Die Bedeutung und Aufgaben der Ehe waren im Laufe ihrer Geschichte immer wieder umstritten: Ist die Ehe heilig oder ein profanes ‚weltliches Geschäft‘? Erfüllt sie in erster Linie ökonomische und rechtliche Zwecke, ist sie eine rein emotionale Liebesangelegenheit oder zeichnet gerade die Kombination von Gefühlen und Pragmatismus die Ehe aus? Und ist sie unerlässlich für die Organisation und Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenlebens, oder sollte sie wegen ihres einengenden Charakters abgeschafft werden?

Abstimmungspropaganda, Operation Libero, Zürich, 2016; quelle: operaton-libero.ch
Wie diese widerstreitenden Auffassungen zeigen, ist die Ehe keineswegs selbstverständlich. Deutlich wird das gerade wieder an den jüngsten Auseinandersetzungen um eine mehrheitsfähige Definition der Ehe in der Schweiz. Zur Erinnerung: Im Februar 2016 wollte die CVP mit ihrer (steuerrechtlichen) Initiative «Abschaffung der Heiratsstrafe» nebenbei auch grad noch die Ehe als «Lebensgemeinschaft von Mann und Frau» in der Bundesverfassung festschreiben und scheiterte. Geradezu chancenlos war daraufhin eine kantonale Initiative der EDU, die im November 2016 in Zürich zur Abstimmung kam und vorsah, die «natürliche Ehe von Mann und Frau zu schützen». Bekämpft wurden die beiden christlich-konservativen Initiativen nicht nur von Lesben-, Schwulen- und Transgender-Organisationen, sondern auch von gesellschaftsliberalen Parteien und politischen Bewegungen, die für die Zukunft der Schweiz die «Ehe für Alle» fordern. Stets ging und geht es in diesen Debatten um die historisch neue Frage, ob die Ehe als heteronormative Institution ‚geschützt‘, oder ob sie durch eine Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare ‚gestärkt‘ werden soll. Warum in diesem aktuellen Streit beide Positionen kritisch zu hinterfragen sind, möchte ich im Folgenden darlegen.
Ist die Ehe eine ‚Option‘?
Vor hundert Jahren hat Georg Simmel die Ehe als ‚soziologisch unvergleichbare‘ Struktur bezeichnet, weil sie zugleich persönliche Intimbeziehung und staatliche Institution ist. Die Ehe vereint in sich also das Einzigartigste und das Allgemeinste, die individuelle Realität des Paares und die rechtliche Ordnung der Gesellschaft. Gerade diese spannungsreiche Kombination von Liebe und Gesetz sorgt für wiederkehrende Auseinandersetzungen. Was sich seit der gesamtschweizerischen Einführung der Ehe im Zivilgesetzbuch 1907 massgeblich verändert hat, ist die Gewichtung dieser beiden Dimensionen. Überwog damals noch die ordnungspolitische Aufgabe der Ehe gegenüber der individuellen Befindlichkeit des Paares, so hat sich diese Gewichtung inzwischen verschoben.

Zuckerfiguren für Hochzeitstorte; Quelle: decorationiperdolci.it
Betont wird heute die individuelle Freiheit in der Gestaltung des privaten Lebens: Eine Ehe kann jederzeit wieder geschieden werden und muss vor allem erst gar nicht eingegangen werden, denn die Ehe ist nicht mehr der einzig legitime Ort für das Zusammenleben als Liebespaar, für Sexualität und für Fortpflanzung. Angesichts dieser Entkoppelung von Intimität und Ehe ebenso wie von Elternschaft und Ehe spricht die Soziologie von einem Deinstitutionalisierungsprozess. Wie der Soziologe Andrew Cherlin zu Beginn des 21. Jahrhunderts konstatiert hat, ist die Ehe zu einer möglichen Form der individuellen Lebensgestaltung unter vielen anderen geworden. Diese Vorstellung der Ehe als einer Option, die frei von normativen Anforderungen gewählt werden kann, aber nicht gewählt werden muss, ist symptomatisch für unsere westliche, neoliberal-individualistische Zeit. Sie ist aber auch trügerisch.
Zunächst gerät durch den Fokus auf die individuelle Wahl die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Blick. Die Ehe ist zwar nicht mehr Pflicht, aber ihre Wahl wird weiterhin nahegelegt. Denn neben der Ehe – die im Hinblick auf die rechtliche und ökonomische Absicherung von Intimbeziehungen gleichsam ein ‚Gesamtpaket‘ ist – gibt es bisher keine alternativen Gesamt- oder Teilpakete, mit denen Verbindlichkeit und Solidarität (auch über Paar- und Elternbeziehungen hinaus) geregelt werden können. So gesehen ist die Ehe zwar eine Option, aber eine ohne wirkliche Alternativen – ausser der Freiheit, keine Ehe zu schliessen. Und noch etwas ist bemerkenswert: Weil nicht mehr alle Paare selbstverständlich zu Ehepaaren werden (müssen), sondern nur jene Paare heiraten, deren Liebesbeziehungen auch wirklich ernst- und dauerhaft sind resp. sein sollen, gewinnt der Entscheid für die Ehe einen neuen Stellenwert. Er drückt nicht mehr Normalität aus, sondern wird durch die Distinktion gegenüber Nichtverheirateten zu einem besonderen Glück stilisiert. Wie es eine Pfarrerin während eines Traugottesdienstes formulierte, ist die Ehe, als Symbol der Erfüllung der ‚tiefen Sehnsucht‘, jemanden zu lieben und selber geliebt zu werden, das ‚höchste Glück‘. Durch die Verschiebung von der normativen Anforderung hin zur individuellen Absichtserklärung, sich für immer zu lieben, wird die Eheschliessung zum Inbegriff von persönlichem Lebensglück.
Diese und weitere gesellschaftliche Bedingungen müssen wir vor Augen haben, wenn wir über die Ehe nachdenken. Angesichts der derzeit dominanten Auffassung der Ehe als persönlichem Glück, das durch (weisse) Hochzeiten aufwändig gefeiert wird, erstaunt es nicht, dass die Kritiken an der staatlichen Institution Ehe inzwischen mehrheitlich verstummt sind. Nicht nur lässt das persönliche Liebesglück keine kritischen Nachfragen oder ironische Distanzierung zu. Vielmehr noch sind heute, wie die Philosophin Sara Ahmed schreibt, alle dazu aufgefordert, glücklich zu sein, sich also an dem zu orientieren, was Glück verspricht.
Das Streben nach ‚Glück‘

Zuckerfiguren für Hochzeitstorte; Quelle: decorationiperdolci.it
Dieses individuelle Streben nach Glück wird konstitutiv mit dem ‚öffentlichen Glück‘ verbunden, das heisst es herrscht die Idee, die Gesellschaft sei dann eine glückliche Gesellschaft, wenn ihre Mitglieder glücklich sind. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang Ahmeds Hinweis, dass in dieser Vorstellung das Glück nicht überall, sondern nur an bestimmten, gesellschaftlich bereits festgelegten Orten zu finden ist. Die Anforderung, glücklich zu werden, bedeutet somit immer auch, auf die ‚richtige‘ Art glücklich zu werden. Wenn Ahmeds These zutrifft, dass das Glück als allgemeines Orientierungsmuster der Gegenwart fungiert, dann erscheint die Ehe plötzlich nicht mehr so optional. Denn was würde es bedeuten, die Ehe nicht zu wählen, wenn sie doch das ‚höchste Glück‘ des Lebens verspricht? Die Vorstellung von rein individuellen Entscheidungen blendet die gesellschaftlichen und damit auch fortbestehend normativen Bedingungen aus, unter denen diese getroffen werden.
Die Auffassung von einer individuellen ‚Option‘ ist aber auch deshalb trügerisch, weil sie die Tatsache verdeckt, dass die Freiheit, nicht zu heiraten, im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass alle die Freiheit haben, eine Ehe einzugehen. Tatsächlich wird die Ehe bestimmten Paaren vorenthalten, und kann deshalb nicht als Option gelten: Sie ist vielmehr ein Privileg. Verwehrt wird die Ehe – und damit auch das mit ihr assoziierte ‚Glück‘ – zum Beispiel binationalen Paaren, denen nachgewiesen werden kann, dass sie keine ‚echten‘ Liebespaare sind, sondern für einen der Partner eine Aufenthaltsbewilligung anstreben – was Liebe interessanterweise auszuschliessen scheint. Wie die Sozialanthropologin Anne Lavanchy zeigt, darf in der Schweiz nur heiraten, wer dies aus Liebe tut.
Mit anderen Worten, während bestimmte Paare ihre Liebe erst beweisen müssen, wird sie bei anderen fraglos vorausgesetzt und zum Grund der Eheschliessung erklärt. Ebenfalls nicht heiraten dürfen Paare, die inzwischen zwar mehrheitlich als ‚echte‘ Liebespaare anerkannt werden, deren Sexualität aber von der heterosexuellen Norm abweicht. Wie dieser zweite Ausschluss deutlich macht, setzt die Ehe in der Schweiz nicht nur ‚echte‘ Liebe, sondern auch ‚echte‘, das heisst ‚natürliche‘, weil (potentiell) reproduktive Sexualität voraus. Sich durch die Eheschliessung am höchsten – individuellen wie kollektiven – Glück zu orientieren, ist in der Schweiz damit ein Privileg, das heterosexuellen Liebespaaren vorbehalten ist. Und gerade weil die Ehe ein Privileg und keine allgemeine Option ist, hat sich die Kritik an der Institution Ehe in einen progressiven Kampf für die Ehe als persönlichem Glück verwandelt: Gefordert wird die ‚Ehe für alle’ Liebespaare.

Hochzeitstorten, Neapel; Quelle: vogliosposarti.it
In der Schweiz versuchen christlich-konservative Kreise diese Öffnung der Ehe, die in anderen europäischen Ländern bereits vollzogen wurde, mit allen Mitteln zu verhindern. Argumentiert wird mit dem ‚Schutz‘ der Ehe vor Homosexualität (und Polygamie), der Fokus liegt hier auf der institutionellen Bewahrung einer ‚echten‘ Sexualität. Im Gegenzug argumentieren die Befürworter*innen mit der Liebe, die auch in homosexuellen Beziehungen ‚echt‘ sei und – so die implizite Logik – glücklich machen würde, wenn sie sich denn in der Ehe ausdrücken könnte. Wie die Abstimmungen von 2016 zeigen, finden die Vorstösse, welche die Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, also als heterosexuelle Verbindung, in der Verfassung zu verankern suchen, in der Gegenwart keine Mehrheiten mehr. Vielmehr deuten die Resultate darauf hin, dass die Schweizer Bevölkerung eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Zukunft befürworten könnte.
Wie kam es dazu? Da sich auch homosexuelle Paare zunehmend dem Wunsch verschreiben, ihre Intimbeziehung in der Form der Ehe mit entsprechenden Rechten und Pflichten zu leben, werden sie als gleich ‚echte‘ Liebespaare wie heterosexuelle Paare anerkennbar. Aufgrund dieser gleichen Liebe werden gleichgeschlechtliche Paare trotz ihrer abweichenden Sexualität als glückliche Ehepaare vorstellbar und für eine Mehrheit akzeptabel. Mehr noch: durch die Orientierung der gleichgeschlechtlichen Liebe am Glück der Ehe kann sich Homosexualität normalisieren. Die Vorstellung der Ehe als individuellem Glück, das allen ernsthaften Liebespaaren unabhängig von ihrer Sexualität zustehen sollte, scheint sich aktuell also gegenüber der konservativen ordnungspolitischen Funktion der Ehe durchzusetzen, mit der bislang die hegemoniale Norm der Heterosexualität gesichert wurde.
Die paradoxen Effekte der gleichgeschlechtlichen Ehe

Plastikfiguren, gesehen auf der ersten Hochzeitsmesse für Schwule und Lesben, Paris, 2014; Quelle: mannschaft.com:
Es ist fraglos wichtig, dass allen Paaren – ungeachtet ihrer geschlechtlichen und nationalen Zusammensetzung – die Möglichkeit offensteht, ihre Beziehung rechtlich anerkennen zu lassen. Zugleich ist jedoch kritisch nachzufragen, was es bedeutet, wenn diese Anerkennung über die Figur eines ‚persönlichen Lebensglücks‘ geltend gemacht wird, das ‚echte‘ Liebe in der Ehe verortet und im Abstimmungskampf durch Symbole der weissen Hochzeit ausdrückt. Was bedeutet es, wenn die Anerkennung von Homosexualität mit einer Stärkung der Institution Ehe einhergeht? Und diese Stärkung der Ehe dadurch symbolisiert wird, dass nun auch gleichgeschlechtliche Paare Hochzeitskleider tragen und sich ihr persönliches Stück vom gesellschaftlichen Glück – in Form einer weissen Hochzeitstorte – abschneiden?
Das Risiko dieser Einschreibung gleichgeschlechtlicher Liebe in die Ehe liegt darin, dass die Ehe damit weiterhin die einzige Form der Anerkennung von glücklichen Intimbeziehungen und auf gesetzlicher Ebene entsprechend alternativlos bleibt. Wenn jede Liebe und sexuelle Beziehung am Glücksversprechen der Ehe gemessen wird, dann erscheinen alternative Formen, sofern sie überhaupt erscheinen können, als unglücklich oder zumindest weniger glücklich, weil weniger ernsthaft und entsprechend auch nicht ganz ernst zu nehmend. Diese Logik bemühte beispielsweise eine Juristin an einer Konferenz zur Reform des Schweizer Eherechts, als sie einen Unterschied machte zwischen dem bewussten, ernst gemeinten ‚Ja‘ von Ehepaaren und all den anderen Beziehungen, in die Menschen einfach ‚hineinschlittern‘ würden.
Solche Stilisierungen legen nahe, dass es nur eine Form wirklichen Glücks gibt. Die Forderung nach der Öffnung (und damit Aufwertung) der Ehe läuft Gefahr, diese Vorstellung erneut zu bestärken. Liebesbeziehungen, die ihr Glück nicht in der Ehe finden und nicht in der weissen Hochzeit ausdrücken möchten, behalten auf diese Weise den Anstrich der Unverbindlichkeit. So paradox es klingt: Wenn es darum gehen soll, dass verschiedene Formen individuellen Glücks anerkannt werden, braucht es eine Stärkung und zugleich eine Schwächung der Ehe. Erst dann würde die Ehe tatsächlich zu einer Möglichkeit unter verschiedenen, gleichwertigen Optionen.