Am 21. April 2002 kam es in Frankreich zu einem politischen Schock: Der Kandidat des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, erhielt im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 16,86% der Stimmen und qualifizierte sich so knapp vor dem Sozialisten Lionel Jospin für den zweiten Wahlgang. Der amtierende Präsident Jacques Chirac hatte 19,88% erhalten. Angesichts dieser in der französischen Geschichte noch nie dagewesenen Situation riefen die demokratischen Parteien, darunter auch der sozialdemokratische Parti Socialiste, dazu auf, den konservativen Jacques Chirac zum Präsidenten zu wählen. Es ging darum, Le Pen den „Weg zu versperren“ (faire barrage) und eine gemeinsame Front aller demokratischen Kräfte zu bilden (front républicain). Im zweiten Wahlgang am 5. Mai 2002 wurde Chirac mit 82,21% gegen Le Pen zum Staatspräsidenten gewählt.
Die Wahl 2002 als Ursache für den vote utile
Zwar war die Katastrophe abgewendet, aber die Wahl 2002 wurde für viele zu einem politisch traumatischen Ereignis. Noch heute spricht man in Frankreich vom „21. April“ als einem unheilvollen Datum, und zwar aus zweierlei Gründen: Einerseits, weil ein rechtsextremer Kandidat, der die Gaskammern der Nazis „ein Detail der Geschichte“ genannt hatte, es überhaupt in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl schaffte. Andererseits, weil sich die Wähler der linken Seite des politischen Spektrums dazu gezwungen sahen, für einen konservativen Kandidaten zu stimmen. Dazu kam noch, dass Chirac vor der Wahl damit warb, der „Präsident aller Franzosen“ sein zu wollen und nach der Wahl seine linke Wählerschaft betrog, indem er keinerlei Konzessionen machte und eine kompromisslos konservative Linie fuhr.
Fast genau fünfzehn Jahre später liegt bei den Umfragen zur französischen Präsidentschaftswahl im April 2017 die Kandidatin des Front National Marine Le Pen – die Tochter von Jean-Marie – mit 25% der Stimmen vorn. Während der Einzug in die zweite Wahlrunde für sie sicher zu sein scheint, kämpfen die restlichen Kandidaten um den zweiten Platz. Emmanuel Macron, ehemaliger Wirtschaftsminister von François Hollande und nach eigenen Angaben unabhängiger Kandidat, kommt in den Umfragen auf ebenfalls 25%. Dahinter liegen François Fillon, der Kandidat der Konservativen, Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise, einer Partei links vom sozialdemokratischen PS, und Benoît Hamon, der offizielle Kandidat des Parti Socialiste. In diesem Kontext ist nun seit einigen Wochen der Begriff der „pragmatischen Wahl“ oder, wörtlich, der „nützlichen Stimme“ (vote utile) in aller Munde. Pragmatisch wählen, so hört man immer wieder in den Medien, heißt für Emmanuel Macron zu stimmen. Aber warum?
Vote utile nützt Macron und schadet der Linken

Titelseite der Zeitung Libération, Quelle: liberation.fr
Es geht den Befürwortern der „nützlichen Stimme“ darum, eine Wiederholung des Szenarios von 2002 zu vermeiden. Es soll verhindert werden, dass sich die Wähler zwischen einem rechtsextremen und einem konservativen Kandidaten entscheiden müssen – was noch dadurch verschärft wird, dass mit François Fillon ein Vertreter des rechten Flügels die Vorwahl der konservativen Parteien für sich entschieden hat. Lange galt es als sicher, dass sich Fillon und Le Pen im zweiten Wahlgang gegenüberstehen, doch seit gegen Fillon und seine Ehefrau wegen Scheinbeschäftigung von Familienmitgliedern ermittelt wird, sind seine Chancen, sich für den zweiten Wahlgang zu qualifizieren, deutlich geringer geworden. Aus diesem Grund sehen sich die Befürworter der pragmatischen Wahl in ihrer Forderung noch bestärkt.
„Pragmatisch“, „nützlich“ oder „realistisch“ zu wählen bedeutet 2017, schon beim ersten Wahlgang für denjenigen Kandidaten zu stimmen, der die besten Chancen hat, um beim zweiten Wahlgang nicht für einen konservativen Kandidaten stimmen zu müssen. Macron versucht, sich als ein Kandidat jenseits der traditionellen Grenzen zwischen Rechts und Links (clivage droite/gauche) darzustellen und so eine breitere Wählerschaft anzuziehen. Er selbst lehnt den Ausdruck des vote utile ab, macht sich jedoch sehr wohl die dahinterstehende Argumentation zu eigen: Er sei der einzige „glaubwürdige“ Kandidat, der Marine Le Pen besiegen könne.
Für die Linken zu stimmen, so die Argumentation der Befürworter des vote utile, sei hingegen „utopisch“. Die Wähler des linken Spektrums werden also aufgefordert, von vornherein auf ein ambitioniertes soziales Programm zu verzichten, sich mit wirtschaftsliberalen Positionen abzufinden und für Macron zu stimmen. Tun sie es nicht, werden sie für den Erfolg des Front National verantwortlich sein – so das erpresserische Argument der Wortführer des vote utile. Die „nützliche Stimme“ und die damit einhergehende Pragmatismus- und Realismus-Rhetorik (versus „Utopie“) ist ein Beispiel dafür, wie Begriffe zum Zweck der Manipulation der öffentlichen Debatte gekidnappt werden können.
Vote utile kennt nur eine Richtung

Manuel Valls ruft dazu auf, Marine Le Pen den Weg zu versperren, Zeichnung von Placide, Quelle: leplacide.com
Beim vote utile wird also von den Wählern verlangt, nur die Kandidaten der größeren Parteien – die eine „echte“ Chance zum Sieg haben – zu wählen. Dieses Argument wird dazu benutzt, kleine, weiter links stehende Parteien zum Schulterschluss mit dem Parti Socialiste oder dem Parti de Gauche (heute France insoumise) aufzurufen. Zudem wird vom Parti de Gauche gefordert, sich den Sozialisten anzuschließen, und schließlich wird von den Sozialisten verlangt, sich hinter Macron zu stellen. So werden Stimmen konsequent verschoben – in Richtung einer neoliberalen, rechten Politik: Denn sollte es zu einem zweiten Wahlgang mit Le Pen und einem konservativen Kandidaten kommen, wird von den linken Parteien gefordert, sich einem konservativen front républicain anzuschließen, um die rechtsextreme Kandidatin zu verhindern.
Den umgekehrten Weg kennt die Argumentation des vote utile nicht: Sollte bei Parlamentswahlen ein Kandidat des Front National verhindert werden, sind Kandidaten des Parti Socialiste im zweiten Wahlgang sehr selten zugunsten des Kandidaten des Parti de Gauche zurückgetreten, wenn dieser beim ersten Wahlgang mehr Stimmen bekommen hatte. Und noch seltener hat ein Kandidat der rechten Partei dies zugunsten eines sozialistischen Kandidaten getan. Die „pragmatische Wahl“ und der front républicain funktionieren also immer nur in eine Richtung. Dabei sind die Adressaten immer die linken Wähler, nie die rechten.
Zudem lässt sich beobachten, wie mit dem vote utile unmittelbar vor den Wahlen linke Wählerstimmen geangelt werden sollen, wie jedoch außerhalb der Wahl am rechten Rand auf Stimmenfang gegangen wird. So hat es Sarkozy mit der Einführung von Mindestquoten für Abschiebungen gezeigt und auch François Hollande, der nach den Terroranschlägen in Paris einen (letztlich zurückgezogenen) Gesetzesentwurf zum Verlust der Staatsbürgerschaft in bestimmten Fällen vorgebracht hat. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach dem vote utile noch absurder und widersprüchlicher.
Die Rolle der Medien
Kandidaten, die eine Gefahr für den wirtschaftsliberalen Konsens darstellen, werden in französischen Medien von einer gut etablierten Expertenkaste, wie sie Serge Halimi in seinem Buch Die neuen Wachhunde (Les Nouveaux Chiens de garde) beschreibt, konsequent diskreditiert. Nachdem mit Benoît Hamon überraschend der linke Kandidat die sozialistische Vorwahl gewonnen hatte, wurde dessen Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens schnell als „utopisch“ abgetan und vom Leitartikler Franz-Olivier Giesbert (Le Point) als „surrealistisch, wenn nicht gar dadaistisch“ verlacht.
Was passiert, wenn die Homogenität dieses Milieus von einem fremden Teilnehmer gestört wird, hat vor kurzer Zeit eine Szene in der Wahlkampagne gezeigt. Philippe Poutou, der Kandidat des Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei), war in Laurent Ruquiers beliebter „Infotainment“-Sendung On n’est pas couché zu Gast. Als „Mikro-Kandidat“ (so der Titel eines Artikels in M, le magazine du Monde) verfügt er über weniger Zeit in den Medien als die Kandidaten der größeren Parteien, wird aber im Namen der équité eingeladen, um sein Programm vorzustellen. Die Redakteurin fragt ihn, wie seine Partei die Unternehmenschefs dazu zwingen will, auf Entlassungen zu verzichten; sie verspricht sich („Wie zwingt man einen Chef dazu, Entlassungen zu verbieten?“), wird von Ruquier korrigiert, verspricht sich erneut und fragt: „Wie zwingt man einen Chef zu Entlassungen“. Als sie sich ihres Versprechers bewusst wird, bekommt sie einen Lachanfall, in den der Rest der Runde mit Ausnahme von Poutou einstimmt. Letzterer wartet etwas perplex, bis sich das allgemeine Gelächter gelegt hat, damit er endlich erklären kann, warum im Programm seiner Partei die Reglementierung von Entlassungen gefordert wird. Er kommt jedoch nicht dazu, denn das Gelächter dauert noch einige Minuten an. Die Diskrepanz zwischen der Sprache und der Realität, die sie beschreibt, wurde in dieser Sendung so spürbar, dass das Video schnell ein Erfolg in den sozialen Medien wurde.
Dekonstruktion des vote utile von links
Wie die Wähler selbst auf die wiederholte Forderung zum vote utile reagieren werden, bleibt offen. Aber die Kandidaten, zu deren Ungunsten das Argument bzw. die Sprache der meisten Medien benutzt wird, haben schon darauf reagiert. Hamon und Mélenchon haben den Ausdruck für sich vereinnahmt, thematisiert und dekonstruiert. Beide argumentieren explizit mit dem Begriff der „pragmatischen Wahl“, der aber bei ihnen genau das Gegenteil bedeutet: Wirklich pragmatisch zu wählen heiße nicht, den Umfragen blind zu glauben und Macron zu wählen, sondern für ein soziales Programm zu wählen, um die Situation der defavorisierten Bevölkerungsteile zu verbessern, und gegen Arbeitslosigkeit und Prekarität zu kämpfen – dies aber, anders als Marine Le Pen, durch Solidarität und nicht durch Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung. Dadurch verliere Le Pens Rhetorik, sie spreche im Namen des „einfachen Volkes“, seine Kraft. Für Macron zu stimmen sei ganz im Gegenteil kontraproduktiv und gefährlich: Sein neoliberales Programm verschlechtere die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, und die Unzufriedenheit der Bevölkerung eskaliere, so dass bei der nächsten Präsidentschaftswahl in fünf Jahren die Chancen für Marine Le Pen, gewählt zu werden, noch höher sein würden.
Poutous Reaktion hingegen richtete sich an das Verhalten der Medien selbst und an die Geringschätzung der Journalisten gegenüber den linken Kandidaten. Er veröffentlichte einen Werbeclip für die Wahlkampagne, der seinen Auftritt bei Ruquiers On n’est pas couché parodiert. Poutous nennt seinen Spot: On n’est pas touché („Wir sind nicht berührt“). Im Unterschied zum Original bringt Poutou nach dem Gelächter der anderen den Punkt seines Programms an. Dann steht er auf und verlässt den Raum, weigert sich dabei, dem Moderator die Hand zu schütteln – und die Journalisten kommentieren: „Die Arbeiter haben heutzutage aber nicht mehr besonders viel Klasse!“
Die Tatsache, dass ein Kandidat eine Szene aus einer Talkshow fast unverändert zu einem Werbeclip machen kann, spricht Bände. Poutou hält den Medien den Spiegel vor und erweist damit den Wählern und den anderen Kandidaten einen großen Dienst. Er zeigt, dass Worte wie „Entlassung“ nicht nur Worthülsen sind, sondern eine konkrete Realität benennen.