheldraht, Wärmebildkameras, Schlagstöcke und Tränengas für die unerwünschten, eine kurze Ausweiskontrolle für die erwünschten Migrant*innen. Zu ersteren gehören neben Geflüchteten aus Subsahara-Afrika auch (oft minderjährige) Geflüchtete aus Zentral- und Südmarokko, die in Spanien zwar kategorisch kein Asyl bekommen (was auch damit begründet wird, man wolle keine „Pull-Faktoren“ produzieren), aber dennoch versuchen, sich als blinde Passagiere auf einem Schiff nach Europa durchzuschlagen.
Spanien und Europa externalisieren den Grenzschutz und die Selektion der Migrant*innen. Wie auch nach Libyen oder die Türkei fließen große Geldsummen nach Rabat, damit die marokkanischen Behörden ihren Teil zu dieser europäischen Politik beitragen. Sandmauern im Sahel, über KI-gestütztes Profiling zielgerichtet an potenzielle Migrant*innen gesendete Youtube-Adds mit als Aufklärung getarnter anti-migrations-Propaganda und unverblümtes racial-profiling an Melillas Grenzübergang dienen dazu, die Migrationsströme direkt zu steuern und erwünschter von unerwünschter Migration zu unterschieden.
Diese Funktion erfüllen im zynischen Kalkül der europäischen Behörden auch die Tötungen vom Freitag. Die baulichen Gegebenheiten Melillas sowie die Bemühungen, die ärgste Gewalt auf die marokkanische Seite des Zaunes zu delegieren, zeugen vom Versuch, der europäischen Öffentlichkeit nicht allzu brutale Bilder zu liefern. In Richtung prospektiver Flüchtender in Somalia oder im Sudan sollen jedoch durchaus Zeichen gesendet werden. „Abschreckung“ gehört als Strategie der Migrationssteuerung zum Repertoire europäischer Migrationspolitik – obwohl sich die Flüchtenden der entlang der Fluchtrouten lauernden Gefahren ohnehin absolut bewusst sind. Manche der besonders grausamen Aufnahmen vom Freitag scheinen von marokkanischen Gendarmen aufgenommen worden zu sein. Es entspräche der Logik der Abschreckungsstrategie, wenn diese Bilder absichtlich produziert worden wären, um sich bis nach Khartum und Mogadischu verbreiten.
Das Massaker als geopolitisches Zeichen

Verletzter Migrant in Melilla, März 2022; Quelle: africanews.com
Dafür, wer mit dem Massaker ein Zeichen an wen gesendet hat, lassen sich noch weitere Indizien finden. Im April des Jahres 2022 akzeptierte Spanien den seinerzeit von Donald Trump entwickelten Plan zur „Lösung“ des Westsahara-Konflikts. Die ehemalige spanische Kolonie Westsahara wird seit 1975 von Marokko als Teil des eigenen Staatsgebiets beansprucht, das bereits Teile des nordwestafrikanischen Gebiets annektiert hat. Dagegen kämpfen von Algerien protegierte saharauische Independentist*innen für die nationale Selbstbestimmung. Spanien hat nun den Trump-Plan ratifiziert, der die marokkanischen Ansprüche akzeptiert, und betrachtet die Westsahara als Teil Marokkos – ein Affront gegen Algerien und die Sahrauis. Im Gegenzug versprach Marokko Spanien (und Europa) mehr Unterstützung bei der Migrationsabwehr. Flüchtlinge im CETI, Melillas Erstaufnahmelager, berichten, dass die Repression der ohnehin für ihre Brutalität berüchtigten marokkanischen Polizei seither schlimmer wurde. In der Vergangenheit hat Rabat jedoch die Migration auch als Druckmittel eingesetzt und Flüchtlingsgruppen zum Zaun passieren lassen, um die Wichtigkeit der eigenen Rolle bei der Migrationskontrolle zu demonstrieren und so mehr Gelder oder politische Zugeständnisse zu erwirken. Am 24. Juni hat Rabat Europa nun demonstriert, dass es seinen Teil des Westsahara-Deals einzuhalten gewillt ist und dafür auch vor gemeinschaftlich begangenen Gräueltaten nicht zurückschreckt.
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez weilte am Tag des Massakers beim NATO-Gipfel in Madrid. Anders als zu Zeiten seiner parlamentarischen Opposition, als er in ähnlichen Fällen eine lückenlose Aufklärung und mehr Empathie vom regierenden Partido Popular (PP) forderte, fand Sanchez diesmal nur Worte der Anerkennung für die wichtige Arbeit der Grenzbeamt*innen. Nicht einmal eine Trauerbekundung kam dem Sozialdemokraten über die Lippen. Frappierender war jedoch die sonst eher bei der spanischen Rechten gepflegte Klassifikation des Vorfalls als „gewaltsamen Angriff auf Spaniens territoriale Integrität“. Indem Sanchez die Gewalt der Polizei den Geflüchteten zuschrieb und die Geschehnisse als „hybride Bedrohung“ interpretieren wollte, sammelte er Argumente für die Ausweitung des NATO-Schirms auf Ceuta und Melilla. Eine groteske Konsequenz dieser Erweiterung wäre das Auslösen des NATO-Bündnisfalls durch unbewaffnete Asylsuchende.
Wenn auf Melillas Plaza de las Culturas, wo der Grenzzaun ebenso außer Sichtweite ist, wie der Hafen mit seinen blinden Passagieren und seiner Guardia Civil, die Bars sich gegen 22 Uhr wieder zum Abendessen füllen, wird hinter vorgehaltener Hand gemutmaßt werden, dass all das kein Zufall sein kann. Das Timing des Massakers ist zu perfekt auf den Beginn des NATO-Gipfels abgestimmt. Schon im März 2022, als ich zuletzt in der Exklave war, kam es an drei Tagen in Folge zu sehr großen Anstürmen auf den Zaun. Niemand machte sich Illusionen darüber, dass die marokkanischen Behörden, die die im Rif campierenden Geflüchteten genau überwachen, immer dann wegschauen und großen Gruppen das Erreichen des Grenzzauns erlauben, wenn sie politisch Druck machen wollen. Wie im März in der Westsahara-Frage. Der eine oder die andere wird beim Feierabendbier spekulieren, dass diesmal auch Spanien sein Einverständnis gegeben haben könnte. Vielleicht glaubte man, für den NATO-Gipfel drastische Bilder zu brauchen.
Am 1. Juli endete die Covid-Quarantäne der paar dutzend Migrant*innen, die es nach Melilla geschafft haben. Für diesen Tag war im Zentrum der Stadt eine Kundgebung gegen die Gewalt angesetzt. Die Bewohner*innen des CETI zeigten dort Schilder mit arabischer und spanischer Aufschrift. Auf einem war zu lesen: „Die Ukrainer begrüßen sie mit Rosen. Und warum schicken sie uns Schwarze in die Hölle?“. Neben den Geflüchteten nahmen von 85.000 Melillenser*innen ganze 70 an der Kundgebung teil.