Schon seit längerem kursieren in Israel Analogien zum einstigen Übergang Deutschlands von einer Demokratie zu einer Diktatur. Diese Vergleiche zeigen ein erschreckendes Bild der israelischen Gesellschaft 75 Jahre nach der Staatsgründung.

  • Alfred Bodenheimer

    Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel. Er beschäftigt sich u.a. mit literarischen und religiösen Narrativen des Judentums. 2022 hat er gemeinsam mit Thomas Bauer und Michael Seewald den Band „Welche Sprache spricht Gott? Versuche aus Judentum, Christentum und Islam“ veröffentlicht. Bild: Bruno Biermann

Im Januar 2023 kündigte der israe­li­sche Justiz­mi­nis­ters Yariv Levin eine Reform des Rechts­we­sens an. Dieses stellt bis jetzt faktisch die einzige Kontroll­in­stanz gegen­über einer das Parla­ment (Knesset) beherr­schenden Regie­rung dar. Die Regie­rung strebt deshalb danach, die Recht­spre­chung der Politik unter­zu­ordnen. Auf den danach spontan ausbre­chenden und sich in der Folge rapide auswei­tenden Demons­tra­tionen waren immer wieder auch Trans­pa­rente zu sehen, auf denen die Jahres­zahl 1933 stand. Der Analo­gie­schluss ist gerade in Israel, wo das Jahr 1933 als Einlei­tung des Prozesses, der einige Jahre später in die Shoah mündete, beson­ders brisant. Er lag aber nicht zuletzt deshalb nahe, weil der Protest im zeit­li­chen Kontext des 90. Gedenk­jahrs an die Macht­über­nahme vom 30. Januar 1933 ausbrach. Doch ein Rück­blick in den öffent­li­chen Diskurs Israels der vorher­ge­henden Jahre zeigt, dass solche Analo­gie­schlüsse durchaus nicht einfach spontan aufkamen, als eine gezielte Aushöh­lung des Rechts­staats offen zum Regie­rungs­pro­gramm erklärt wurde, sondern dass sie als Warn­sze­nario schon seit längerem präsent sind.

Es soll hier anhand von einigen Beispielen aus den vergan­genen knapp zehn Jahren versucht werden zu zeigen, wie die Wahr­neh­mung der Gefahren, die der Weimarer Repu­blik und insbe­son­dere ihren letzten Jahren und Monaten inne­wohnten, im israe­li­schen Diskurs eine zuneh­mend wich­tige Rolle spielt. Die Beispiele erscheinen auch deshalb inter­es­sant, weil sie unter­schied­liche Aspekte einer Umwand­lung von Gesell­schaften und Systemen in den Blick nehmen: menta­li­täts­mäßig, poli­tisch und juristisch.

Zerstö­rung der Demokratie

Am 4. Mai 2016 hielt der dama­lige Vize-Generalstabschef der israe­li­schen Armee Yair Golan eine öffent­liche Gedenk­rede anläss­lich des natio­nalen Shoah-Gedenktages. Ob diese Rede maßgeb­lich dazu beitrug, dass er zwei Jahre danach nicht zum Gene­ral­stabs­chef beför­dert wurde, wie danach viele einschließ­lich Golan selbst vermutet haben, lässt sich nicht endgültig beur­teilen. In seiner Rede warnte Golan vor der Verführ­bar­keit durch Frem­den­hass, Anpas­sung und Heuchelei. Sei der Versöh­nungstag Jom Kippur der zentrale Tag für die innere Prüfung des Einzelnen, so sei der Shoah-Gedenktag der Tag für die natio­nale Selbst­prü­fung. Was der Rede jedoch ihren histo­ri­schen Wider­hall – sowohl in Rich­tung der Vergan­gen­heit als auch der Zukunft – bescherte, waren folgende Sätze:

Die Shoah muss uns zum Nach­denken über unser öffent­li­ches Leben führen, und mehr noch muss sie jeden, der kann, und nicht nur den, der dazu willens ist, dazu führen, öffent­liche Verant­wor­tung zu über­nehmen. Denn wenn es etwas gibt, was mich in Erin­ne­rung an die Shoah in Angst versetzt, ist es das Iden­ti­sche von verab­scheu­ungs­wür­digen Prozessen, die sich in Europa insge­samt und in Deutsch­land im Beson­deren damals vor 70, 80 oder 90 Jahren abspielten und die sich heute in unserer Mitte im Jahr 2016 wieder­erkennen lassen.

Golans Rede knüpfte an ein Ereignis an, das sechs Wochen früher scharfe Debatten ausge­löst hatte. Der Sani­täts­soldat Elor Asaria hatte in Hebron einen schon über­wäl­tigten und schwer verletzten paläs­ti­nen­si­schen Atten­täter durch einen Kopf­schuss getötet. Die Tat hatte vor allem deshalb immense Aufmerk­sam­keit erregt, weil ein Vertreter der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion B’tselem sie gefilmt und den Film wenige Stunden später ins Netz gestellt hatte.
Den Vorwurf, israe­li­sche Soldaten mit der Wehr­macht vergli­chen zu haben, wies Golan von sich. Tatsäch­lich zeigt eine genaue Lektüre seiner Rede, dass er sich mit einem Rück­blick, der bis in die Mitte der zwan­ziger Jahre des 20. Jahr­hun­derts zurück­reicht und sich auf Europa im Allge­meinen und nicht nur auf Deutsch­land bezieht, einer sehr viel allge­mei­neren und grund­le­gen­deren Frage ange­nommen hatte. Nämlich derje­nigen der Anfäl­lig­keit jeder Gesell­schaft – also nicht nur solchen unter dikta­to­ri­schen Verhält­nissen – für Haltungen und Prak­tiken, die letzt­lich zu Entmensch­li­chung und Beden­ken­lo­sig­keit im Elimi­nieren will­kür­lich dekla­rierter Feinde führen.

Im Februar 2021 erklärte Golan in einem Inter­view mit der Zeitung Israel Hayom, dass sich an seiner dama­ligen Analyse, gerade hinsicht­lich ihrer Prozess­haf­tig­keit, nichts geän­dert habe. Mit Blick auf überall zerfal­lende Demo­kra­tien verwies er auf Israel und erklärte: „Es ist nicht so, dass wir zu Nazis werden, aber es gibt hier Prozesse von ausgrei­fendem Natio­na­lismus und seiner Zerstö­rung der Demokratie.“

Betrachtet man Golans Inter­ven­tion von heute aus, hatte er durch das Brenn­glas der Asaria-Affäre und insbe­son­dere ihres Wider­halls in der Öffent­lich­keit erkannt, dass die lauwarmen Reak­tionen des dama­ligen poli­ti­schen Estab­lish­ments bei der gleich­zei­tigen Lobprei­sung des Soldaten durch rechts­extreme Expo­nenten ein verhee­rendes Signal aussandten. Dieses berei­tete mit den Boden dafür, das offene Propa­gieren von Hass und Gewalt zu einer legi­timen poli­ti­schen Haltung zu verwan­deln. Die Vertreter natio­na­lis­ti­scher Parteien betrieben damit einige Jahre später erfolg­reich Wahl­kampf und fahren in der Regie­rungs­ver­ant­wor­tung von heute mit dem glei­chen Rezept fort.

Bewegt sich Golans Rede im Kontext allge­meiner Bedenken zur geistig-moralischen Verfas­sung und Entwick­lung der israe­li­schen Gesell­schaft, so sind die anderen Beispiele näher an der konkreten poli­ti­schen, recht­li­chen und lebens­welt­li­chen Realität Israels, bezie­hungs­weise an der Herstel­lung von Analo­gien zur Weimarer Repu­blik und ihrem fatalen Ende orientiert.

Religiös-nationaler Radi­ka­lismus

Einen histo­risch diffe­ren­zierten Bezug zwischen der poli­ti­schen Lage Israels und dem Ende der Weimarer Repu­blik hat 2019 der Jeru­sa­lemer Histo­riker und Holo­caust­for­scher Daniel Blatman herge­stellt. Ange­sichts der nach zwei Wahl­gängen faktisch mehr­heits­losen Knesset verglich Blatman das fort­lau­fende Patt der poli­ti­schen Situa­tion mit der Weimarer Repu­blik, wo die wieder­holten Wahlen vom September 1930, Juli 1932 und dann November 1932 zur Amts­ein­set­zung Hitlers durch Reichs­prä­si­dent Hinden­burg im Januar 1933 geführt hatten, just nachdem die NSDAP in den Novem­ber­wahlen 1932 gegen­über den Juli­wahlen desselben Jahres fast fünf Prozent Wähler­an­teile einge­büßt hatte. Entspre­chend warnte Blatman vor Versu­chen des israe­li­schen Staats­prä­si­denten Rivlin, den aus den Wahlen leicht geschwächt hervor­ge­gan­genen Likud in einer ähnli­chen Konstel­la­tion in einer große Koali­tion mit dem sich sträu­benden poli­ti­schen Gegner Benny Gantz hinein­zu­führen und plädierte für Neuwahlen.

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Beson­ders brisant wird Blat­mans histo­ri­scher Bezug bei seinem Vergleich der Weige­rung der gemä­ßigten Parteien, mit der Arabi­schen Verei­nigten Liste, die in der dama­ligen Knesset 13 von 120 Sitzen besaß, zu koalieren, mit der Weige­rung der deut­schen Sozi­al­de­mo­kratie von 1932, mit der Kommu­nis­ti­schen Partei zusammen eine Volks­front zu bilden. Zwar befür­wor­teten, so Blatman, etliche arabi­sche Abge­ord­nete eine funda­men­tale struk­tu­relle Trans­for­ma­tion des israe­li­schen Staates – mithin ein Über­gang von dessen Bekenntnis zu einem primär jüdi­schen Charakter zu einem Staat „all seiner Bürger“. Anders als die sowjet­treue KPD von 1932 seien aber die arabi­schen Abge­ord­neten, so Blatman, weit davon entfernt, die Inter­essen einer fremden Macht zu vertreten.

Blat­mans Aussage von 2019 nimmt eine spätere Erkenntnis vorweg: In der israe­li­schen Politik von heute sind rechts­staat­lich orien­tierte parla­men­ta­ri­sche Mehr­heiten mögli­cher­weise mittel­fristig nur noch im Zusam­men­gehen mit arabi­schen Parteien zu haben. Dies hat sich gezeigt, als 2021 die erste Koali­tion unter Einbezug einer arabi­schen Partei entstand – und es zeigt sich im Kontra­punkt noch deut­li­cher heute, da diese Koali­tion zerfallen und Ende 2022 einer religiös-rechtsradikalen, ausschließ­lich jüdi­schen Koali­tion gewi­chen ist. Dass die Analogie zu einer Zerstö­rung der Weimarer Repu­blik gerade dann viru­lent wird, wenn Wert auf inner­jü­di­sche Koali­ti­ons­bil­dung gelegt wird, zeichnet einer­seits ein erschre­ckendes Bild der Entwick­lung des jüdi­schen Selbst­ver­ständ­nisses 75 Jahre nach der Staats­grün­dung. Ande­rer­seits signa­li­siert es die Uner­läss­lich­keit einer Norma­li­sie­rung des israe­li­schen Staates im Sinne einer Einbin­dung der Minder­heiten in die Regie­rungs­ver­ant­wor­tung, deren Ausbleiben in den Abgrund führen dürfte.

Bedrohte Grund­lagen der Demokratie

Ein weiteres Beispiel rührt an die Substanz derzei­tiger Verwer­fungen in Israel: Es ist die Frage, ob der Unter­gang der Weimarer Repu­blik durch ein wirkungs­mäch­ti­geres Rechts­wesen hätte aufge­hoben werden können. Im Mai 2015 gab der ehema­lige Präsi­dent des Obersten Gerichts Israels, Aharon Barak, der aus Sicht der poli­ti­schen Rechten die Symbol­figur für eine inter­ven­tio­nis­ti­sche und aus deren Sicht über­grif­fige Praxis des Gerichts als Hüter der Rechts­staat­lich­keit gegen poli­ti­sche Willkür darstellt, ein Inter­view für die Zeitung Jedioth Acha­ronot. Als Titel figu­rierte das Zitat: „Im Deutsch­land der drei­ßiger Jahre konnte das Gericht keine Gesetze kassieren.“

Eine viel­sa­gende Reak­tion auf dieses Inter­view ist ein Text des rechts­ge­rich­teten Histo­ri­kers Yagil Henkin. Henkin versucht zu zeigen, dass die Gerichte mitnichten ein Wall gegen die Diktatur darstellten. Er nimmt die histo­ri­schen Hinter­gründe einer teil­weise rechts unter­wan­derten Gerichts­bar­keit in der Weimarer Repu­blik in den Blick – wobei er gerade dem mit dem Hüten der Verfas­sung betrauten Staats­ge­richtshof keine beson­dere Aufmerk­sam­keit schenkt und die milden Urteile gegen rechte Agita­toren und Atten­täter (einschließ­lich Hitlers selbst nach dem Putsch­ver­such von 1923) in den Vorder­grund rückt. Inter­es­sant ist dabei, dass Henkin am Anfang seines Aufsatzes noch andere Bruch­stücke aus Baraks Inter­view ausführt, nämlich die Aussage, es gebe „keine tiefen demo­kra­ti­schen Wurzeln“ in der israe­li­schen Bevöl­ke­rung, und ihr Groß­teil hätte „einen sehr unzu­rei­chenden Begriff von Demokratie“.

Statt aber diesem Aspekt von Baraks Inter­view und den poten­zi­ellen Impli­ka­tionen seines histo­ri­schen Vergleichs mehr Aufmerk­sam­keit zu schenken, begnügt sich Henkin 2015 damit, seine Argu­men­ta­tion auf die ausge­hende Weimarer Repu­blik zu fokus­sieren. Damit schafft er ironi­scher­weise – acht Jahre vor der durch die auto­ritär agie­rende Regie­rung ausge­lösten Staats­krise von 2023 – den argu­men­ta­tiven Gesamt­rahmen, aus dem heraus Barak nach­träg­lich verstanden werden muss. Denn heute zeigt sich, dass maßgeb­liche Teile der israe­li­schen Bevöl­ke­rung und der Volks­ver­tre­te­rinnen und -vertreter tatsäch­lich ein stark beein­träch­tigtes Demo­kra­tie­ver­ständnis haben. Gemäß einer weit verbrei­teten Ansicht ist eine gewählte Mehr­heit im Parla­ment an so gut wie keinerlei andere Rück­sichten (wie einen Rechts­staat oder das Völker­recht) gebunden, was letzt­lich dem unbe­schränkten Gebrauch von Macht Tür und Tor öffnet.

Baraks Äuße­rungen können also nicht reduktiv histo­ri­sie­rend verstanden werden, sondern nur in dem Kontext, in dem er sie inten­dierte; es handelt sich nicht primär um eine histo­ri­sche Aussage über Deutsch­land 1933, sondern über das Israel der Gegen­wart. Mit einem solchen Verständnis wird klar, dass Gerichte auch von einer kriti­schen Masse zivil­ge­sell­schaft­li­chen Konsenses über die Grund­aus­stat­tung demo­kra­ti­scher Systeme getragen werden müssen, um vor einer Diktatur retten zu können. Gleich­zeitig wird deut­lich, dass gerade diese Maßnahme eigent­lich schon der unter allen Umständen zu verhin­dernde Notfall wäre.

Mehr denn je gilt in der aktu­ellen Situa­tion auch für Israel das Diktum des Staats­recht­lers und Rechts­phi­lo­so­phen Ernst-Wolfgang Böcken­förde: „Der frei­heit­liche, säku­la­ri­sierte Staat lebt von Voraus­set­zungen, die er selbst nicht garan­tieren kann.“ Oder wie der Histo­riker Ernst Piper sagte: „Die in der Verfas­sung veran­kerte Demo­kratie kann sich nicht auf Dauer behaupten, wenn eine Mehr­heit der Bürge­rinnen und Bürger ihr feind­lich gegen­über­steht.“ Diese Erkenntnis gilt noch in weit verschärfter Form, wenn es wie in Israel eine Verfas­sung gar nicht gibt. Aller­dings warnt sie auch davor, eine Verfas­sung, wie sie heute die israe­li­sche Oppo­si­tion anstrebt, ohne flan­kie­rende Mass­nahmen als Heil­mittel gegen die gesell­schaft­li­chen Verwer­fungen zu erhoffen.

Medizin ohne Recht

Die viel­leicht unmit­tel­barste Bezug­nahme auf die Weimarer Repu­blik, bzw. ihr Ende, ist zuletzt gerade aus einer eher uner­war­teten Ecke gekommen, nämlich aus einem Schreiben von rund tausend israe­li­schen Ärztinnen und Ärzten, die den Vorsit­zenden der Ärzte­ge­werk­schaft im Juli 2023 ange­sichts der sich ankün­di­genden ersten Stufe der Geset­zes­re­form auffor­derten, einen Streik des Gesund­heits­per­so­nals auszu­rufen. Sie seien nicht bereit, sich „in die Wissen­schaftler, Ärzte und Intel­lek­tu­elle des Deutsch­lands von 1933 zu verwan­deln,“ erklärten sie – und nahmen dabei Bezug auf konkrete Ängste vor recht­lich nicht mehr aufheb­baren Mass­nahmen, die den medi­zi­ni­schen Alltag prägen könnten. Diese Angst betrifft etwa eine Segre­ga­tion bei der Behand­lung und Unter­brin­gung von Patient:innen gemäss ihrer ethni­schen Zuge­hö­rig­keit, befürch­tete poli­tisch oder welt­an­schau­lich moti­vierte Anord­nungen von „Thera­pien“ für LGBTQ-Menschen oder im Umgang mit Abtrei­bungen oder Trans­plan­ta­tionen, und vieles mehr.

Mit Blick auf die mögli­chen Folgen einer allen­falls nicht mehr auf einklag­bares Recht abge­stützte Wissen­schaft und Medizin wird der Verweis auf 1933 mit dem Umschlag von einem Rechts­staat zu einem auto­ritär geführten Staat womög­lich am greif­barsten. Und mit der Initia­tive des medi­zi­ni­schen Perso­nals, die in ihrer Aussa­ge­kraft weit über die Analyse Einzelner hinaus­geht, wird beson­ders deut­lich, dass die bereits länger kursie­rende Situa­ti­ons­ana­lyse die Lage nicht nur beschreiben und einordnen, sondern auch den zivil­ge­sell­schaft­li­chen Wider­stand dagegen inspi­rieren kann.