Mensch-Tier-Vergleiche sind wieder in Mode. Können sich durch den Feminismus verunsicherte Männer nicht am kämpferischen Sexualverhalten von Hummern orientieren, um sich wieder zuversichtlich nach sexueller Beute umzusehen? Geniessen nicht auch Eichhörnchen vergorene Früchte, um sich eine schöne Zeit zu machen? Sind nicht dieselben Hormone wie bei allen anderen Säugetieren auch beim Menschen für Paarungsinstinkte, Mütterlichkeit und Fluchtverhalten verantwortlich? Man scheint nur ein wenig von Biologie verstehen und ein paar populärwissenschaftliche Bücher über Evolution gelesen haben zu müssen, dass einem förmlich die Augen aufgehen, wohin man auch schaut: Die alten tierischen Triebe und Verhaltensweisen, die in den Jahrmillionen der Evolution gleichsam antrainiert und genetisch festgelegt wurden, lassen sich unter der dünnen Oberfläche von Kultur und Zivilisation kaum verbergen. Genauer noch, sie scheinen offensichtlich all unser Verhalten zu beherrschen.
Charles Darwin
Seit dem frühen 19. Jahrhundert trugen Biologen immer mehr Belege für Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren zusammen, bis – um die Geschichte ein wenig zu vereinfachen – Charles Darwin 1859 mit seinem epochemachenden Buch The Origins of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life zum ersten Mal eine plausible und zugleich auf einer riesigen Zahl von empirischen Belegen gestützte Theorie der Evolution präsentierte. Mit dem Konzept der „Natural Selection“, d.h. der „Auswahl“ von zufällig besonders gut an ihre Umgebung angepassten und nur insofern „bevorzugten“ Organismen konnte er nachvollziehbar erklären, wie Arten sich im Zeitraum von Jahrmillionen aus Vorgängerformen entwickeln und sich auch ständig verändern. Noch sprach Darwin nicht vom Menschen, sondern beschränkte sich am Schluss seines sechshundertseitigen Buches auf den kleinen – berühmten – Satz „Licht wird fallen auf die Herkunft des Menschen.“ Erst 1871 legte er mit The Descent of Man die Karten offen auf den Tisch: Ja, der Mensch, so schien er zu sagen, stammt vom Affen ab. Ich komme gleich darauf zurück.

Cynopithecus niger, „…when pleased by being caressed“, in: Charles Darwin, The expression of emotions in man and animals, 1872: Quelle: wikimedia.org
Mit anderen Worten: Seit Darwin ist der evolutionäre Zusammenhang zwischen menschlichen und tierischen Organismen als wissenschaftliche Tatsache etabliert und in einer Breite und Tiefe erforscht wie wohl keine andere sonst. Und seither florieren auch immer wieder Theorien und Hypothesen im weiten Feld zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und politischen Ideologien, die das Verhalten ‚des‘ Menschen durch Rückbezüge auf seine Evolution zu erklären versuchen. Denn es scheint so evident zu sein: Hat nicht Darwin schon mit The Expression of Emotion in Man and Animals (1872) die Grundlage für die vergleichende Verhaltensforschung und zudem für die Vermutung gelegt, dass unsere doch so menschlichen Emotionen ganz offensichtliche, uns keineswegs fremde Vorgängerformen bei höheren Tieren finden? Seither hat sich diese Hypothese in der Forschung vielfach bestätigt. Menschen teilen mit Tieren nicht nur die hormonale Ausstattung, die etwa das Paarungsverhalten oder Fluchtreflexe ‚steuern‘; höhere Tiere haben auch kognitive Fähigkeiten und drücken Emotionen aus; sie sind in einem allerdings sehr beschränkten Umfang lernfähig und verfügen zuweilen auch über elementare Formen von Kultur.
Was heisst „Abstammung“?
Kann man also menschliches Verhalten und menschliche Kultur durch die Abstammung des Menschen und damit insgesamt durch Biologie erklären? Nach einer langen Tradition solcher Erklärungsversuche, zu der neben gen- wie auch verhaltensbiologischen Theorien insbesondere der Sozialdarwinismus in seinen vielen Spielarten gehört, ist es heute die sehr einflussreiche Evolutionäre Psychologie, die menschliches Verhalten in einer solchen Weise deutet. Die Anforderungen ans Überleben, mit denen unsere urmenschlichen Vorfahren während Hundertausenden von Jahren konfrontiert waren, hätten dieser Denkschule zufolge unserem Geist, materialisiert in den Gehirnstrukturen und ausgehend von älteren, tierischen Formen, bestimmte Empfindungs-, Reaktions- und Verhaltensroutinen aufgeprägt, die immer noch die Grundlage unseres Sprechens und Handelns darstellen (Barkow/Cosmides/Tooby, The adapted mind. Evolutionary psychology and the generation of culture, New York 1992). Die Evolutionäre Psychologie gibt damit auch eine mögliche Antwort auf das in der Philosophie seit langem verhandelte und als ungelöst geltende „mind/brain“-Problem: Wie muss man sich vorstellen bzw. kann man erklären, dass aus biochemisch, physiologisch und morphologisch beschreibbaren Hirnstrukturen so etwas wie „Geist“ (mind) und damit auch Kultur entsteht? Ihre Antwort lautet, grob gesagt: letztlich durch die „Verkörperung“ von evolutionär „gelernten“ Wahrnehmungs- und Verhaltensroutinen im Gehirn (was das mind/brain-Problem allerdings auch nicht löst, sondern es nur gleichsam zeitlich in die Länge zieht).
An diesem Punkt sind nun grundsätzliche Zweifel anzumelden, ja muss entschiedener Widerspruch eingelegt werden. Denn was ist falsch an solchen Erklärungsansätzen, die in ihrem überzogenen Deutungsanspruch nicht mehr Biologie, sondern Biologismus genannt werden müssen und damit Formen von Ideologie sind? Eine erste Antwort stammt von Darwin selbst und berührt damit ein sehr grundlegendes Missverständnis vieler Darwin-Lektüren und -Rezeptionen. Es geht um die Frage, was „Abstammung“ bedeute, und damit verbunden: was „Genealogie“ sei, als die Darwin sein Verfahren zur Rekonstruktion der biologischen Abstammungslinien bezeichnete. Darwins fundamentale Provokation bestand nicht primär darin zu behaupten, dass ‚der Mensch vom Affen abstammt‘. Viel verstörender war, dass seine Theorie der „natural selection“ zeigte, dass es so etwas wie stabile Arten gar nicht geben kann. Arten (species) entwickeln sich vielmehr im Laufe von sehr langen Zeiträumen aus älteren Formen und verändern sich laufend evolutionär weiter. Daher gibt es keinen stabilen, der evolutionären Veränderung enthobenen ‚Wesenskern‘ der Mücke, des Löwen oder des Menschen. Alle diese Formen haben sich – Darwin betont es unaufhörlich, und die moderne Biologie kann ihm nur beipflichten – zufällig, richtungslos und in unendlich vielen Varianten auseinander heraus entwickelt. Die deutlich antichristliche, antimetaphysische Pointe dabei war: Bei all diesen Entwicklungen gebe es keinen Ursprung, geschweige denn eine Schöpfung, in dem schon das ‚Wesen‘ aller künftigen Organismen angelegt gewesen wäre.
Abstammung bedeutet daher, folgt man Darwin, gerade nicht, dass in älteren Formen – etwa Hummern oder Schimpansen – die verborgene, seither festliegende Wahrheit der Verhaltensweisen jüngerer Formen – etwa des Menschen – zu entziffern wäre. Abgesehen von der unlösbaren Frage, welche Organismen wir denn als Ausgangspunkt, als Ursprung einer solchen Abstammungsreihe wählen sollen (und warum nicht jene anderen, die ein paar Evolutionsstufen davor existiert haben…?), ist jede Suche nach Ähnlichkeiten laut Darwin nicht viel mehr als ein Herumtappen in einem Spiegelkabinett. In Bezug auf die berühmte Abstammung des Menschen vom Affen schrieb er in diesem Sinne (man muss das genau lesen):
Und da der Mensch von dem genealogischen Standpunkte aus zu dem Stamm der catarhinen oder altweltlichen Formen gehört, so müssen wir schliessen, wie sehr sich auch unser Stolz gegen diesen Schluss empören mag, dass unsere frühen Urerzeuger wahrscheinlich in dieser Weise bezeichnet worden wären. Wir dürfen aber nicht in den Irrthum verfallen, etwa anzunehmen, dass der frühere Urerzeuger des ganzen Stammes der Simiaden [=anthropoiden Affen], mit Einschluss des Menschen, mit irgend einem jetzt existierenden Affen identisch oder ihm auch nur sehr ähnlich gewesen sei. – Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, 1871
Nicht einmal die Affen gleichen, so Darwin, ihren affenähnlichen Vorfahren, geschweige denn der Mensch… Das Argument ist grundsätzlich: Herkunft, Abstammung bedeuten nicht, dass in heutigen Formen wie insbesondere dem Menschen und seinem Verhalten die tiefen Wahrheiten seiner fernen Ursprünge zu entziffern wären – oder umgekehrt, dass man mit Blick auf diese sehr fernen Verwandten menschliches Verhalten und Denken erklären könnte.
Die Funktion der Sprache
Allein, so möchte man einwenden, zeigen denn– abgesehen von den vielen genetischen, physiologischen und morphologischen Parallelen – nicht gerade die bei Menschen und höheren Tieren augenscheinlich ähnlichen Ausdrucksformen von Emotionen, dass da doch eine Verbindung besteht…? Zweifellos – das genealogische Argument Darwins (und späterer genealogischer Denker wie namentlich Nietzsche oder Foucault) besteht aber wie gesagt gerade darin, dass aus all diesen historischen Verbindungslinien und ‚Herkünften‘ sich kein stabiles, schon im angeblichen Ursprung gegebenes Wesen, und keine überzeitliche Wahrheit etwa ‚des‘ menschlichen Verhaltens überhaupt ableiten lässt. Doch das ist nur der eine Punkt, der einen entschiedenen Widerspruch gegen den Biologismus rechtfertigt. Der andere bezieht sich, wie könnte es anders sein, auf das Phänomen der Sprache. Zwar verfügen auch Tiere über mehr oder weniger differenzierte Formen der Kommunikation. Aber die menschlichen Sprachen unterscheiden sich davon in einem entscheidenden Punkt: Sie basieren auf arbiträren Laut- oder Schrift-Zeichen. Arbiträr heisst, dass sie keinerlei Abbildungsverhältnis oder sonstige Verwandtschaft mit dem von ihnen Bezeichneten aufweisen: Die Laut- wie auch Zeichenfolge „Haus“ hat nichts mit solchen speziellen gedeckten Strukturen mit vier Wänden zu tun, und man kann diese auch ohne Not als „maison“ oder „casa“ bezeichnen, oder natürlich auch als „Gebäude“.
Was hat das nun mit der Evolution und unseren Körpern bzw. unseren Gehirnen zu tun? Eine sehr grundsätzliche Antwort auf diese Frage hat schon am Anfang des 19. Jahrhunderts der französische „Medizinphilosoph“ (wie man damals sagte) George Cabanis gegeben. Er diskutierte in seinem Buch Rapports du physique et du moral de l’homme (1802) die damals dominante Vorstellung des mind/brain-Problems, nämlich, dass sich das Bewusstsein des Menschen aus den Sinneseindrücken aufbaut, die man als äussere Empfindung oder als innerer Reiz empfängt. Das, was man sieht, hört und fühlt, führe dieser „sensualistischen“ Theorie zu Folge zum Bewusstsein, d.h. zum Geist. Cabanis widerspricht dem nicht grundsätzlich – Menschen haben tatsächlich Empfindungen, die ihr Bewusstsein wecken, beeinflussen oder verändern. Aber er erweiterte oder ergänzte sie um ein Argument, das die Basis aller Kulturtheorie ist (ohne dass diese sich, hélas, noch an ihn erinnert): Cabanis behauptete, dass „man die Empfindungen nur unterscheiden und vergleichen kann, wenn man ihnen Zeichen anheftet, die sie repräsentieren und charakterisieren: Man vergleicht sie nur, indem man sie durch Zeichen repräsentiert oder charakterisiert, entweder in ihren Beziehungen oder in ihren Differenzen.“ Cabanis leitete daraus ab, „dass man keineswegs ohne die Hilfe von Sprachen denkt“; Sprache hatte dabei die weite Bedeutung, ein „methodisches System der Zeichen“ zu sein, „durch die man seine eigenen Empfindungen festhält”.

Babylonische Schrifttafel mit Keilschrift, ca. 2000 v. Chr.; Quelle: zeno.org
Jedes denkbare „System der Zeichen“, das unsere Empfindungen ausdrückt, tut zwei Dinge: Erstens reduziert es diese körperlichen Empfindungen auf das in diesem kulturellen System Ausdrückbare – ein Umstand, an dem etwa alle Liebesschwüre immer scheitern… Und zweitens wird alles, was wir sagen und tun, ja vielleicht sogar tatsächlich auch alles, was wir denken, der Logik dieser Sprache, der Logik eines arbiträren Zeichensystems unterworfen. Damit ist wiederum zweierlei gesagt: Erstens, das Denken und Handeln von Menschen leitet sich in keinem Fall irgendwie ‚direkt‘ aus der Biologie ab, sondern wird, auch wenn ein Hormon uns zu etwas ‚drängt‘, immer durch diese Zeichensysteme geformt (zweifellos, es gibt von dieser Regel Ausnahmen, wie etwa Fluchtreflexe – und nein, der Sex gehört nicht zu diesen Ausnahmen).
Zweitens: Das Denken und Handeln von Menschen ist unendlich viel vielfältiger, als es seine biologischen Möglichkeiten, Bedingungen und evolutionär erworbenen Eigenschaften nahelegen würden, und zwar genau deshalb, weil es durch die riesige Vielfalt arbiträrer Zeichensysteme, ihrer unendlichen Kombinationsmöglichkeiten und ihrer Differenzen erst so komplex wird. Zweifellos ist Cabanis‘ Formulierung, dass wir den körperlichen Empfindungen Zeichen „anheften“, auch nur eine Metapher, die das mind/brain-Problem nicht einfach mit einem Federstrich löst. Aber die Idee ist unhintergehbar: Weil Menschen Zeichensysteme hervorgebracht haben (deren Evolution nochmals eine andere Frage wäre), können sie in einer Vielfalt und Komplexität denken, sprechen und handeln, die Tieren unerreichbar ist. Und deshalb ist der Kosmos menschlicher Verhaltensweisen auch nicht auf die hormonelle ‚Steuerung‘ von Paarungsverhalten, Nahrungstrieb, Brutpflege und Fluchtreflexe reduzierbar. Das ist eigentlich naheliegend, offenkundig, ja ganz einfach zu verstehen. Das Gegenteil zu behaupten, wäre in der Tat Biologismus, auch wenn er sich den Anschein avancierter Wissenschaftlichkeit gibt.