Der Psychologe Jordan Peterson gehört im Internet zu den populärsten Vertretern des „Klassischen Liberalismus“, der sich die Verteidigung der Meinungsfreiheit auf die Fahne geschrieben hat. Doch seine hunderttausendfach geklickten Vorlesungen und Interviews zeigen ein fragwürdiges Verständnis des politischen Debattierens.

  • Maurice Weller

    Maurice Weller studiert Philosophie und Medienwissenschaften in Basel.

Bis vor kurzem war er ein weit­ge­hend unbe­kannter Psycho­lo­gie­pro­fessor aus Toronto. Nun gehört Jordan Peterson zu den bekann­testen Intel­lek­tu­ellen im Internet. Über eine Million Menschen folgen ihm auf YouTube und mehr als 650.000 auf Twitter. Diese Bekannt­heit erlangte Peterson vor allem durch seinen Wider­stand gegen das kana­di­sche Gesetz «Bill C-16», welches im Juni 2017 zur Liste verbo­tener Diskri­mi­nie­rungs­gründe in der kana­di­schen Menschen­rechts­er­klä­rung die Punkte Geschlechts­iden­tität und „Geschlechts­aus­druck“ („gender iden­tity or expres­sion“) hinzu­fügte. In der Debatte um dieses Gesetz äusserte Peterson Bedenken darüber, dass er als Professor gezwungen werden könnte, seine Studenten mit den von ihnen bevor­zugten Perso­nal­pro­nomen anzu­spre­chen. Einige Inhalte seiner Vorle­sungen würden womög­lich illegal werden. Dadurch sah er die Meinungs­frei­heit gefährdet. 

Vor allem die Videos seiner hitzigen Diskus­sionen mit Studie­renden auf dem Campus der Univer­sität von Toronto verbrei­teten sich im Netz. Eines davon hat inzwi­schen über 3,6 Millionen Aufrufe. Darin agiert Peterson nüchtern-argumentativ, offen und gesprächs­be­reit, wenn ihm emotio­nale Studen­tinnen und Studenten Trans­phobie vorwerfen. Während die von ihm vorge­tra­genen Bedenken von den meisten Juris­tinnen und Juristen als abwe­gige Fehl­aus­le­gungen des Gesetzes betrachtet werden, insze­niert sich Peterson als renom­mierter konser­va­tiver Professor und Intel­lek­tu­eller, gegen dessen Argu­mente seine Gegner nichts anderes als üble Beschimp­fungen vorzu­weisen hätten. In dieser Weise ist Jordan Peterson zu einem der bekann­testen Vertreter der soge­nannten „Clas­sical Libe­rals“ geworden, die derzeit beson­ders laut­stark die Einhal­tung klas­si­scher libe­raler Werte wie freien öffent­li­chen Diskurs und ratio­nale Argu­men­ta­tion einfor­dern. Doch handelt es bei Peterson tatsäch­lich um einen kriti­schen Denker, der mit seinen kontro­versen Thesen die Meinungs­frei­heit verteidigt?

„Post­mo­derne Marxisten“ und „maois­ti­sche Feministinnen“

Peterson-Meme „So you are saying…“; Quelle: medium.com

Zumin­dest gründet der Erfolg von Jordan Peterson stark auf diesem Bild. Als konser­va­tiver Rebell gegen die Ausschwei­fungen von „poli­ti­scher Korrekt­heit“ und „Gender-Ideologie“ vermarktet er sich im Netz. Die Zahl seiner Unter­stützer auf der Crowdfunding-Plattform Patreon steigt, wodurch er inzwi­schen über 80.000 Dollar monat­lich verdient. Er tritt in allen mögli­chen Podcasts, Shows und Sendungen auf, um seine Ansichten zu vertreten. Beson­ders populär wurde ein Inter­view von Cathy Newman mit inzwi­schen über 9,5 Millionen Aufrufen auf YouTube, in dem die schlecht vorbe­rei­tete Jour­na­listin mit ihrem Versuch schei­tert, Peter­sons Bigot­terie zu über­führen. Newmans erfolg­lose Versuche, ihren Gast auf bestimmte seiner sexis­ti­schen Auffas­sungen fest­zu­na­geln, sind inzwi­schen zum Meme geworden („so you are saying: …“).

Seine Popu­la­rität verdankt der Psycho­lo­gie­pro­fessor jedoch auch seinen Selbst­hil­fe­tipps, die er eben­falls auf unter­schied­li­chen Kanälen verbreitet. Beliebt ist er insbe­son­dere bei jungen Männern, die nach Orien­tie­rung im Leben suchen. Für sie präsen­tiert sich Peterson als Vater­figur, die ihnen Eigen­ver­ant­wor­tung beibringt, etwa ihr Zimmer aufzu­räumen. Auch sein neues Buch 12 Rules for Life – An Anti­dote to Chaos ist ein Selbst­hil­fe­bu­chund ein Best­seller. Die 12 Regeln, die er darin aufstellt, erscheinen unver­fäng­lich. Es handelt sich um gängige Plat­ti­tüden wie etwa: „steh aufrecht“, „sag die Wahr­heit“ oder „sei präzise in Deinen Äusserungen“. 

Schaut man sich die zahl­rei­chen Texte, Inter­views und Vorle­sungen genauer an, stösst man auf mancherlei obskure Ansichten. Konzepte wie „White Privi­lege“ seien „Lügen“, so Peterson, die von „post­mo­dernen Marxisten“ wie Foucault oder Derrida entwi­ckelt worden seien. Diese hätten sich gegen die west­liche Zivi­li­sa­tion verschworen und durch die „Infil­trie­rung“ von Univer­si­täten die gesamte Gesell­schaft bis hin zu den Kinder­gärten korrum­piert. Fächer wie beispiels­weise Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Sozio­logie, Anthro­po­logie und Pädagogik müssten von diesem Einfluss gesäu­bert werden oder gehörten abge­schafft. Femi­nis­ti­sche Akti­vis­tinnen und Akti­visten vergleicht er mit Anhän­gern Maos. Disney­filme, wie etwa „Frozen“, betrachtet er als Teil einer umfas­senden poli­ti­schen Propaganda.

Der Mensch als Hummer

Jordan Peterson; Quelle: sott.net

Auch das vermeint­lich unver­fäng­liche Selbst­hil­fe­buch steckt voller welt­an­schau­li­cher Absur­di­täten. Peterson beschreibt darin das Verhalten von Hummern als Alle­gorie für mensch­li­ches Sozi­al­ver­halten: Hummer nämlich kämpften beständig um ihr Terri­to­rium. Ob ein Hummer in einem solchen Kampf gewinnt oder verliert, hätte Einfluss auf seine Gehirn­struktur und dadurch entstünde eine stabile hier­ar­chi­sche Struktur. Weib­liche Hummer schliess­lich paarten sich mit den domi­nanten Gewin­nern. Nicht nur das Verhalten der Tiere, sondern auch deren Gehirn- und Hormon­struktur sei auf Menschen über­tragbar. Auf den darauf­fol­genden Seiten beschäf­tigt sich Peterson dann mit der Evolu­ti­ons­theorie, welche er mit seinen vorhe­rigen Darle­gungen über mensch­li­ches Verhalten (bezie­hungs­weise dem von Hummern) verknüpft und auf den Faktor der Perma­nenz hier­ar­chi­scher Struk­turen reduziert:

It does not matter, whether a feature is physical and biolo­gical, or social and cultural. All that matters from a Darwi­nian perspec­tive is perma­nence – and the domi­nance hier­archy, however social or cultural it might appear, has been around for some half a billion years. It’s perma­nent.

So unpo­li­tisch Peter­sons Selbst­hil­fe­tipps erscheinen mögen, so steckt in ihnen dennoch eine zutiefst biolo­gis­ti­sche und sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Welt­sicht, die sich in der Forde­rung an seine Leser bündelt, sich das Verhalten von Hummern zum Vorbild zu nehmen: „Look for your inspi­ra­tion to the victo­rious lobster, with its 350 million years of prac­tical wisdom. Stand up straight with your shoulders back.“

„Clas­sical Liberals“

Ob solcher Thesen wird Peterson, der sich als Psycho­loge auch mit tota­li­tären Ideo­lo­gien befasst und häufig vor diesen warnt, auch von der Alt-Right Bewe­gung gefeiert. In der Kritik des Profes­sors an „post­mo­dernen Marxisten“ finden die Rechts­ra­di­kalen ihre anti­se­mi­ti­sche Verschwö­rungs­theorie von „jüdi­schen Kultur­mar­xisten“ (gemeint ist in der Regel die Frank­furter Schule) bestä­tigt. Peterson möchte mit der radi­kalen Rechten, auf deren Kanälen er öfter auftritt, aller­dings keines­falls asso­zi­iert werden. Als der renom­mierte Schrift­steller und Essayist Pankaj Mishra in einer Rezen­sion von 12 Rules of Life in der New York Review of Books beim Autoren Züge von faschis­ti­schem Mysti­zismus entdeckte, nannte Peterson ihn daraufhin auf Twitter einen „arro­ganten rassis­ti­schen Huren­sohn“, den er „gerne ins Gesicht schlagen“ würde.

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„Rubin report“, 2016; Quelle: ora.tv/rubinreport

Sich selbst bezeichnet Peterson als klas­si­schen libe­ralen Indi­vi­dua­listen. Das macht ihn zum Aushän­ge­schild einer sich im Netz neufor­mierten poli­ti­schen Bewe­gung, die sich selbst als „Klas­si­sche Libe­rale“ (Clas­sical Libe­rals) und als „die neue Mitte“ (the new Center) verstanden wissen möchte. Zu deren Spre­chern lassen sich neben Peterson etwa Dave Rubin, Ben Shapiro, Eric Wein­stein, Sam Harris, Lindsay Shep­herd, Ayaan Hirsi Ali, Gad Saad, Carl Benjamin und Joe Rogan zählen. Unter den Anhän­gern finden sich viele ehema­lige Unter­stützer der „New Atheism“ Bewe­gung, die sich erstaun­lich wenig an Peter­sons Hang zum Reli­giösen stören. Sie verstehen sich als Teil eines „intel­lek­tu­ellen Dark Web“, wo Debatten über „gefähr­liche Ideen“ geführt werden, die der Main­stream verwei­gere. Das selbst­er­klärte Haupt­an­liegen der Bewe­gung, die in erster Linie liber­täre, neokon­ser­va­tive und anti­fe­mi­nis­ti­sche Stand­punkte vertritt, ist vor allem eines: Die Vertei­di­gung von Univer­sa­lismus, Wissen­schaft, Indi­vi­dua­lismus, Diskurs und Meinungs­frei­heit, also klas­si­sche, konsens­fä­hige libe­rale Werte.

Mit den hinter diesen Begriffen stehenden Ideen hat die „Battle of Ideas“ jedoch wenig zu tun. Für Jordan Peter­sons etwa ist eine Behaup­tung – in Anschluss an seine darwi­nis­ti­schen Ansichten – dann wahr, wenn sie dem Über­leben dient. Deswegen sei das Chris­tentum wahr. Wahr ist, was auch immer sich in der Schlacht behauptet – ein direk­terer Gegen­satz zu den libe­ralen Ideen der freien Rede und von öffent­li­chen Debatten ließe sich wohl kaum finden.

Mit Rechten reden, Linke karikieren

Im Konkreten zeigt sich die eigent­liche poli­ti­sche Haltung der „klas­si­schen Libe­ralen“ im ungleich­ge­wich­tigen Umgang mit Rechten und Linken. Letz­tere bildet das geteilte Feind­bild der neuen Bewe­gung, die sich dem Kampf gegen eine „inqui­si­to­ri­sche“, „post­mo­derne“ und „regres­sive“ Linke verschrieben hat, welche vor allem an Univer­si­täten und in den Medien verortet wird. Insbe­son­dere progres­sive Studenten werden mit diffa­mie­renden Kampf­be­griffen wie „SJW’s“ (Social Justice Warriors) oder „Special Snow­flakes“ als narziss­tisch, über­emp­find­lich, emotional und hyste­risch kari­kiert. Sie könnten nicht mit Kritik umgehen, verwei­gerten den Diskurs, würden weisse Männer dämo­ni­sieren, vertei­digten den Islam, igno­rierten biolo­gi­sche Fakten und seien zudem unfähig zu einer poli­ti­schen Debatte, ohne ihre Gegner als Rassisten abzu­stem­peln. Links­sein gilt der Bewe­gung ironisch als eine Geis­tes­krank­heit (mental disorder).

Mit den Gegnern des Libe­ra­lismus von rechts hat der neue „klas­si­sche Libe­ra­lismus“ hingegen keine Berüh­rungs­ängste. Diese gilt es gemäss libe­raler Ideale im offenen Diskurs mit Argu­menten zu besiegen. Wenn etwa der liber­täre Alt-Right Blogger Stefan Moly­neux in einem Gespräch „über Rasse und IQ“ bei Dave Rubins Talk­show „Rubin Report“ sein Buch bewirbt und erklärt, die Wissen­schaft zeige, dass Schwarze klei­nere Gehirne hätten als Weisse, sitzt der „klas­sisch libe­rale“ Mode­rator zustim­mend daneben und fährt fort, ohne je eine These seines Gastes in Frage zu stellen. Die Zuschauer sollen sich schliess­lich ihre eigene Meinung bilden. In einem anderen Gespräch mit Moly­neux offen­bart sich Peterson als ein Anhänger derselben rassis­ti­schen Pseu­do­wis­sen­schaft. Nach einer wissen­schaft­li­chen Einord­nung Molyneux’s sucht man bei „Rubin Report“ hingegen verge­bens. Das von Peterson und Rubin bean­spruchte Ziel, die Anhänger der Alt-Right-Bewegung von dieser abzu­bringen, lässt sich mit dieser Stra­tegie sicher nicht erreichen.

Die Zukunft der libe­ralen Demokratie

Jordan Peterson und die „klas­si­schen Libe­ralen“ sind einfluss­reiche Stich­wort­geber öffent­li­cher Debatten geworden. Man findet ihre Schlag­worte und Argu­men­ta­ti­ons­muster inzwi­schen auch in der Schweiz. In allen west­li­chen Demo­kra­tien gibt es zur Zeit notwen­dige Diskus­sionen darüber, was Libe­ra­lismus und Meinungs­frei­heit bedeuten. Diese Debatten dürfen jedoch nicht beim Beschwören von Schlag­wör­tern stehen bleiben. Erst in der Frage, welche konkreten Formen des öffent­li­chen Spre­chens und des zivi­li­sierten Strei­tens aus den Grund­be­griffen des Libe­ra­lismus abge­leitet werden, zeigt sich, wer diesen Idealen gerecht wird. Es steht zu befürchten, dass gerade dieje­nigen, die sich derzeit so laut­stark als Vertei­diger klas­si­scher libe­raler Werte verkaufen, zur Abschaf­fung eben dieser Werte beitragen.