Fantasy beschwört längst nicht mehr schwarzweisse Weltbilder. Das Genre ist heute zu einem Reflexionsraum von Gegenwart und ihren Geschichten geworden.

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

Fantasy hat von allen popu­lären Genres den schlech­testen Ruf. Es gilt zugleich als intel­lek­tuell wenig ambi­tio­niert, infantil und eska­pis­tisch, aber auch als poli­tisch gefähr­lich: konser­vativ, ja reak­tionär, wenn nicht gar rassis­tisch. Letz­teres trifft für manche Fanta­sy­ro­mane und -filme tatsäch­lich zu; das promi­nen­teste und einfluss­reichste Beispiel ist J.R.R. Tolkiens Rassi­fi­zie­rung der Orks, der hirn­losen Kampf­ma­schinen von Mittel­erde, die durch Peter Jack­sons Adap­tion in der Film­tri­logie noch zuge­spitzt wurde. Doch vor rassis­ti­schem, sexis­ti­schem und reak­tio­närem Gedan­kengut ist auch das realis­ti­sche Erzählen nicht gefeit. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Fantasy denn gleichsam struk­tu­rell archa­isch und auto­kra­tisch, infantil und eska­pis­tisch sei. Ich behaupte: Nein. Ganz im Gegen­teil:  Fantasy als mytho­poe­ti­scher Erzähl­modus öffnet einen Raum, der unter­schied­liche, oft auch wider­sprüch­liche Narra­tive verschmelzen lässt – als eine Form des Erzäh­lens, die nicht einfach vorhan­dene Mythen aufgreift, sondern neue, andere ins Spiel bringt. Dabei wird die Geschichte des Erzäh­lens immer wieder neu verhan­delt und neu erfunden.

Konservativ-regressiv oder deko­lo­nial und queer?

In der englisch­spra­chigen Fantasy ist das nichts Neues. Für Brian Atte­bery, einen der renom­mier­testen Fantas­tik­for­scher, sieht die Haupt­auf­gabe des Genres darin, das Verhältnis zwischen heutigen Leser:innen und mythi­scher Über­lie­fe­rung immer wieder neu zu defi­nieren. Realis­ti­sche Erzähl­welten hingegen seien viel konven­tio­neller und viel stärker von Genre­mus­tern geprägt, als wir denken. Fantasy bezieht sich beim Weltenbau bewusst auf den Konstruk­ti­ons­cha­rakter von Wirk­lich­keit, denn Fanta­sy­welten in ihrer radi­kalen Inter­tex­tua­lität sind immer schon auf der Meta­ebene des Konstru­ie­rens ange­sie­delt. Im deutsch­spra­chigen Raum ist der Kriti­ker­blick auf Fantasy sehr viel harscher. Für den Genre-Experten Georg Seeßlen ist Fantasy Ideo­logie, mit wenigen Ausnahmen. Im Gegen­satz zur Science Fiction, die sich „dem positivistisch-progressiven Teil des Klein­bür­ger­tums“ zuordnen lasse, spreche Fantasy den „konservativ-regressiven“ Teil der Bevöl­ke­rung an, schrieb er letztes Jahr in der WOZ. Auf die Schulter klopfen können sich Horror-Fans, denn sie gehören in dieser Logik wohl der „subversiv-dissidenten“ Bevöl­ke­rungs­gruppe an (das Sequel „Warum Horror?“ ist deshalb bei GdG bereits in Planung). Seeßlen argu­men­tiert mit Zahlen aus den USA, die sich aber auf TV-Serien beziehen. Doch die Inno­va­tion kommt in der Fantasy immer aus der Literatur.

Nnedi Okorafor, Quelle: eu.azcentral.com

Und auch gegen­wärtig zeigen Bestseller-Autor:innen wie N.K. Jemisin, Nnedi Okorafor oder Marlon James, wie gerade Fantasy Erzäh­lungen und Perspek­tiven aufgreifen kann, die in der Tolkien-Tradition an den Rand gedrängt wurden und Schwarzen, queeren, weib­li­chen Stimmen einen Reso­nanz­raum geben. Wer die Texte liest, die in den letzten Jahren mit dem renom­mierten Nebula-Award – die Preisträger:in für 2023 wird übri­gens heute bekannt­ge­geben – ausge­zeichnet wurden, kommt eher auf die Idee, dass Fantasy ein im Kern deko­lo­niales Genre sei. Was N.K. Jemisin über ihre Romane sagt, ist für die Gegen­warts­fan­tasy wich­tiger als Drachen, Krieg und starke Männner. Wie die meisten Schwarzen Amerikaner:innen, deren Vorfahren versklavt waren, weiß sie kaum etwas über ihre Fami­li­en­ge­schichte. Doch anstatt in Archiven der Genea­logie nach­zu­gehen, entschied sie sich, durch das Erzählen eigener Geschichten anzu­schreiben gegen diese selt­same Leere im Leben ohne Mythen – „the strange emptiness to life without myths“. Eine Geschichte, die Poten­tial für die Zukunft hat, braucht mehr als Verkaufs­ur­kunden, denn: „They’ll tell me where I came from, but not what I really want to know: where I’m going. To figure that out, I make shit up.“ Klar, Jemisin vertritt die Avant­garde des Genres. Doch messen wir die Qualität der realis­ti­schen Gegen­warts­li­te­ratur nicht auch an ihren besten Texten?

Fantasy ist aus Geschichten gemacht

Fantasy ist aus Geschichten gemacht, aus Mythen, Märchen und Sagen, die immer wieder neu kombi­niert, durch andere Geschichten ersetzt und über­schrieben, zerstört, neu erfunden und weiter­ge­sponnen werden können. Inso­fern bietet das Genre einen Raum für eine zugleich spie­le­ri­sche und kritisch-reflexive Ausein­an­der­set­zung mit dem Erzählen und seinen Ambi­va­lenzen. Erzäh­lungen können mani­pu­lieren oder aufklären, analy­sieren oder verschleiern. In klugen Fantasy-Settings – den Paral­lel­welten, die viele Kritiker:innen so kindisch finden –  sind all diese Möglich­keiten des Erzäh­lens gleich­zeitig da, und sie werden in der Gegen­warts­fan­tasy oft auf der Meta­ebene verhandelt.

Buch­cover, Nora Keita Jemisin, The World we make (2022)

Andrzej Sapkow­skis Saga um den Hexer Geralt von Riva, die sich mit drei Video­spielen und mit der Netflix-Serie The Witcher (2019–) zu einer inter­na­tio­nalen Transmedia-Storywelt ausge­weitet hat, beginnt mit einer postmodern-ironischen Debatte um Erzählen und Erfinden. Der erste Roman der Reihe, Das Erbe der Elfen (Kréw elfow; im polni­schen Original 1994 erschienen, auf Deutsch 2008), lässt den Barden, Meister Ritter­spron, nicht in Ruhe singen. Seine Zuhörer:innen wollen wissen, ob und inwie­fern seine Geschichten auf wahren Bege­ben­heiten beruhen, inter­es­sieren sich aber noch mehr für die Frage, was Fiktion darf und wie sie gemacht sein soll. Der Barde in seiner Bedrängnis versi­chert seiner Zuhö­rer­schaft, dass er „von allge­mein­gül­tigen Dingen“ singe, „von Gefühlen, die jedem zuteil werden können“, worauf ein martia­li­scher Zwerg schreit:

Ein Dreck ist das, Prin­zes­sinnen, Zaube­rinnen, Vorher­be­stim­mung, Liebe und derlei blau­äu­gige Ammen­mär­chen. Das alles ist ja, nichts für ungut, Herr Dichter, reiner Schwindel, oder poeti­sche Erfin­dung, damit es schöner wird und rührend. Aber die mili­tä­ri­schen Dinge wie das Gemetzel und die Plün­de­rung von Cintra, wie die Schlachten von Marnadal und Sodden, das habt Ihr uns wirk­lich schön gesungen, Ritter­sporn! […] Und man konnte sehen, dass Ihr keinen Deut gelogen habt, […] und ich kann Wahr­heit und Lüge unter­scheiden, denn ich war in Sodden dabei, ich habe da mit der Axt in der Hand gegen die Inva­soren aus Nilf­gaard gestanden […].

Wenn der Zwerg im Barden den Chro­nisten der Gegen­wart erkennt, ist das als Hinweis auf die Funk­tion des ganzen Genres zu verstehen – als Refle­xi­ons­raum der Gegenwart.

Mit dem ursprüng­lich von Tolkien geprägten Begriff der Mytho­poesie meint die Fanta­sy­for­schung nicht etwa, dass die Wieder­auf­be­rei­tung und Konser­vie­rung vormo­derner Erzähl­stoffe, sondern ein spie­le­ri­sches und poeti­sches Ausloten der Möglich­keiten mythi­scher und fantas­ti­scher Tradi­tionen im Roman. Dieser Impetus ist genauso speku­lativ wie jener der zukunfts­ge­rich­teten Science Fiction, auch wenn keine Zukunfts­vi­sionen entworfen werden.

Tom Bomba­dils Erbe

Erzähl­re­fle­xionen gibt es auch in der Fantasy der musku­lö­seren Art. George R.R. Martins Game-of-Thrones-Bände sind so multi­per­spek­ti­visch und viel­stimmig erzählt, dass man die Fäden als Leser:in gut in der Hand behalten muss, um der Geschichte folgen zu können. In der TV-Serie bleibt davon nicht viel übrig, was mit der filmi­schen Fantasy-Tradition zu tun hat. Wolf­gang Peter­sens Troy (2004) erzählt den troja­ni­schen Krieg ohne Kassandra, um Lein­wand­zeit für Schlachten und Helden­kämpfe zu gewinnen; und Peter Jackson streicht die wich­tigste Figur der Herr der Ringe-Trilogie aus seinem Dreh­buch: den rätsel­haften, mit dem Wald verfloch­tenen, ständig singenden und erzäh­lenden Tom Bombadil.

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Im Alten Wald, in den die Hobbits zu Beginn ihrer Quest tief hinein­ge­raten, ist alles lebendig. Das ist zunächst gruselig, eine dunkle Idylle, weil Frodos Gefährten Merry und Pippin von einer Weide zuerst in den Schlaf gelullt und dann einver­leibt werden.  Nichts kann den Baum dazu bringen, die beiden Hobbits wieder loszu­lassen. Doch wie das so ist in den Momenten grösster Verzweif­lung, hört Frodo plötz­lich ein anderes Lied:

[…] there could be no doubt: someone was singing a song; a deep glad voice was singing care­lessly and happily, and it was singing nonsense: Hey dol! Merry dol! Ring a dong dillo! Ring a dong! Hop along! Fal lal the willow! Tom Bom, jolly Tom, Tom Bombadillo!

Nonsense in Mittel­erde? Unbe­dingt. Aber ist Fantasy nicht genau das Gegen­teil von Nonsense? Nein. Das Reimen und Singen und wilde Erzählen, wie es Tom Bombadil zele­briert, verweist auf die mytho­poe­ti­sche Struktur der Fantasy. Nicht die starken Held:innen, nicht die Schlacht­felder, sondern die Geschichten sind die DNA des Genres. Tom Bombadil verkör­pert die Idee einer Form des Erzäh­lens, eines speku­la­tiven Fabu­lie­rens, bei der alle mitma­chen dürfen – die Hobbits geraten in seinem Haus nämlich auch in einen fast psyche­de­li­schen Erzähl­flow –, das unter den viel­fäl­tigsten Wesen Gemein­schaft stiftet, sie fürein­ander sorgen und sie verstehen lässt, dass alles was lebt, mitein­ander verflochten ist. Bombadil steht für eine Praxis, die Donna Haraway mit „Response-ability“ beschreibt, der Bereit­schaft und Fähig­keit, zu antworten. In der Fantasy sind diese Antworten Geschichten, die zu einem grossen Teppich verknüpft werden.

Über­prüfen kann man diese These gegen­wärtig in der Insze­nie­rung Riesen­haft in Mittel­erde im Schiffbau des Zürcher Schau­spiel­hauses. Sie macht Mittel­erde und seine Bewohner:innen auf eine neue, diverse Art lebendig, indem sie sich auf das Geflecht aus Geschichten einlässt und die Fäden eigen­willig weiter­spinnt. Da ist zum Beispiel ein melan­cho­lisch auf seiner Gitarre herum­zup­fender Elben­könig, der ethno­gra­fi­sche Feld­for­schungen bei den Orks unter­nimmt. In der Pause berichtet er dem Publikum von den Gute­nacht­lie­dern, die sie für ihre Kinder singen. Dass es der Regis­seur und Inten­dant persön­lich ist, Nicolas Stemann, der die bei Tolkien miss­ach­tete Kultur der Orks würdigt, darf man durchaus program­ma­tisch verstehen.

Ganz im Sinne der genre­ty­pi­schen Erzähl­kom­bi­na­torik verbindet die Insze­nie­rung die Welt des geschichts­me­lan­cho­li­schen Tolkien mit den Ansätzen der visio­nären, explo­rativ denkenden und schrei­benden Autorin Ursula K. Le Guin (1929-2018), die zurzeit in ihren Fantasy- und Science-Fiction-Romane, Erzäh­lungen und Essays als gesell­schafts­po­li­ti­sche und nicht zuletzt ökolo­gi­sche Vorden­kerin neu entdeckt wird.

1979, als Fantasy wirk­lich noch etwas für Nerds war und Nerds noch als uncool galten, verfasste Le Guin einen leiden­schaft­li­chen Aufsatz mit dem Titel Why Are Ameri­cans Afraid of Dragons?, der seine Leser:innen auch heute noch bei jeder Lektüre neu berührt mit seiner vibrie­renden Energie. Obwohl Fantasy und SF Main­stream geworden sind, ist Le Guins Plädoyer für das Fantastisch-Visionäre immer noch aktuell. Etwa, wenn die sie die mensch­liche Einbil­dungs­kraft als lebens­wich­tige Ressource ins Spiel bringt, ohne die auch das soziale Leben verküm­mern würde. Da ist sie ganz auf einer Linie mit Tom Bombadil. In einem anderen Essay ergänzt sie, dass das Schreiben, das von dieser wild wuchernden Imagi­na­tion genährt wird, eine Art Queste sei, die, indi­vi­duell und kollektiv, Erkenntnis und Selbst­er­kenntnis ermög­liche. Schreiben ist für LeGuin eine Art zu denken, Neues zu entde­cken: „an explo­ra­tion, a voyage of disco­very resul­ting in some­thing I didn’t know before I wrote it.“

Buch­cover Marlon James, Moon Witch, Spider King (2022)

Mit dieser Haltung gehen auch die inter­es­santen Fanta­sy­ro­mane der Gegen­wart ans Schreiben heran. Die gegen­wär­tige Fantastik arbeitet an einer kultu­rellen Groß­bau­stelle, und die Grenzen zwischen den Genres, zwischen Fantasy und Science Fiction lösen sich immer mehr auf. Sie nimmt die Frage auf, wie eine Welt aussehen könnte, in der nicht mehr der Mensch allein im Zentrum steht, und lässt alle anderen Wesen und Dinge miter­zählen. Tom Bombadil ist es längst gelungen, die Hobbits ins speku­la­tive Denken zu verwi­ckeln: „Oft ging seine Rede in Gesang über, und er stand vom Sessel auf und tanzte umher. Er erzählte ihnen Geschichten von Bienen und Blumen, von den selt­samen Krea­turen des Waldes, gut und bösen, freund­li­chen und gehäs­sigen, rohen und sanft­mü­tigen, und von den Geheim­nissen unterm Dornen­ge­strüpp. Während sie ihm zuhörten, begannen sie zu verstehen, wie die Geschöpfe des Waldes leben konnten, ohne sich irgend um Hobbits zu kümmern […].“ So entsteht aus Erzähl­tra­di­tionen ein visio­näres, speku­la­tives Labo­ra­to­rium des Welten-Denkens und Welten-Erforschens – ob und wie es sich auf die Welten jenseits von Buch­de­ckeln und Bild­schirmen auswirken kann, ist eine andere Geschichte.

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Am Montag, 15.5., findet um 18.15 an der Univer­sität Zürich ein Podium statt zum Thema Queer Beyond Realism – Fantasy und ihr speku­la­tives Poten­tial. Mit Evelyne Aschwanden (Schweizer Fantasy-Autorin), Bendix Fese­feldt (Drama­turg Schau­spiel­haus), Sébas­tien Fanzun (Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler UZH) und Chris­tine Lötscher (Kultur­wis­sen­schaft­lerin UZH).