Im Januar 2023 kündigte der israelische Justizministers Yariv Levin eine Reform des Rechtswesens an. Dieses stellt bis jetzt faktisch die einzige Kontrollinstanz gegenüber einer das Parlament (Knesset) beherrschenden Regierung dar. Die Regierung strebt deshalb danach, die Rechtsprechung der Politik unterzuordnen. Auf den danach spontan ausbrechenden und sich in der Folge rapide ausweitenden Demonstrationen waren immer wieder auch Transparente zu sehen, auf denen die Jahreszahl 1933 stand. Der Analogieschluss ist gerade in Israel, wo das Jahr 1933 als Einleitung des Prozesses, der einige Jahre später in die Shoah mündete, besonders brisant. Er lag aber nicht zuletzt deshalb nahe, weil der Protest im zeitlichen Kontext des 90. Gedenkjahrs an die Machtübernahme vom 30. Januar 1933 ausbrach. Doch ein Rückblick in den öffentlichen Diskurs Israels der vorhergehenden Jahre zeigt, dass solche Analogieschlüsse durchaus nicht einfach spontan aufkamen, als eine gezielte Aushöhlung des Rechtsstaats offen zum Regierungsprogramm erklärt wurde, sondern dass sie als Warnszenario schon seit längerem präsent sind.
Es soll hier anhand von einigen Beispielen aus den vergangenen knapp zehn Jahren versucht werden zu zeigen, wie die Wahrnehmung der Gefahren, die der Weimarer Republik und insbesondere ihren letzten Jahren und Monaten innewohnten, im israelischen Diskurs eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Die Beispiele erscheinen auch deshalb interessant, weil sie unterschiedliche Aspekte einer Umwandlung von Gesellschaften und Systemen in den Blick nehmen: mentalitätsmäßig, politisch und juristisch.
Zerstörung der Demokratie
Am 4. Mai 2016 hielt der damalige Vize-Generalstabschef der israelischen Armee Yair Golan eine öffentliche Gedenkrede anlässlich des nationalen Shoah-Gedenktages. Ob diese Rede maßgeblich dazu beitrug, dass er zwei Jahre danach nicht zum Generalstabschef befördert wurde, wie danach viele einschließlich Golan selbst vermutet haben, lässt sich nicht endgültig beurteilen. In seiner Rede warnte Golan vor der Verführbarkeit durch Fremdenhass, Anpassung und Heuchelei. Sei der Versöhnungstag Jom Kippur der zentrale Tag für die innere Prüfung des Einzelnen, so sei der Shoah-Gedenktag der Tag für die nationale Selbstprüfung. Was der Rede jedoch ihren historischen Widerhall – sowohl in Richtung der Vergangenheit als auch der Zukunft – bescherte, waren folgende Sätze:
Die Shoah muss uns zum Nachdenken über unser öffentliches Leben führen, und mehr noch muss sie jeden, der kann, und nicht nur den, der dazu willens ist, dazu führen, öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Denn wenn es etwas gibt, was mich in Erinnerung an die Shoah in Angst versetzt, ist es das Identische von verabscheuungswürdigen Prozessen, die sich in Europa insgesamt und in Deutschland im Besonderen damals vor 70, 80 oder 90 Jahren abspielten und die sich heute in unserer Mitte im Jahr 2016 wiedererkennen lassen.
Golans Rede knüpfte an ein Ereignis an, das sechs Wochen früher scharfe Debatten ausgelöst hatte. Der Sanitätssoldat Elor Asaria hatte in Hebron einen schon überwältigten und schwer verletzten palästinensischen Attentäter durch einen Kopfschuss getötet. Die Tat hatte vor allem deshalb immense Aufmerksamkeit erregt, weil ein Vertreter der Menschenrechtsorganisation B’tselem sie gefilmt und den Film wenige Stunden später ins Netz gestellt hatte.
Den Vorwurf, israelische Soldaten mit der Wehrmacht verglichen zu haben, wies Golan von sich. Tatsächlich zeigt eine genaue Lektüre seiner Rede, dass er sich mit einem Rückblick, der bis in die Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht und sich auf Europa im Allgemeinen und nicht nur auf Deutschland bezieht, einer sehr viel allgemeineren und grundlegenderen Frage angenommen hatte. Nämlich derjenigen der Anfälligkeit jeder Gesellschaft – also nicht nur solchen unter diktatorischen Verhältnissen – für Haltungen und Praktiken, die letztlich zu Entmenschlichung und Bedenkenlosigkeit im Eliminieren willkürlich deklarierter Feinde führen.
Im Februar 2021 erklärte Golan in einem Interview mit der Zeitung Israel Hayom, dass sich an seiner damaligen Analyse, gerade hinsichtlich ihrer Prozesshaftigkeit, nichts geändert habe. Mit Blick auf überall zerfallende Demokratien verwies er auf Israel und erklärte: „Es ist nicht so, dass wir zu Nazis werden, aber es gibt hier Prozesse von ausgreifendem Nationalismus und seiner Zerstörung der Demokratie.“
Betrachtet man Golans Intervention von heute aus, hatte er durch das Brennglas der Asaria-Affäre und insbesondere ihres Widerhalls in der Öffentlichkeit erkannt, dass die lauwarmen Reaktionen des damaligen politischen Establishments bei der gleichzeitigen Lobpreisung des Soldaten durch rechtsextreme Exponenten ein verheerendes Signal aussandten. Dieses bereitete mit den Boden dafür, das offene Propagieren von Hass und Gewalt zu einer legitimen politischen Haltung zu verwandeln. Die Vertreter nationalistischer Parteien betrieben damit einige Jahre später erfolgreich Wahlkampf und fahren in der Regierungsverantwortung von heute mit dem gleichen Rezept fort.
Bewegt sich Golans Rede im Kontext allgemeiner Bedenken zur geistig-moralischen Verfassung und Entwicklung der israelischen Gesellschaft, so sind die anderen Beispiele näher an der konkreten politischen, rechtlichen und lebensweltlichen Realität Israels, beziehungsweise an der Herstellung von Analogien zur Weimarer Republik und ihrem fatalen Ende orientiert.
Religiös-nationaler Radikalismus
Einen historisch differenzierten Bezug zwischen der politischen Lage Israels und dem Ende der Weimarer Republik hat 2019 der Jerusalemer Historiker und Holocaustforscher Daniel Blatman hergestellt. Angesichts der nach zwei Wahlgängen faktisch mehrheitslosen Knesset verglich Blatman das fortlaufende Patt der politischen Situation mit der Weimarer Republik, wo die wiederholten Wahlen vom September 1930, Juli 1932 und dann November 1932 zur Amtseinsetzung Hitlers durch Reichspräsident Hindenburg im Januar 1933 geführt hatten, just nachdem die NSDAP in den Novemberwahlen 1932 gegenüber den Juliwahlen desselben Jahres fast fünf Prozent Wähleranteile eingebüßt hatte. Entsprechend warnte Blatman vor Versuchen des israelischen Staatspräsidenten Rivlin, den aus den Wahlen leicht geschwächt hervorgegangenen Likud in einer ähnlichen Konstellation in einer große Koalition mit dem sich sträubenden politischen Gegner Benny Gantz hineinzuführen und plädierte für Neuwahlen.
Besonders brisant wird Blatmans historischer Bezug bei seinem Vergleich der Weigerung der gemäßigten Parteien, mit der Arabischen Vereinigten Liste, die in der damaligen Knesset 13 von 120 Sitzen besaß, zu koalieren, mit der Weigerung der deutschen Sozialdemokratie von 1932, mit der Kommunistischen Partei zusammen eine Volksfront zu bilden. Zwar befürworteten, so Blatman, etliche arabische Abgeordnete eine fundamentale strukturelle Transformation des israelischen Staates – mithin ein Übergang von dessen Bekenntnis zu einem primär jüdischen Charakter zu einem Staat „all seiner Bürger“. Anders als die sowjettreue KPD von 1932 seien aber die arabischen Abgeordneten, so Blatman, weit davon entfernt, die Interessen einer fremden Macht zu vertreten.
Blatmans Aussage von 2019 nimmt eine spätere Erkenntnis vorweg: In der israelischen Politik von heute sind rechtsstaatlich orientierte parlamentarische Mehrheiten möglicherweise mittelfristig nur noch im Zusammengehen mit arabischen Parteien zu haben. Dies hat sich gezeigt, als 2021 die erste Koalition unter Einbezug einer arabischen Partei entstand – und es zeigt sich im Kontrapunkt noch deutlicher heute, da diese Koalition zerfallen und Ende 2022 einer religiös-rechtsradikalen, ausschließlich jüdischen Koalition gewichen ist. Dass die Analogie zu einer Zerstörung der Weimarer Republik gerade dann virulent wird, wenn Wert auf innerjüdische Koalitionsbildung gelegt wird, zeichnet einerseits ein erschreckendes Bild der Entwicklung des jüdischen Selbstverständnisses 75 Jahre nach der Staatsgründung. Andererseits signalisiert es die Unerlässlichkeit einer Normalisierung des israelischen Staates im Sinne einer Einbindung der Minderheiten in die Regierungsverantwortung, deren Ausbleiben in den Abgrund führen dürfte.
Bedrohte Grundlagen der Demokratie
Ein weiteres Beispiel rührt an die Substanz derzeitiger Verwerfungen in Israel: Es ist die Frage, ob der Untergang der Weimarer Republik durch ein wirkungsmächtigeres Rechtswesen hätte aufgehoben werden können. Im Mai 2015 gab der ehemalige Präsident des Obersten Gerichts Israels, Aharon Barak, der aus Sicht der politischen Rechten die Symbolfigur für eine interventionistische und aus deren Sicht übergriffige Praxis des Gerichts als Hüter der Rechtsstaatlichkeit gegen politische Willkür darstellt, ein Interview für die Zeitung Jedioth Acharonot. Als Titel figurierte das Zitat: „Im Deutschland der dreißiger Jahre konnte das Gericht keine Gesetze kassieren.“
Eine vielsagende Reaktion auf dieses Interview ist ein Text des rechtsgerichteten Historikers Yagil Henkin. Henkin versucht zu zeigen, dass die Gerichte mitnichten ein Wall gegen die Diktatur darstellten. Er nimmt die historischen Hintergründe einer teilweise rechts unterwanderten Gerichtsbarkeit in der Weimarer Republik in den Blick – wobei er gerade dem mit dem Hüten der Verfassung betrauten Staatsgerichtshof keine besondere Aufmerksamkeit schenkt und die milden Urteile gegen rechte Agitatoren und Attentäter (einschließlich Hitlers selbst nach dem Putschversuch von 1923) in den Vordergrund rückt. Interessant ist dabei, dass Henkin am Anfang seines Aufsatzes noch andere Bruchstücke aus Baraks Interview ausführt, nämlich die Aussage, es gebe „keine tiefen demokratischen Wurzeln“ in der israelischen Bevölkerung, und ihr Großteil hätte „einen sehr unzureichenden Begriff von Demokratie“.
Statt aber diesem Aspekt von Baraks Interview und den potenziellen Implikationen seines historischen Vergleichs mehr Aufmerksamkeit zu schenken, begnügt sich Henkin 2015 damit, seine Argumentation auf die ausgehende Weimarer Republik zu fokussieren. Damit schafft er ironischerweise – acht Jahre vor der durch die autoritär agierende Regierung ausgelösten Staatskrise von 2023 – den argumentativen Gesamtrahmen, aus dem heraus Barak nachträglich verstanden werden muss. Denn heute zeigt sich, dass maßgebliche Teile der israelischen Bevölkerung und der Volksvertreterinnen und -vertreter tatsächlich ein stark beeinträchtigtes Demokratieverständnis haben. Gemäß einer weit verbreiteten Ansicht ist eine gewählte Mehrheit im Parlament an so gut wie keinerlei andere Rücksichten (wie einen Rechtsstaat oder das Völkerrecht) gebunden, was letztlich dem unbeschränkten Gebrauch von Macht Tür und Tor öffnet.
Baraks Äußerungen können also nicht reduktiv historisierend verstanden werden, sondern nur in dem Kontext, in dem er sie intendierte; es handelt sich nicht primär um eine historische Aussage über Deutschland 1933, sondern über das Israel der Gegenwart. Mit einem solchen Verständnis wird klar, dass Gerichte auch von einer kritischen Masse zivilgesellschaftlichen Konsenses über die Grundausstattung demokratischer Systeme getragen werden müssen, um vor einer Diktatur retten zu können. Gleichzeitig wird deutlich, dass gerade diese Maßnahme eigentlich schon der unter allen Umständen zu verhindernde Notfall wäre.
Mehr denn je gilt in der aktuellen Situation auch für Israel das Diktum des Staatsrechtlers und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Oder wie der Historiker Ernst Piper sagte: „Die in der Verfassung verankerte Demokratie kann sich nicht auf Dauer behaupten, wenn eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ihr feindlich gegenübersteht.“ Diese Erkenntnis gilt noch in weit verschärfter Form, wenn es wie in Israel eine Verfassung gar nicht gibt. Allerdings warnt sie auch davor, eine Verfassung, wie sie heute die israelische Opposition anstrebt, ohne flankierende Massnahmen als Heilmittel gegen die gesellschaftlichen Verwerfungen zu erhoffen.
Medizin ohne Recht
Die vielleicht unmittelbarste Bezugnahme auf die Weimarer Republik, bzw. ihr Ende, ist zuletzt gerade aus einer eher unerwarteten Ecke gekommen, nämlich aus einem Schreiben von rund tausend israelischen Ärztinnen und Ärzten, die den Vorsitzenden der Ärztegewerkschaft im Juli 2023 angesichts der sich ankündigenden ersten Stufe der Gesetzesreform aufforderten, einen Streik des Gesundheitspersonals auszurufen. Sie seien nicht bereit, sich „in die Wissenschaftler, Ärzte und Intellektuelle des Deutschlands von 1933 zu verwandeln,“ erklärten sie – und nahmen dabei Bezug auf konkrete Ängste vor rechtlich nicht mehr aufhebbaren Massnahmen, die den medizinischen Alltag prägen könnten. Diese Angst betrifft etwa eine Segregation bei der Behandlung und Unterbringung von Patient:innen gemäss ihrer ethnischen Zugehörigkeit, befürchtete politisch oder weltanschaulich motivierte Anordnungen von „Therapien“ für LGBTQ-Menschen oder im Umgang mit Abtreibungen oder Transplantationen, und vieles mehr.
Mit Blick auf die möglichen Folgen einer allenfalls nicht mehr auf einklagbares Recht abgestützte Wissenschaft und Medizin wird der Verweis auf 1933 mit dem Umschlag von einem Rechtsstaat zu einem autoritär geführten Staat womöglich am greifbarsten. Und mit der Initiative des medizinischen Personals, die in ihrer Aussagekraft weit über die Analyse Einzelner hinausgeht, wird besonders deutlich, dass die bereits länger kursierende Situationsanalyse die Lage nicht nur beschreiben und einordnen, sondern auch den zivilgesellschaftlichen Widerstand dagegen inspirieren kann.
Äusserst wichtiger und verdankenswerter Beitrag zu einem Thema, das mich sehr beunruhigt. Vielen Dank, Alfred Bodenheimer.