Fantasy hat von allen populären Genres den schlechtesten Ruf. Es gilt zugleich als intellektuell wenig ambitioniert, infantil und eskapistisch, aber auch als politisch gefährlich: konservativ, ja reaktionär, wenn nicht gar rassistisch. Letzteres trifft für manche Fantasyromane und -filme tatsächlich zu; das prominenteste und einflussreichste Beispiel ist J.R.R. Tolkiens Rassifizierung der Orks, der hirnlosen Kampfmaschinen von Mittelerde, die durch Peter Jacksons Adaption in der Filmtrilogie noch zugespitzt wurde. Doch vor rassistischem, sexistischem und reaktionärem Gedankengut ist auch das realistische Erzählen nicht gefeit. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Fantasy denn gleichsam strukturell archaisch und autokratisch, infantil und eskapistisch sei. Ich behaupte: Nein. Ganz im Gegenteil: Fantasy als mythopoetischer Erzählmodus öffnet einen Raum, der unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Narrative verschmelzen lässt – als eine Form des Erzählens, die nicht einfach vorhandene Mythen aufgreift, sondern neue, andere ins Spiel bringt. Dabei wird die Geschichte des Erzählens immer wieder neu verhandelt und neu erfunden.
Konservativ-regressiv oder dekolonial und queer?
In der englischsprachigen Fantasy ist das nichts Neues. Für Brian Attebery, einen der renommiertesten Fantastikforscher, sieht die Hauptaufgabe des Genres darin, das Verhältnis zwischen heutigen Leser:innen und mythischer Überlieferung immer wieder neu zu definieren. Realistische Erzählwelten hingegen seien viel konventioneller und viel stärker von Genremustern geprägt, als wir denken. Fantasy bezieht sich beim Weltenbau bewusst auf den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit, denn Fantasywelten in ihrer radikalen Intertextualität sind immer schon auf der Metaebene des Konstruierens angesiedelt. Im deutschsprachigen Raum ist der Kritikerblick auf Fantasy sehr viel harscher. Für den Genre-Experten Georg Seeßlen ist Fantasy Ideologie, mit wenigen Ausnahmen. Im Gegensatz zur Science Fiction, die sich „dem positivistisch-progressiven Teil des Kleinbürgertums“ zuordnen lasse, spreche Fantasy den „konservativ-regressiven“ Teil der Bevölkerung an, schrieb er letztes Jahr in der WOZ. Auf die Schulter klopfen können sich Horror-Fans, denn sie gehören in dieser Logik wohl der „subversiv-dissidenten“ Bevölkerungsgruppe an (das Sequel „Warum Horror?“ ist deshalb bei GdG bereits in Planung). Seeßlen argumentiert mit Zahlen aus den USA, die sich aber auf TV-Serien beziehen. Doch die Innovation kommt in der Fantasy immer aus der Literatur.

Nnedi Okorafor, Quelle: eu.azcentral.com
Und auch gegenwärtig zeigen Bestseller-Autor:innen wie N.K. Jemisin, Nnedi Okorafor oder Marlon James, wie gerade Fantasy Erzählungen und Perspektiven aufgreifen kann, die in der Tolkien-Tradition an den Rand gedrängt wurden und Schwarzen, queeren, weiblichen Stimmen einen Resonanzraum geben. Wer die Texte liest, die in den letzten Jahren mit dem renommierten Nebula-Award – die Preisträger:in für 2023 wird übrigens heute bekanntgegeben – ausgezeichnet wurden, kommt eher auf die Idee, dass Fantasy ein im Kern dekoloniales Genre sei. Was N.K. Jemisin über ihre Romane sagt, ist für die Gegenwartsfantasy wichtiger als Drachen, Krieg und starke Männner. Wie die meisten Schwarzen Amerikaner:innen, deren Vorfahren versklavt waren, weiß sie kaum etwas über ihre Familiengeschichte. Doch anstatt in Archiven der Genealogie nachzugehen, entschied sie sich, durch das Erzählen eigener Geschichten anzuschreiben gegen diese seltsame Leere im Leben ohne Mythen – „the strange emptiness to life without myths“. Eine Geschichte, die Potential für die Zukunft hat, braucht mehr als Verkaufsurkunden, denn: „They’ll tell me where I came from, but not what I really want to know: where I’m going. To figure that out, I make shit up.“ Klar, Jemisin vertritt die Avantgarde des Genres. Doch messen wir die Qualität der realistischen Gegenwartsliteratur nicht auch an ihren besten Texten?
Fantasy ist aus Geschichten gemacht
Fantasy ist aus Geschichten gemacht, aus Mythen, Märchen und Sagen, die immer wieder neu kombiniert, durch andere Geschichten ersetzt und überschrieben, zerstört, neu erfunden und weitergesponnen werden können. Insofern bietet das Genre einen Raum für eine zugleich spielerische und kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem Erzählen und seinen Ambivalenzen. Erzählungen können manipulieren oder aufklären, analysieren oder verschleiern. In klugen Fantasy-Settings – den Parallelwelten, die viele Kritiker:innen so kindisch finden – sind all diese Möglichkeiten des Erzählens gleichzeitig da, und sie werden in der Gegenwartsfantasy oft auf der Metaebene verhandelt.

Buchcover, Nora Keita Jemisin, The World we make (2022)
Andrzej Sapkowskis Saga um den Hexer Geralt von Riva, die sich mit drei Videospielen und mit der Netflix-Serie The Witcher (2019–) zu einer internationalen Transmedia-Storywelt ausgeweitet hat, beginnt mit einer postmodern-ironischen Debatte um Erzählen und Erfinden. Der erste Roman der Reihe, Das Erbe der Elfen (Kréw elfow; im polnischen Original 1994 erschienen, auf Deutsch 2008), lässt den Barden, Meister Ritterspron, nicht in Ruhe singen. Seine Zuhörer:innen wollen wissen, ob und inwiefern seine Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhen, interessieren sich aber noch mehr für die Frage, was Fiktion darf und wie sie gemacht sein soll. Der Barde in seiner Bedrängnis versichert seiner Zuhörerschaft, dass er „von allgemeingültigen Dingen“ singe, „von Gefühlen, die jedem zuteil werden können“, worauf ein martialischer Zwerg schreit:
Ein Dreck ist das, Prinzessinnen, Zauberinnen, Vorherbestimmung, Liebe und derlei blauäugige Ammenmärchen. Das alles ist ja, nichts für ungut, Herr Dichter, reiner Schwindel, oder poetische Erfindung, damit es schöner wird und rührend. Aber die militärischen Dinge wie das Gemetzel und die Plünderung von Cintra, wie die Schlachten von Marnadal und Sodden, das habt Ihr uns wirklich schön gesungen, Rittersporn! […] Und man konnte sehen, dass Ihr keinen Deut gelogen habt, […] und ich kann Wahrheit und Lüge unterscheiden, denn ich war in Sodden dabei, ich habe da mit der Axt in der Hand gegen die Invasoren aus Nilfgaard gestanden […].
Wenn der Zwerg im Barden den Chronisten der Gegenwart erkennt, ist das als Hinweis auf die Funktion des ganzen Genres zu verstehen – als Reflexionsraum der Gegenwart.
Mit dem ursprünglich von Tolkien geprägten Begriff der Mythopoesie meint die Fantasyforschung nicht etwa, dass die Wiederaufbereitung und Konservierung vormoderner Erzählstoffe, sondern ein spielerisches und poetisches Ausloten der Möglichkeiten mythischer und fantastischer Traditionen im Roman. Dieser Impetus ist genauso spekulativ wie jener der zukunftsgerichteten Science Fiction, auch wenn keine Zukunftsvisionen entworfen werden.
Tom Bombadils Erbe
Erzählreflexionen gibt es auch in der Fantasy der muskulöseren Art. George R.R. Martins Game-of-Thrones-Bände sind so multiperspektivisch und vielstimmig erzählt, dass man die Fäden als Leser:in gut in der Hand behalten muss, um der Geschichte folgen zu können. In der TV-Serie bleibt davon nicht viel übrig, was mit der filmischen Fantasy-Tradition zu tun hat. Wolfgang Petersens Troy (2004) erzählt den trojanischen Krieg ohne Kassandra, um Leinwandzeit für Schlachten und Heldenkämpfe zu gewinnen; und Peter Jackson streicht die wichtigste Figur der Herr der Ringe-Trilogie aus seinem Drehbuch: den rätselhaften, mit dem Wald verflochtenen, ständig singenden und erzählenden Tom Bombadil.
Im Alten Wald, in den die Hobbits zu Beginn ihrer Quest tief hineingeraten, ist alles lebendig. Das ist zunächst gruselig, eine dunkle Idylle, weil Frodos Gefährten Merry und Pippin von einer Weide zuerst in den Schlaf gelullt und dann einverleibt werden. Nichts kann den Baum dazu bringen, die beiden Hobbits wieder loszulassen. Doch wie das so ist in den Momenten grösster Verzweiflung, hört Frodo plötzlich ein anderes Lied:
[…] there could be no doubt: someone was singing a song; a deep glad voice was singing carelessly and happily, and it was singing nonsense: Hey dol! Merry dol! Ring a dong dillo! Ring a dong! Hop along! Fal lal the willow! Tom Bom, jolly Tom, Tom Bombadillo!
Nonsense in Mittelerde? Unbedingt. Aber ist Fantasy nicht genau das Gegenteil von Nonsense? Nein. Das Reimen und Singen und wilde Erzählen, wie es Tom Bombadil zelebriert, verweist auf die mythopoetische Struktur der Fantasy. Nicht die starken Held:innen, nicht die Schlachtfelder, sondern die Geschichten sind die DNA des Genres. Tom Bombadil verkörpert die Idee einer Form des Erzählens, eines spekulativen Fabulierens, bei der alle mitmachen dürfen – die Hobbits geraten in seinem Haus nämlich auch in einen fast psychedelischen Erzählflow –, das unter den vielfältigsten Wesen Gemeinschaft stiftet, sie füreinander sorgen und sie verstehen lässt, dass alles was lebt, miteinander verflochten ist. Bombadil steht für eine Praxis, die Donna Haraway mit „Response-ability“ beschreibt, der Bereitschaft und Fähigkeit, zu antworten. In der Fantasy sind diese Antworten Geschichten, die zu einem grossen Teppich verknüpft werden.
Überprüfen kann man diese These gegenwärtig in der Inszenierung Riesenhaft in Mittelerde im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses. Sie macht Mittelerde und seine Bewohner:innen auf eine neue, diverse Art lebendig, indem sie sich auf das Geflecht aus Geschichten einlässt und die Fäden eigenwillig weiterspinnt. Da ist zum Beispiel ein melancholisch auf seiner Gitarre herumzupfender Elbenkönig, der ethnografische Feldforschungen bei den Orks unternimmt. In der Pause berichtet er dem Publikum von den Gutenachtliedern, die sie für ihre Kinder singen. Dass es der Regisseur und Intendant persönlich ist, Nicolas Stemann, der die bei Tolkien missachtete Kultur der Orks würdigt, darf man durchaus programmatisch verstehen.
Ganz im Sinne der genretypischen Erzählkombinatorik verbindet die Inszenierung die Welt des geschichtsmelancholischen Tolkien mit den Ansätzen der visionären, explorativ denkenden und schreibenden Autorin Ursula K. Le Guin (1929-2018), die zurzeit in ihren Fantasy- und Science-Fiction-Romane, Erzählungen und Essays als gesellschaftspolitische und nicht zuletzt ökologische Vordenkerin neu entdeckt wird.
1979, als Fantasy wirklich noch etwas für Nerds war und Nerds noch als uncool galten, verfasste Le Guin einen leidenschaftlichen Aufsatz mit dem Titel Why Are Americans Afraid of Dragons?, der seine Leser:innen auch heute noch bei jeder Lektüre neu berührt mit seiner vibrierenden Energie. Obwohl Fantasy und SF Mainstream geworden sind, ist Le Guins Plädoyer für das Fantastisch-Visionäre immer noch aktuell. Etwa, wenn die sie die menschliche Einbildungskraft als lebenswichtige Ressource ins Spiel bringt, ohne die auch das soziale Leben verkümmern würde. Da ist sie ganz auf einer Linie mit Tom Bombadil. In einem anderen Essay ergänzt sie, dass das Schreiben, das von dieser wild wuchernden Imagination genährt wird, eine Art Queste sei, die, individuell und kollektiv, Erkenntnis und Selbsterkenntnis ermögliche. Schreiben ist für LeGuin eine Art zu denken, Neues zu entdecken: „an exploration, a voyage of discovery resulting in something I didn’t know before I wrote it.“

Buchcover Marlon James, Moon Witch, Spider King (2022)
Mit dieser Haltung gehen auch die interessanten Fantasyromane der Gegenwart ans Schreiben heran. Die gegenwärtige Fantastik arbeitet an einer kulturellen Großbaustelle, und die Grenzen zwischen den Genres, zwischen Fantasy und Science Fiction lösen sich immer mehr auf. Sie nimmt die Frage auf, wie eine Welt aussehen könnte, in der nicht mehr der Mensch allein im Zentrum steht, und lässt alle anderen Wesen und Dinge miterzählen. Tom Bombadil ist es längst gelungen, die Hobbits ins spekulative Denken zu verwickeln: „Oft ging seine Rede in Gesang über, und er stand vom Sessel auf und tanzte umher. Er erzählte ihnen Geschichten von Bienen und Blumen, von den seltsamen Kreaturen des Waldes, gut und bösen, freundlichen und gehässigen, rohen und sanftmütigen, und von den Geheimnissen unterm Dornengestrüpp. Während sie ihm zuhörten, begannen sie zu verstehen, wie die Geschöpfe des Waldes leben konnten, ohne sich irgend um Hobbits zu kümmern […].“ So entsteht aus Erzähltraditionen ein visionäres, spekulatives Laboratorium des Welten-Denkens und Welten-Erforschens – ob und wie es sich auf die Welten jenseits von Buchdeckeln und Bildschirmen auswirken kann, ist eine andere Geschichte.
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Am Montag, 15.5., findet um 18.15 an der Universität Zürich ein Podium statt zum Thema Queer Beyond Realism – Fantasy und ihr spekulatives Potential. Mit Evelyne Aschwanden (Schweizer Fantasy-Autorin), Bendix Fesefeldt (Dramaturg Schauspielhaus), Sébastien Fanzun (Literaturwissenschaftler UZH) und Christine Lötscher (Kulturwissenschaftlerin UZH).
Tolkiens Geschichten sind für meinen Geschmack viel zu platt in ihrem einfallslosen Schwarz-Weiss Denken. Den Figuren fehlt jede Tiefe, sie sind Funktionen in der Geschichte und keine eigenständigen Personen. Das kann auch ein verwirrender Erzählfaden nicht wettmachen. Auch Game of Thrones ist meines erachtens nicht übertrieben gut gemacht. Die Figuren vermögen kaum zu überraschen, da ändert auch ihr oft frühes Ableben nicht viel daran. Ausserdem wurde die Geschichte nicht fertig erzählt, bevor das grosse Geld alles kaputtmachte. Vergleicht man das z.B. mit Robin Hobbs Regenwildnis Chroniken, dann wird klar, wie viel bunter, individualistischer und vielfältiger man Gesellschaften in fiktiven Welten… Mehr anzeigen »