Das Vokabular der Vulnerabilität ist in pandemischen Zeiten in aller Munde. Am Anfang der Pandemie im März 2020 sagte Angela Merkel in ihrem Amt als Bundeskanzlerin in einer Ansprache: „Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können.“ Damit hatte sie in wenigen Worten das Denken der Verwundbarkeit umrissen: Diese zeigt sich nicht als zeitweiliger Zustand von einigen wenigen Menschen, vielmehrt scheint sie als Verbundenheit aller Menschen auf. Eine Verbundenheit, die uns nicht lähmen, sondern zum solidarischen Handeln anspornen sollte, wie Merkel betont. Neben diesem ethischen und politischen Aufruf, der uns allen gemeinsamen Verwundbarkeit bewusst zu werden, verbreitet sich allerdings auch ein Begriff von Vulnerabilität, der derzeit dazu dient, die Gefährdung verschiedener Gruppen durch SarsCovid19 abzustufen. So erstellte das Robert-Koch-Institut neue Vulnerabilitätskategorien, um das Gesundheitsrisiko durch den Virus akkurat abzuschätzen. Wie verhalten sich die beiden Redeweisen zueinander?
Ein breites Bedeutungsspektrum
Obwohl der Vulnerabilitätsbegriff erst in der pandemischen Krise des 21. Jahrhunderts zum vielzitierten Schlagwort wurde, begann seine Verbreitungsgeschichte bereits im von Weltkriegen und Wirtschaftskrisen erschütterten 20. Jahrhundert. Deshalb vermuten die Herausgeber:innen des Handbuchs Schlüsselwerke der Vulnerabiltätsforschung einen Nahzusammenhang zwischen diesen Kaskaden von Krisen und Katastrophen und der Verbreitung des Vulnerabilitätsvokabulars: „Im vergangenen Jahrhundert rückten Kriege, Terror- und Gewalttaten derart in den Mittelpunkt der Geschichte, dass auch die Perspektiven der Opfer und Leidenden, Fragen der Unsicherheit und des Risikos, Problematiken der Fragilität und Passivität, kurz Dimensionen der Vulnerabilität expliziter wie impliziter Bestandteil unterschiedlicher Theorien und Modelle dieses Jahrhunderts waren.“
Dieses semantische Netz zwischen Leid und Schmerz, zwischen Prekarität und Passivität, das sich um Vulnerabilität aufspannt, zieht sich tief in die Begriffsgeschichte hinein. Vulnerabilität entstammt dem neulateinischen Adjektiv vulnerabilis, abgeleitet vom Verb vulnerare und dem Substantiv vulnus und bezeichnet die Verwundung von Körpern. Inzwischen birgt Vulnerabilität „ein breites Bedeutungsspektrum von Verletzung, Verlust, Kränkung über Schulden hin zu Schlappe, Schlag oder Niederlage“, so die Autor:innen des Vulnerabilitätshandbuchs. Die körperliche Verwundung wird zur Metapher für eine soziale und symbolische Verletzung. Dabei zeigt sich zweierlei. Zum einen ist Vulnerabilität untrennbar mit Verkörperung verbunden. Zum anderen bewegt sich Vulnerabilität offenbar im Wechselspiel zwischen Passivität und Aktivität, des Verletzenswerdens und Verletzens. Das führt zu Fragen der Ungleichheit und Handlungsmacht. Ist Verwundbarkeit unweigerlich mit Ohnmacht verbunden oder gibt es eine Handlungsmacht, die aus dem Verwundbarsein herrührt?
Vulnerabilität und Resilienz
Seit den 1980er Jahren erlebt das Vokabular der Vulnerabilität enormen Aufwind. Als Forschungsterminus etablierte sich der Begriff in der Risiko-, Katastrophen- und Entwicklungsforschung, Wegweisend war die Entitlement-Theorie von Amyarta Sen, in der er anhand einer Hungerkrise aufzeigte, dass diese nicht aus Umweltfaktoren wie Dürre herrührte, sondern aus der Kolonialwirtschaft, die die kommunalen Ökonomien verkümmern ließ, so dass Menschen trotz gefüllter Getreidespeicher verhungerten. In dieser Ausrichtung ergänzte der Begriff der Vulnerabilität die Kategorie der Armut, die bis dahin als alleiniger Erklärungsansatz für strukturellen Ungleichheiten diente, etwa in den entwicklungspolitischen Arbeiten von Robert Chambers Ende der 1980er Jahre. In diesen Forschungsfeldern versteht man mithin unter Vulnerabilität Zustände, die zeitweise auftreten, wie in Risikogebieten, die von Überschwemmungen bedroht sind. Zudem stuft man bestimmte Gruppen als vulnerabel ein, beispielsweise Bewohner:innen eines Risikogebiets, die so prekär leben, dass sie sich kaum vor Gefahren schützen können. Indem sich die ökonomischen und ökologischen Krisenkaskaden beschleunigen, sind entsprechend immer mehr Menschen Lebensrisiken ausgesetzt.
In Zeiten der Coronakrise und der Klimakrise nehmen diese Risiken rasant zu, Vulnerabilität erscheint umso bedrohlicher. Mit Beginn der Pandemie fand daher der Vulnerabilitätsbegriff, wie der Soziologe Stephan Lessenich feststellt, „Eingang […] in die öffentliche Debatte und die politische Sprache“, während er in den Jahren davor „über den Umweg der Popularität seines Schwesterbegriffs – der ‚Resilienz‘ – Verbreitung gefunden“ hatte. Dabei galt Vulnerabilität meist als negative Kehrseite der Resilienz: Um sich aus dem vulnerablen Zustand zu befreien, bedarf es der Resilienz, lautet diese Logik. Als defizitärer Zustand soll Vulnerabilität tunlichst vermieden oder schleunigst überwunden werden, während Resilienz erstrebenswert erscheint.
Schattenseiten der Sorge
Doch in Zeiten der Pandemie verdrängt der Vulnerabilitätsbegriff die Resilienz ein Stück weit, schließlich preisen die pandemiepolitischen Reden nicht Resilienz. Stattdessen weiten sie das Vulnerabilitätsvokabular aus. Die erwähnten Vulnerabilitätskriterien des RKI bedeuten, dass denjenigen, die als vulnerabel ausgemacht werden, besonderer Schutz zuteil werden soll. Eine solche Einordnung als vulnerabel schuf neue Risikogruppen, insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderung, die in Pflegeeinrichtungen leben. Das ist nur naheliegend und sinnvoll, doch der die Schattenseiten von Sorge und Verwundbarkeit aufmerksam. Denn die als vulnerabel und besonders schutzbedürftig eingestuften Gruppen wurden in ungleich höherem Maße ihrer Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit beraubt. Als der erste Lockdown in Deutschland für den Großteil der Gesellschaft längst vorüber war, blieben sie in ihren Einrichtungen isoliert. Zudem zeigte sich, wie in Krisenzeiten sozialdarwinistische Tendenzen in Sorgeökonomien hervortreten – die Zuschreibung als vulnerabel konnte stillschweigend umkippen in eine Markierung von Menschen, für die Sorge sich nicht mehr lohnt. In der ersten Pandemiephase verweigerten man in manchen Einrichtungen die nötige ärztliche Behandlung.
Als Anfang 2021 in Deutschland täglich rund tausend Menschen starben, kam allmählich der Verdacht auf, dass in Pflegeeinrichtungen eine ‚stille‘, versteckte Triage vonstatten gehe. In den Statistiken der Sterbenden waren auffällig wenige Krankenhauseinweisungen von Menschen aus Pflegeeinrichtungen verzeichnet. Vor diesem Hintergrund äußerste Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, die Befürchtung, dass „einer sehr großen Zahl von Covid-19-Patienten in Pflegeeinrichtungen“ die notwendige „stationäre Versorgung in Krankenhäusern versagt wird“. Dieser Verdacht einer stillen Triage verweist in erschreckender Weise darauf, wie die Zuschreibung als vulnerabel, die im Zeichen von Schutz und Sorge erfolgt, die Selbstbestimmung und mitunter auch das Leben der Betroffenen bedrohen kann. Drastisch ausgedrückt: Unter dem Deckmantel von Schutz und Sorge werden Körper als produktiv und weniger produktiv bewertet. Das Verständnis von Vulnerabilität als defizitärer Zustand spielt in diese Bewertungslogik von Körper hinein. Diejenigen, die als vulnerabel ausgemacht werden, spricht man ein Stück weit die Selbstbestimmung ab und schränkt somit ihre Handlungsmacht weiter ein.
In solchen Zuschreibungen spielen Vulnerabilisierung und Viktimisierung ineinander. Das zeigen etwa entwicklungspolitische Reden über vulnerable Frauen im Globalen Süden, Diskussionen über Behinderung oder, um ein tagesaktuelles Beispiel einzubringen, der Aufruf des wiedergewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinermeier, „die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land“ zu achten. Um kurz bei diesem Zitat zu bleiben: Das Wir in Steinmeiers Ausspruch bezieht sich auf die aktiv Schützenden, während die vulnerablen und zu schützenden Menschen als die anderen, als Gruppe am Rande der Gesellschaft erscheinen. In Steinmeiers Aufruf klingt kein solidarisches Wir an wie in der Rede von Angela Merkel, vielmehr offenbart seine paternalistische Rede die Kehrseite von politischen Vulnerabilitätsdiskursen. Während die Politik das Vokabular des Vulnerablen entdeckt, bleibt Verwundbarkeit politisch ungleich verteilt. Die Rede vom Schutz der Verwundbarsten verschleiert diese ungleiche Verteilung von Vulnerabilität. „Souverän ist heute, wer über den Verwundbarkeitszustand entscheidet. Und das sind nicht die Verletzlichen selbst“, so die bittere Bilanz von Stephan Lessenich. Statt Vulnerabilität auf bestimmte Gruppen zu beschränken, schien Merkel in ihrer Ansprache Verwundbarkeit als geteilten Grundzustand anzusprechen, der Sorge und Solidarität einfordert. Solche Worte weisen auf ein völlig verschiedenes Verständnis von Verwundbarkeit.
Verkörperte Verwundbarkeit

Gina Pane, Sentimental action, 1973; Quelle: theblogmagazine.com
In einem weiter gefassten, ontologischen Verständnis bildet Vulnerabilität, wie es sich in der feministischen Philosophie findet, eine Grundbedingung des Lebens. Sie ist weit mehr als ein zeitlich beschränkter Zustand, da wir fortwährend der affektiven und physischen Fürsorge bedürfen. Menschen kommen hilflos zur Welt, sie sind in grundständiger Weise abhängig, wie Judith Butler feststellte. Diese Abhängigkeit und Verwundbarkeit überwinden wir niemals, schließlich bleiben wir stets darauf angewiesen, von anderen gesehen, gehört und anerkannt zu werden, von anderen gepflegt und umsorgt zu werden, wenn wir krank sind oder älter werden. Kurzum, Vulnerabilität stößt uns darauf, dass wir zuallererst soziale und verkörperte Wesen sind. Eben deshalb sind wir unauflöslich aneinander gebunden.

Ulay and Marina Abramovic, Relation in Time, Performance 1977; Quelle: cobosocial.com
Allerdings kann diese Abhängigkeit bedrohlich sein, nicht zuletzt inmitten einer Pandemie, in der Körper einander anstecken und gefährden. Doch in der Pandemie wird Verwundbarkeit auch als Bedürfnis nach Sorge, Solidarität und sozialer Bande spürbar. Denn Vulnerabilität als Grundbedingung menschlichen Daseins geht uns im pandemischen Leben unter die Haut: Wir erleben unsere Abhängigkeit in der schmerzhaften Sehnsucht nach körperlicher, affektiver Nähe; ebenso erleben wir sie im Wissen darum, von anderen abzuhängen, um die Lasten des Alltags zu stemmen oder um unsere kranken Körper zu versorgen.
Verwundbarkeit und Handlungsmacht
Wenn man Verwundbarkeit nicht als defizitären Zustand von spezifischen Subjekten und Gruppen denkt, sondern als Grundbedingung des Lebens begreift, verändert sich das Vokabular. Zumeist wird Vulnerabilität als Antipode zu Autonomie und agency, also Handlungsmacht gesetzt. Dazu lädt ihr semantisches Umfeld von Leiden und Passivität ein. Doch diese Verwendungsweise geht einher mit einer Haltung von oben herab, die Sorge und Schutz aus überlegener Position heraus gewährt oder verweigert. Anscheinend verführt das defizitäre Vulnerabilitätsverständnis dazu, als vulnerabel ausgemachte Gruppen und Subjekte in ihrer Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit zu beschreiben.
Wenn man dagegen Verwundbarkeit ontologisch versteht, als umfassende Grundbedingung des Lebens, löst sich der Gegensatz zwischen Vulnerabilität und Handlungsmacht auf. Anstatt Verwundbarkeit als Gegenpol von Handlungsmacht zu veranschlagen, erweist sie sich als Ermöglichungsbedingung für Handlungsmacht. Judith Butler, Leticia Sabsay und Zeynep Gambetti machen darauf aufmerksam, dass man zahlreiche Proteste als Ausdruck geteilter Verwundbarkeit begreifen kann. Die Beispiele sind mannigfaltig, sie manifestieren sich in all den sozialen Kämpfen, die den gleichen Schutz für alle Körper einfordern. Etwa Black Lives Matter, die aus der geteilten Verwundbarkeit auf die Straße gehen, um sich gegen die rassistische Polizeigewalt zu wehren. Oder Ni Una Menos, die feministische Streikbewegung, die sich gegen geschlechterbasierte Gewalt der Feminizide wenden und aus der geteilten Trauer über die ermordeten Frauen eine transnationale Protestwelle lostraten. Auch klimaaktivistische Proteste werden der Verwundbarkeit gewahr, die sich nicht in menschlichen Beziehungen erschöpft, sondern auch das Verhältnis zur Natur jenseits des Dogmas der Naturbeherrschung begreift. Sie lassen uns gewahr werden, dass wir unauflöslich von unserer Umwelt abhängig sind. In ihrem solidarischen Miteinander entfalten solche Proteste eine kollektive Handlungsmacht, die aus der geteilten Verwundbarkeit herrührt.
Durch die globalen Krisen, die Coronakrise und die Klimakrise, werden Fragen der Verwundbarkeit drängender. Gegenwärtig führt uns die Coronakrise vor Augen, dass „der Wunsch nach Abgrenzung und vollständiger Immunität ebenso wie das daraus resultierende Phantasma der Souveränität, Integrität und Totalität sowohl von Individual- als auch Gesellschaftskörpern“ tatsächlich „niemals zu erreichen ist“, aufgrund der „grundlegenden Abhängigkeit von anderen Körpern, sozialen Einrichtungen und politischen Gemeinschaften“, wie die Philosophin Sonja Gassner anmerkt. Die Pandemie lehrt uns, schreibt auch Sabine Hark, „von der Verwundbarkeit der anderen und nicht von der eigenen Immunität ausgehend zu handeln – eine Verwundbarkeit, die zugleich meine eigene ist –, das ‚Ich, ich, ich‘ also nicht absolutistisch in den Mittelpunkt zu rücken“. Diese Perspektiven, die sich in Zeiten der Pandemie nahezu aufdrängen, zeichnen den Zukunftshorizont einer globalen Gemeinschaft, in der das Gemeinwohl im Mittelpunkt steht, in der Sorge und Solidarität die Bande des Sozialen bilden. Um die kommenden Krisen global und gemeinschaftlich anzugehen, bedarf es einer radikalen Wegwende, weit weg von Wertlogik der produktiven Körper, hin zu einer Wirtschaft und Politik, die den Menschen dient. Vulnerabilität, als geteilte Verwundbarkeit verstanden, geht mit der Forderung einher, die ungleiche Verteilung von Verwundbarkeit vehement anzufechten.