Dass die Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei, ist eine alte Idee. Heute kann jede Partei, jede Bewegung, jede Gruppe und sogar jedes Individuum den Anspruch erheben, mit Volkes Stimme zu reden. Demokratisch ist das nicht.

Dass die Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei (vox populi, vox dei), ist eine alte Idee, die auf das spät­rö­mi­sche und früh­mit­tel­al­ter­liche Denken zurück­geht. Hier meinte sie aber keines­wegs das Volk als poli­ti­schen Kollek­tiv­körper (demos oder civitas), sondern bezog sich auf die einzelne Stimme des einfa­chen Mannes aus dem Volke, auf die Stimme des Plebe­jers. Nicht wegen seiner Macht als Masse, sondern wegen seiner natür­li­chen Unschuld, unbe­rührt von Wissen und Bildung, wurde seiner Stimme eine gött­liche Rein­heit zuge­schrieben, um diese sogleich als zu berück­sich­ti­genden Faktor im poli­ti­schen Kalkül der Mäch­tigen zu behandeln.

George Boas hat in seiner Studie zur Geschichte der „Vox Populi“ bereits 1969 nach­ge­wiesen, dass in ihrer langen Rezep­ti­ons­ge­schichte die Frage, wer genau berech­tigter und plau­si­bler Weise mit der Stimme des Volkes reden darf, bis weit in die Neuzeit hinein wich­tiger war als unsere heutige Vorstel­lung von der Stimme eines demo­kra­ti­schen Gesamt­kol­lek­tivs. Erst in den revo­lu­tio­nären Bewe­gungen des 18. Jahr­hun­derts, in den Konzepten des ‚common sense‘ oder des ‚Tiers état‘, bemühte man sich, die ‚gött­liche Wahr­heit der einfa­chen Stimme‘ zu einer Kollek­tiv­ei­gen­schaft derje­nigen zu erklären, die zur Bildung der neuen Nationen berufen schienen. Seitdem ist der Popu­lismus in der Welt, als Gegen­ge­wicht zum Reprä­sen­ta­ti­vi­täts­prinzip moderner Demo­kra­tien und als Versuch, dem ‚Willen des Volkes‘, verstanden als ange­nom­mener Durch­schnitts­wille der Bevöl­ke­rung, eine Stimme zu geben.

Damit war aber jene Frage nach der Stimme des ‚einfa­chen Mannes‘, indi­vi­duell oder als Typus gedacht, also der ursprüng­liche Sinn der Vox Populi, keines­wegs verschwunden. Viel­mehr haben die modernen Demo­kra­tien dieser Stimme eine eigene Insti­tu­tion gewidmet und ein eigenes soziales Subsystem zuge­wiesen: die Öffent­lich­keit. Sie vermit­telt zwischen dem modernen Souverän, dem Staats­volk, und den gewählten Reprä­sen­tanten seiner Kollek­tiv­macht, die das poli­ti­sche System bilden. Idea­ler­weise arti­ku­lieren sich in dieser Öffent­lich­keit die Inter­essen und Vorhaben beider Seiten, um sie in einem gesell­schaft­li­chen Diskurs­raum für alle sichtbar zu verhan­deln. Die Frage nach Ursprung, Entwick­lung und ‚Struk­tur­wandel‘ dieser Öffent­lich­keit, obgleich heute viel­leicht zu Unrecht von einer allge­meinen Medi­en­theorie verschüttet, soll hier nicht weiter­ver­folgt werden. Wichtig aber ist der Umstand, dass es die Öffent­lich­keit war und ist, in der sich die ursprüng­liche Idee der Vox Populi als der notwendig wahren und quasi-göttlichen Stimme des ‚kleinen und einfa­chen Mannes‘ erhalten hat.

Quelle: youtube.com

So nennt etwa der ameri­ka­ni­sche TV-Journalismus die Einblen­dung kurzer State­ments zufällig ausge­wählter Bürger und Passanten noch heute ‚vox pop‘. Und auch hier­zu­lande gehört es zum jour­na­lis­ti­schen Hand­werks­zeug, ein Ereignis oder ein Thema nicht ohne Berück­sich­ti­gung dessen zu präsen­tieren, was der zufällig befragte, mindes­tens aber ange­nom­mene ‚Normal­bürger‘ dazu sagt und meint. Die deut­sche ‚Bild‘-Zeitung hat aus der Vox Populi sogar ein eigens jour­na­lis­ti­sches Prinzip gemacht. Gerade an ihr aber lässt sich zeigen, dass es hier nicht (oder zumin­dest nicht primär) um Popu­lismus im Sinne der Arti­ku­la­tion einer erho­benen oder ange­nom­menen Durch­schnitts­mei­nung des Volkes geht. Viel­mehr zeichnet sich die Sprache der ‚Bild‘-Zeitung dadurch aus, dass sie weniger die Meinung des Volkes wieder­gibt als die Stimme des Volkes nach­ahmt. Gerade weil sie, oft unter Miss­ach­tung sprach­li­cher Regeln, schreibt wie man im Bus oder in der Gast­stätte redet, konstru­iert und reak­ti­viert sie höchst profes­sio­nell den Zauber der ‚Wahr­heit der einfa­chen Stimme‘.

Nun ist der Jour­na­lismus zur Herstel­lung dieses Zaubers keines­wegs mehr darauf ange­wiesen, Volkes Stimme direkt einzu­holen, sich also tatsäch­lich in Gast­stätten und Bussen umzu­sehen. Viel­mehr standen ihm immer schon die Leser­briefe und stehen ihm in unserem Jahr­hun­dert vor allem die Online-Kommentare als niemals versie­gende Quelle zur Verfü­gung. Hinzu kommen Blogs, Face­book, Youtube, Twitter und ein Dutzend weiterer Kanäle und Portale, die jeden einzelnen befä­higen, seine Meinung im Prinzip öffent­lich kund­zutun. Inzwi­schen ziehen die meisten Jüngeren diese neuen Öffent­lich­keiten den etablierten Medien sogar vor.

Nicht zuletzt dank dieser Verviel­fäl­ti­gung, Frag­men­tie­rung und Ausdif­fe­ren­zie­rung des öffent­li­chen Raums kann heute jede Partei, jede Bewe­gung, jede Gruppe und sogar jedes Indi­vi­duum den Anspruch erheben, mit Volkes Stimme zu reden. Denn genau das haben die meisten dieser neuen, nicht-professionellen Formen des öffent­li­chen Kommen­tars gemeinsam: ihre einfache Stimme – ihren Anspruch, die Dinge beim Namen zu nennen, sie so darzu­stellen, wie sie sind, unver­stellt von Inter­essen und Kalkülen, verstehbar und eindeutig, und je knapper und kürzer desto besser.

Quelle: Spiegel.de

Quelle: Spiegel.de

In diesem Anspruch auf Einfach­heit spie­gelt sich der anti-institutionelle Habitus, den die meisten Formen der digi­talen Welt­kom­men­tie­rung wiederum mit den jüngeren Formen des ‚demo­kra­ti­schen‘ Protests gemeinsam haben. Ob Piraten, Wutbürger, besorgte Bürger oder Patrio­ti­sche Euro­päer, sie alle bean­spru­chen die ‚Stimme des Volkes‘, verstanden gerade nicht als die Stimme der Mehr­heit oder gar eines Konsenses, sondern als die von Natur aus ‚wahre‘ Stimme des einfa­chen Bürgers, abge­löst und weit dies­seits jeder insti­tu­tio­nellen Form der Willens­bil­dung. Inzwi­schen fällt es kaum mehr auf, wenn eine Gruppe von wenigen hundert Demons­tranten ein Schild mit dem Slogan ‚Wir sind das Volk‘ hoch­hält. Denn es ist hier – im Gegen­satz zu den Leip­ziger Montags­de­mons­tra­tionen von 1989 – auch keine Reprä­sen­ta­tion gemeint, sondern das Grund­prinzip der Vox Populi: Weil wir nichts wissen und nichts wissen wollen, sagen wir die Wahr­heit; der ganze Rest ist ‚Lügen­presse‘. Das ‚Volk‘, das hier als solches auftritt, ist voll­ständig und bewusst entpo­li­ti­siert, redu­ziert auf den einfa­chen Bürger, der nichts mit Politik zu tun haben will, eben deshalb aber viel besser weiß, was poli­tisch nottut.

Damit hängt ein weiteres Merkmal zusammen, das die neuen Formen des digi­talen Kommen­tars und des ‚demo­kra­ti­schen‘ Protests gemeinsam haben: Sie reden und agieren im Gestus einer Selbst­er­mäch­ti­gung. Denn es ist nicht nur der gött­liche Wahr­heits­an­spruch der Vox Populi, der sich hier arti­ku­liert, sondern der zusätz­liche Anspruch, es eigent­lich auch besser machen zu können. Daraus leitet sich die popu­läre Annahme ab, es bei den neuen Protesten und vernetzten Bürgern mit neuen Formen der Parti­zi­pa­tion zu tun zu haben. Das scheint aber mindes­tens voreilig ange­sichts der Tatsache, dass die protes­tie­renden und vernetzten Bürger meist bewusst und wieder­holt auf Distanz zu allem gehen, an dem sie parti­zi­pieren könnten. Viel­mehr erwächst der eigene Wahrheits- wie Gestal­tungs­an­spruch gerade aus der betonten Ferne zum poli­ti­schen System. Der heutigen Demo­kratie läuft das Volk gewis­ser­maßen davon. Und wo ein alter­na­tives Programm, wie das der Piraten, parti­zi­pativ am System mitge­stalten will, fällt es auseinander.

Selbst­er­mäch­ti­gung bedeutet also keines­wegs Teil­habe oder gar Macht- und Verant­wor­tungs­über­nahme, sondern die Umfor­mu­lie­rung der eigenen Macht­lo­sig­keit in eine neue, vom Macht­zen­trum weit entfernte Macht­po­si­tion. Darin liegt durchaus ein altehr­wür­diges Moment des Eman­zi­pa­tiven. Immerhin entstand auch histo­risch gerade aus dem Rückzug in vorpo­li­ti­sche Räume, was wir die moderne poli­ti­sche Öffent­lich­keit nennen. In diesem Sinne wird man weder den digi­talen Netz­werken noch den neuen Protesten vorwerfen können, sie unter­grüben die Demo­kratie, allein weil sie sich von deren etablierten Formen und Insti­tu­tionen entfernen.

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Im Gegen­teil: Was sie wirk­lich proble­ma­tisch macht, ist ihr Fest­halten an dem Anspruch, die wahre, die bessere, die eigent­liche Demo­kratie zu reprä­sen­tieren. Denn je weiter sie sich von deren histo­risch gewach­senen Insti­tu­tionen entfernen, desto mehr redu­zieren sie das eigene Demo­kra­tie­ver­ständnis auf das, was nie demo­kra­tisch war: die Vox Populi. Aus der Stimme des Volkes als Souverän machen sie die Stimme des kleinen Bürgers, der es trotzig besser weiß, weil er sich schon längst nicht mehr souverän fühlt. Im Namen und mit der Stimme des Volkes zu reden, wenn enga­gierte und/oder besorgte Bürger ins Netz oder auf die Straße gehen, ist ihr letztes selbst­le­gi­ti­mie­rendes Band zum System, das sie kritisieren.

Dieses Band rück­ver­wan­delt aber nur, was moderne Demo­kratie hieß, in die vorde­mo­kra­ti­sche Idee der Vox Populi. Daher scheint die Entwick­lung neuer Formen des Demo­kra­ti­schen im Kontext der neuen Protest- und Netz­kul­turen nur dort möglich, wo man aufhört, im Namen und mit der Stimme des Volkes zu reden. Warum auch? Woher die Angst vor Parti­ku­lar­in­ter­essen? Woher das Bedürfnis, noch den Schutz eines einzelnen Baumes oder auch die rassis­ti­sche Anfein­dung von Auslän­dern als Ausdruck des Volks­wil­lens hinzu­stellen – und das auch noch erfolg­reich? Hier wird unter der Hand und mit zuneh­mender Mithilfe der etablierten Medien Demo­kratie in der Tat auf die Formel vox populi, vox dei redu­ziert. Der Bezug auf Volkes Stimme scheint heute auf der Straße wie im Feuil­leton die letzte noch reibungslos funk­tio­nie­rende Konsens­form des Demo­kra­ti­schen zu sein.

Dabei ließen sich gerade die neuen Medien und Arti­ku­la­ti­ons­foren nutzen, um den heutigen Zustand der Demo­kratie kritisch zu reflek­tieren, ohne sofort im Namen dieser Demo­kratie oder mit der angeb­lich heiligen Stimme des Volkes zu reden. Das meint keines­wegs einen Eliten­dis­kurs unter Ausschluss der heute so genannten Bildungs­fernen. Viel­mehr geht es um neue Formen einer Bildung, die jene zuneh­mend popu­läre Annahme der Vox Populi-Idee durch­bricht, das Einfache sei das Wahre. Das Forum, in dem der vorlie­gende Text erscheint, könnte ein Anfang dafür sein.