Wirtschaftswachstum gilt heute als natürliche Entwicklung und als universelles Heilmittel. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass diese Überzeugung relativ jung ist. Es gab und gibt gute Gründe dafür, den Zusammenhang von Wachstum und Wohlfahrt in Frage zu stellen.

  • Matthias Schmelzer

    Matthias Schmelzer arbeitet beim Konzept­werk Neue Ökonomie, ist Perma­nent Fellow am DFG-Kolleg “Post­wachstums­gesellschaften” an der Universität Jena und forscht zu Wirtschafts­geschichte, sozialen Bewe­gungen und alterna­tiven Wirtschafts­modellen.

Das Thema lag schon länger in der Luft, als der ameri­ka­ni­sche Ökonom Larry Summers im Herbst 2013 das tref­fende Stich­wort lieferte: „secular stagna­tion“. Die These eines lang­fris­tigen Erlah­mens der Wachs­tums­dy­namik in den post­in­dus­tri­ellen Ländern traf den Nerv einer Zeit, die sich pessi­mis­tisch als „Abstiegs­ge­sell­schaft“ zu beschreiben begann. In der Tat weisen die Wachs­tums­raten in Europa, Nord­ame­rika und Japan seit den 1970er Jahren einen konstanten Rück­gang auf. Die Gründe dafür sind viel­fältig. Sie reichen vom Struk­tur­bruch des aufkom­menden Neoli­be­ra­lismus über ökono­mi­sche Sätti­gungs­ten­denzen, inter­na­tio­nale Konkur­renz und die Finan­zia­li­sie­rung bis hin zu diversen wirt­schaft­li­chen Krisendynamiken.

Nomi­nelle (links) und reale (rechts) prozen­tuale BIP-Veränderungen zum Vorjahr (glei­tender Zehnjahres-Mittelwert) in wich­tigen OECD-Ländern, 1960–2014, Quelle: Penn World Tables; The Economist

In langer Frist entwi­ckelt sich die Wirt­schaft nicht wie ein Hockey­schläger, an dessen Bild wir uns gewöhnt haben: stagnie­rend für den Groß­teil der Mensch­heits­ge­schichte und dann beschleu­ni­gend in einen fast verti­kalen Aufstieg, wie eine J-Kurve. Seit Mitte der 1970er Jahre zeichnet sich in den Regionen, die Ausgangs­punkt der kapi­ta­lis­ti­schen Indus­tria­li­sie­rung waren, ein anderer Verlauf ab. Die Beschleu­ni­gung verlang­samt sich und könnte bald zum Still­stand kommen.

Die Heils­lehren des Wachstums

Obwohl sich in den früh indus­tria­li­sierten Ländern das Ende des Wachs­tums abzeichnet und erst­mals denkbar wird, feiert das Wachs­tums­pa­ra­digma als vermeint­li­cher Sach­zwang und Natur­ge­setz fröh­liche Urstände. Seine Domi­nanz ist kaum zu über­sehen. Es erscheint auf den Titel­seiten der Zeitungen, spielt eine Schlüs­sel­rolle in ökono­mi­schen Analysen und struk­tu­riert die öffent­liche Diskus­sion. Während die Medien jede kleinste Schwan­kung des Brut­to­in­lands­pro­dukts (BIP) nach unten mit fast reli­giöser Inbrunst kommen­tieren, ist der Ruf nach höheren Wirt­schafts­wachs­tums­raten über alle Länder­grenzen und das poli­ti­sche Spek­trum hinweg zum Leit­motiv poli­ti­scher Debatten geworden. Beson­ders eindrück­lich zeigt sich die Domi­nanz des Wachs­tums­pa­ra­digmas in einer Rede, die die deut­sche Bundes­kanz­lerin Angela Merkel kurz nach dem Höhe­punkt der Welt­wirt­schafts­krise im Jahr 2009 hielt. Darin hiess es: „Ohne Wachstum keine Inves­ti­tionen, ohne Wachstum keine Arbeits­plätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwa­chen. Und umge­kehrt: Mit Wachstum Inves­ti­tionen, Arbeits­plätze, Gelder für die Bildung, Hilfe für die Schwa­chen und – am wich­tigsten – Vertrauen bei den Menschen.“ Diese Glau­bens­sätze finden sich in fast allen poli­ti­schen Programmen. So enthält beispiels­weise auch die Vision des neuen US-Präsidenten Donald Trump für die Zukunft der US-Wirtschaft vier Punkte, von denen jeder einzelne Wirt­schafts­wachstum enthält, als gäbe es keine anderen Probleme. Er fordert, eine „dynamic booming economy“ zu schaffen, spricht davon, dass „Incre­asing growth by 1.5 percent would result in 18 million jobs“, skiz­ziert einen „pro-growth tax plan“ und in seinem letzten Punkt fasst er seine Vision noch einmal zusammen: „Boost growth to 3.5 percent per year on average, with the poten­tial to reach a 4 percent growth rate.“

Die Welt, gesehen durch das Raster des BIP, wie sie auf der Website des World Economic Forum erscheint, Quelle: weforum.org

Wachstum und Wohlfahrt

Dass Wirt­schafts­wachstum heute als selbst­ver­ständ­li­ches Ziel und Allheil­mittel für die Lösung gesell­schaft­li­cher Problem­lagen gilt, ist alles andere als selbst­ver­ständ­lich. Endloses Wachstum stand in den Wirt­schafts­wis­sen­schaften bis in die 1930er Jahre nicht zur Diskus­sion und auch der Zusam­men­hang von Wachstum und Wohl­fahrt galt nicht als gesi­chert. Hingegen fehlte es nicht an Theo­re­ti­kern, die das Ende des Wachs­tums als will­kom­mene Zukunft begrüßten – so etwa auch John Maynard Keynes. In seinem berühmten Essay Economic Possi­bi­li­ties of our Grand­children, den er bemer­kens­wer­ter­weise am Anfang der Großen Depres­sion der 1930er Jahre schrieb, versam­melt er eine Reihe faszi­nie­render lang­fris­tiger Vorher­sagen über ein gutes Leben jenseits von Wachstum, zuneh­mender Plackerei und endloser Akku­mu­la­tion. Für die Indus­trie­länder rech­nete Keynes damals mit einem konti­nu­ier­li­chen Anstieg von Wirt­schafts­pro­duk­tion und Lebens­stan­dards, der um das Jahr 2030 herum in einen Zustand des Über­flusses münden würde, in dem Konsum­be­dürf­nisse größ­ten­teils gedeckt wären. Den Enkel­kin­dern seiner Gene­ra­tion sagte Keynes ein Leben voraus, das von den profanen Akti­vi­täten des Sparens, Akku­mu­lie­rens und Lohn­ar­bei­tens befreit sein würde und Raum böte, um sich höheren Gütern wie der Kunst oder der Muße zu widmen.

Die Entwick­lung des modernen Wachstumsparadigmas

Dass uns ein mögli­ches Ende des Wachs­tums heute eher als ein bedroh­li­ches Gespenst und nicht als eine will­kom­mene Zukunft erscheint: diese Wahr­neh­mung wurde erst in der Nach­kriegs­zeit möglich. In den Jahr­zehnten nach Keynes’ Vorher­sagen wurde die Sicht­weise, die im Wirt­schafts­wachstum eine vorüber­ge­hende Phase der Mensch­heits­ge­schichte auf ihrem Weg zur wohl­ha­benden Post­wachs­tums­ge­sell­schaft erblickte, durch das aufkom­mende Wachs­tums­pa­ra­digma verdrängt.

Entschei­dend dafür, dass Wachstum zu einem Fetisch werden konnte, war zunächst die inter­na­tio­nale Stan­dar­di­sie­rung der Statis­tiken, die das Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) defi­nieren. Erst auf dieser Grund­lage entstand seit den 1940er Jahren eine über Zeit und Raum vergleich­bare und einheit­liche Konzep­tion „der Wirt­schaft“. Erst jetzt wurde messbar, was wachsen sollte: die Summe der Markt­trans­ak­tionen im Rahmen natio­nal­staat­li­cher Grenzen. Und erst danach setzte sich die Idee durch, dass lang­fris­tiges, stabiles und unbe­grenztes Wachstum möglich sei. Noch in den poli­ti­schen Diskus­sionen der unmit­tel­baren Nach­kriegs­zeit war die Idee des Wirt­schafts­wachs­tums auffällig abwe­send. Die zentralen Themen waren viel­mehr Voll­be­schäf­ti­gung, Stabi­lität und Wieder­aufbau. In den folgenden Jahren jedoch wurde Wachstum im Kontext von Deko­lo­nia­li­sie­rung und Kaltem Krieg an die Spitze der Poli­tik­ziele katapultiert.

Illus­tra­tion zu einem Artikel über Secular Stagna­tion, Quelle: andolfatto.blogspot.ch

Während Robert Solow in den USA das Funda­ment für die neoklas­si­sche Wachs­tums­theorie legte, wurde die ökono­mi­sche Expan­sion spätes­tens ab Mitte der 1950er Jahre zum global akzep­tierten Maßstab des Fort­schritts. Dazu trugen auch die sozio­lo­gi­schen Moder­ni­sie­rungs­theo­rien bei, welche Entwick­lung nunmehr als unum­kehr­baren und ziel­ge­rich­teten Wachs­tums­pro­zess begriffen. Natio­nal­staaten und poli­ti­sche Systeme traten nun nicht mehr in Bezug auf Gleich­heit, Eman­zi­pa­tion oder Arbeits­plätze in einen Wett­be­werb, sondern in Bezug auf die Quan­tität von Gütern und Dienst­leis­tungen, die ein Land produ­zieren konnte. Einge­bettet in diese Wahr­neh­mungs­ma­trix wurde Wachstum nun zu einem zentralen Ziel von Wirt­schafts­po­litik, zu einer Verant­wort­lich­keit von Regie­rungen und zum wich­tigsten Indi­kator für natio­nalen Erfolg und soziale Wohl­fahrt. Parallel dazu etablierte sich ein Narrativ, das Wachstum und Wohl­fahrt anein­ander band und mit der kontinuier­lichen Expan­sion von Markt­trans­ak­tionen gleich­ge­setzte. In dieser Konstel­la­tion wurde das BIP zum ersten und allge­meinen Indi­kator für Moder­nität, Prospe­rität, Lebens­stan­dard, Entwick­lung und das Pres­tige von Ländern.

Als neuer Fetisch hat das Wachs­tums­pa­ra­digma eine Schlüs­sel­rolle dabei gespielt, den gesell­schaft­li­chen Diskurs über Vertei­lungs­fragen und damit einher­ge­hende Konflikte um Verlierer und Gewinner wirt­schaft­li­cher Akti­vität von einem Null­sum­men­spiel in ein schein­bares Posi­tiv­sum­men­spiel zu trans­for­mieren, in dem alle vom wach­senden Wirt­schafts­pro­dukt profi­tierten und daher auch ein gemein­sames Inter­esse am Wirt­schafts­wachstum hätten. In Wachs­tums­ge­sell­schaften verwan­delten sich soziale Konflikte in tech­ni­sche Probleme, die, so die Vorstel­lung, von Expert_innen zum Wohle der Allge­mein­heit „gema­nagt“ werden konnten. Wie Charles S. Maier das auf den Punkt brachte: „The true dialectic was not one of class against class, but waste versus abundance.“

Die sozialen und ökolo­gi­schen Kosten des Wachstumsgebots

Seit seinem Aufstieg wurde das moderne Wachs­tums­pa­ra­digma von einer steten Kritik begleitet, die Wohl­fahrt anders versteht als vom Brut­to­so­zi­al­pro­dukt gemessen. In der Mitte des 20. Jahr­hun­derts spra­chen sich fast alle führenden Ökonom_innen dagegen aus, das BIP als Maßstab für den Wohl­stand der Nationen und für inter­na­tio­nale Vergleiche zu nutzen. Stets gab es nicht nur eine Viel­zahl an konzep­tu­ellen Diver­genzen zwischen natio­nalen Tradi­tionen, sondern auch funda­men­tale inner­wis­sen­schaft­liche Kontro­versen zu dieser Mess­me­thode – Stich­worte dieser Diskus­sion über die rich­tige Mess­größe sind Exter­na­li­täten, unbe­zahlte Haus­ar­beit und Subsistenz.

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Die 1972 erst­mals publi­zierte Studie „The Limits to Growth“ zur Zukunft der Welt­wirt­schaft sagte voraus, dass die abso­lute Wachs­tums­grenze auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht sein würde.

Spätes­tens mit dem Bericht „Grenzen des Wachs­tums“ an den Club of Rome von 1972 sind die schäd­li­chen Folgen des Wachs­tums­pa­ra­digmas für Mensch und Umwelt ins öffent­liche Bewusst­sein gerückt. Auch im Westen wurde deut­lich, dass Wirt­schafts­wachstum nicht auto­ma­tisch mehr Wohl­fahrt und Lebens­qua­lität schafft. Mani­fest wurde dies auch in der Arbeits­lo­sen­quote, die seit Mitte der 1970er Jahre zunahm, während die Wirt­schaft weiter wuchs – wenn auch deut­lich lang­samer als während des goldenen Zeit­al­ters des Fordismus. Auch mit Blick auf die Zukunft gibt es gute Gründe dafür, zu hinter­fragen, ob quan­ti­ta­tives Wachstum in den nächsten Jahr­zehnten wünschens­wert ist.

Zum einen sind die univer­sellen Vorteile von Wachstum zwei­fel­haft. Eine Viel­zahl an Studien zur Wohlfahrtsökonomie, zur Sozi­al­ge­schichte und zur ökolo­gi­schen Ökonomie zeigen nicht nur, dass der Fokus auf BIP-Wachstum „unser Leben falsch misst“ (so ein berühmtes Buch von Joseph Stig­litz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi). Viel­mehr haben sich die Zweifel an dem fort­dau­ernden posi­tiven Zusam­men­hang zwischen dem weiteren BIP-Wachstum auf der einen Seite, und Wohl­fahrt, Gleich­heit, Vertei­lung, Glück oder Arbeitsplätzen auf der anderen Seite erhärtet. Wie diese Studien zeigen, ist Gleich­heit ab einer gewissen Einkom­mens­schwelle viel entschei­dender für die gesell­schaft­liche Wohl­fahrt als das stei­gende Pro-Kopf-Einkommen. Gerade in den Industrieländern, wo Wohl­fahrt und Lebensqualität seit vierzig Jahren trotz stetigen Wachs­tums stagnieren oder sogar zurückgehen, ist Wachstum so gesehen „unwirt­schaft­lich“ geworden.

Zum anderen sind die expo­nen­tiell anwach­senden sozialen und ökolo­gi­schen Kosten des Wirt­schafts­wachs­tums zu bedenken. Ökono­mi­sche Analysen legen nahe, dass eine gerechte Entwick­lung im globalen Süden bei gleich­zei­tigem Einhalten der plane­taren ökolo­gi­schen Grenzen nur möglich ist, wenn die Länder des Nordens ihren ökolo­gi­schen Fußab­druck dras­tisch redu­zieren. Ob dies möglich ist – beispiels­weise über eine für die Einhal­tung der Klima­ziele notwen­dige Reduk­tion des CO-2-Ausstoßes um 95 Prozent inner­halb der nächsten zwei Jahr­zehnte –, wenn die Ökono­mien der früh­in­dus­tria­li­sierten Länder weiter wachsen, ist ausge­spro­chen frag­würdig. Zwar führen Effi­zi­enz­stei­ge­rungen und die Ener­gie­wende trotz der immer zu beob­ach­tenden „Rebound-Effekte“ (die einen Teil der Einspa­rungen durch Mehr­konsum ausglei­chen) dazu, das mit weniger Mate­ri­al­durch­satz mehr produ­ziert werden kann. Doch diese „Entkopp­lung“ von BIP-Wachstum und Umwelt­ver­brauch – so zeigen neuere Studien – ist viel zu langsam und wird länger­fristig nicht ausrei­chen. Wachs­tums­po­litik ist unstabil und selbst­wi­der­sprüch­lich, da die von ihr geweckten Erwar­tungen nach immer weiter stei­gender mate­ri­eller Produk­tion mit den ökolo­gi­schen Kapa­zi­täten des endli­chen Planeten kolli­dieren. Die ihr zu Grunde liegende Annahme, dass letzt­end­lich alle ihren Anteil an den Vorteilen des Wachs­tums genießen können, wird ange­sichts der ökolo­gi­schen Unmög­lich­keit der Univer­sa­li­sie­rung der gegen­wär­tigen Produktions- und Lebens­weise der reichsten Länder auf die ganze Welt zuneh­mend unglaubwürdig.

Décrois­sance, Degrowth oder Post­wachstum: Unter diesen Namen meldet sich heute eine Wachs­tums­kritik zurück, deren erste Blüte in die 1970er Jahre fiel, Quelle: rethinkingprosperity.org

Vor dem Hinter­grund der aktu­ellen Wachs­tums­krisen ist es paradox, dass der utopi­sche Traum vom Auslaufen des Wachs­tums in den reichsten Ländern, der Keynes in den krisen­ge­schüt­telten 1930er Jahren vorge­schwebt hat, der Gegen­wart als kollek­tiver gesell­schaft­li­cher Alptraum erscheint. Umso wich­tiger ist es, daran zu erin­nern, dass Wachstum nicht das gleiche ist wie Wohl­stand. Die Auflö­sung dieser Gleich­set­zung ist entschei­dend. Sie öffnet den Raum für Denk- und Hand­lungs­per­spek­tiven, die Wohl­stand nicht länger auf Wirt­schafts­wachstum reduzieren.