Ein präzedenzloser Protest hält Kolumbien seit Tagen fest im Griff. Tausende Menschen gehen gegen die Regierung von Iván Duque auf Straße. Die von Studierenden und Gewerkschaften angeführte Protestbewegung verlangt vor allem die Rücknahme angekündigter Renten- und Sozialreformen, aber auch Investitionen in das marode Bildungssystem des Landes. Wenig Aufmerksamkeit hierzulande hat bisher gefunden, dass auch die Umsetzung des Friedensabkommens mit der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) zu den wichtigen Forderungen der Demonstranten gehört. Dieses wurde von Beginn an durch die derzeitige Regierungspartei torpediert und droht angesichts einer Wiederbewaffnung von Teilen der FARC endgültig zu scheitern.
Ein langer Konflikt
Die von Oktober 2012 bis September 2016 dauernden Friedensverhandlungen zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung waren bereits der vierte Versuch in der Geschichte des Landes, den bewaffneten Konflikt durch Dialog zu beenden.

Die Ermordung des liberalen Führers Jorge Eliecer Gaitán in Bogota am 9. April 1948 durch eine Bombe markiert den Anfang der „Violencia“ in Kolumbien; Quelle: uniminutoradio.com.co
Die Anfänge dieses Konfliktes reichen bis in die 1950er Jahre zurück, als sich die liberale und die konservative Partei in der Zeit der sogenannten „Violencia“ mit brutaler Gewalt bekämpften. Zehntausende Zivilisten fielen den heftigen Kämpfen, Massakern und Überfällen unterschiedlicher Gruppen zum Opfer, die erst endeten, als sich Liberale und Konservative auf die Teilung der politischen Macht einigen konnten. Dies befriedete den Konflikt, versperrte aber zugleich den kommunistischen Guerillagruppen, die während der „Violencia“ entstanden waren, für Jahrzehnte faktisch jegliche Möglichkeit einer legalen politischen Opposition – einer der Gründe, warum sie den Weg des bewaffneten Widerstands wählten und sich 1964 mehrere dieser Gruppen in der FARC zusammenschlossen. Diese finanzierte ihren Kampf zunächst durch Entführungen und Erpressungen der lokalen Eliten, später vermehrt durch die Erhebung von Steuern und den aufkommenden Drogenhandel.
Der kolumbianische Staat reagierte auf die Forderungen der Guerillagruppen nach politischer Teilhabe von Beginn an mit Repression, Gewalt und der Unterminierung der schon damals prekären Rechtstaatlichkeit. Trotz allem gelang es dem Staat nicht, die Ausbreitung der Guerilla zu verhindern. Vor allem in den ländlichen Regionen wurde die FARC allmählich zu einer alternativen Ordnungsmacht. Zu ihrer Bekämpfung setzte die Regierung seit den 1980er Jahren schließlich paramilitärische Gruppen ein, die sich aus finanziellen Interessen am Drogenhandel beteiligten und Allianzen mit den an Macht gewinnenden Kokakartellen eingingen. Die als »Selbstverteidigungsgruppen« bezeichneten Einheiten agierten zusammen mit den regulären Streitkräften, häufig unterstützt durch Eliten und Unternehmer. Die einfache Zivilbevölkerung wurde hingegen von Militär und Paramilitärs vielfach als Feind deklariert und bekämpft, weil ihr die Kooperation mit der Guerilla unterstellt wurde.
Friedensverhandlungen
Angesichts der langen und komplizierten Geschichte des Konfliktes standen die 2012 begonnenen Friedensverhandlungen vor großen Herausforderungen. Sie drehten sich insbesondere um vier strittige Punkte: Erstens ging es um eine Agrarreform, die den Zugang zu Land für weite Teile der Bevölkerung verbessern sollte; es handelte sich um eine Urforderung der FARC und zugleich die Hauptursache des Konflikts. Kolumbien ist – bezogen auf die Verteilung von Einkommen und Landbesitz – eines der ungleichsten Länder der Welt: 1% der Bevölkerung verfügt über 20% des Volkseinkommens; 1% der größten Grundstücke nehmen 81% der produktiven Fläche des Landes ein. Der schließlich gefundene Kompromiss umfasste unter anderem einen Fond über 3 Millionen Hektar Land für besitzlose Bauern sowie Subventionen und Infrastrukturinvestitionen.
Zweitens drehten sich die Verhandlungen um die Möglichkeit der politischen Partizipation ehemaliger Guerilleros, ebenfalls eines der wesentlichen Ziele der FARC. Dieser Punkt betraf vor allem Sicherheitsgarantien für demobilisierte Kämpfer, denn schon einmal war eine politische Partei nach Friedensverhandlungen aus der Guerilla hervorgegangen und daraufhin massiv bekämpft worden: In den 1980er und 1990er Jahren beliefen sich die als „politischer Genozid“ an der Unión Patriótica bekannten Ermordungen und Massaker auf mehr als 6.000 Opfer, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.

Die Überreste von neun Opfern des Massakers von El Salado, das von Paramilitärs der Region Los Montes de María während mehrerer Tage im Februar 2000 begangen wurde, werden aus einem Massengrab für ein christliches Begräbnis übergeben. Foto: César Romero.
Drittens einigte man sich auf das Ziel, den Drogenanbau, eine der wichtigsten Finanzierungsquellen der FARC, durch legale Pflanzen zu ersetzen, um den nach wie vor aktiven Drogenkartellen die wirtschaftliche Basis zu entziehen. Zu diesem Zweck sollte den Kleinbauern eine alternative Perspektive angeboten werden. Der mit Abstand strittigste Punkt betraf schließlich viertens die juristische Aufarbeitung der Taten der Konfliktakteure und die Wiedergutmachung der Opfer. Hier standen sich lange Zeit scheinbar unversöhnliche Positionen gegenüber: das Straf- und Wiedergutmachungsbedürfnis des kolumbianischen Staates (und weiter Teile der Bevölkerung) auf der einen Seite, der Widerstand der Guerilla, die sich als politischer Akteur der Strafjustiz des Feindes nicht unterwerfen wollte, auf der anderen Seite.
Vor allem der letzte Punkt wurde während der in Havanna geführten Friedensverhandlungen in Kolumbien sehr kontrovers diskutiert und gab den Gegnern des Friedensprozesses Aufwind. Mit dem ehemaligen Präsidenten und derzeitigen Senator, Álvaro Uribe, an der Spitze, wurde Stimmung gegen das noch nicht beschlossene Abkommen gemacht: Die FARC Guerilleros seien und blieben Terroristen, das Leid der Opfer, die es in beinahe jeder Familie gebe, werde verharmlost, und es drohe ein Abstieg wie im Nachbarland Venezuela, hieß es.
Der erste Versuch der juristischen Aufarbeitung des Konflikts
Es war allerdings nicht das erste Mal, dass die kolumbianische Gesellschaft sich an der Frage der Bestrafung von Konfliktakteuren spaltete: Gut zehn Jahre zuvor hatte sich die Regierung Uribe nach zweijährigen Verhandlungen mit den paramilitärischen Gruppen auf deren Demobilisierung geeinigt; außerdem sollten deren Verbrechen im Rahmen einer „Gerechtigkeit und Frieden“ genannten Sondergerichtsbarkeit justiziell aufgearbeitet werden. 2005 nahm diese Sondergerichtsbarkeit ihre Arbeit auf, außerhalb der ordentlichen Justiz. 31.000 mutmaßliche Paramilitärs legten angeblich in diesem Zusammenhang die Waffen nieder. Jahre später wurde jedoch aufgedeckt, dass von den am Verfahren teilnehmenden Personen lediglich die Hälfte, ca. 16.000, tatsächlich den bewaffneten Gruppen angehörten. Die andere Hälfte waren Kleinkriminelle und Zivilisten, die von den monetären und juristischen Begünstigungen der Demobilisierung profitieren wollten. Sie wurden kurzfristig rekrutiert, um mehr Truppenstärke zu suggerieren und so in den Verhandlungen mit der Regierung eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen.
Ein wesentlicher Baustein dieser gerichtlichen Aufarbeitung war die sog. pena alternativa gewesen, eine im Vergleich zur regulären Strafe deutlich gemilderte Freiheitsstrafe von bis zu acht Jahren. Wer Zugang zum Sonderverfahren hatte und somit zur milderen »alternativen« Strafe, wurde in vielen Fällen politisch entschieden, was auf viel Kritik stieß. Das gesamte Verfahren drehte sich hauptsächlich um die Aussagen der Paramilitärs. Wer auch nur irgendeine Tat gestand, der kam so gut wie sicher in den Genuss der begehrten „alternativen“ Strafe. Der ganze Prozess zeichnete sich durch zahlreiche Improvisationen und logistische Probleme aus, die dem Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, auf das sich der ganze Transitionsprozess eigentlich stützen sollte, zuwiderliefen. Jüngst hat eine Untersuchung aufgedeckt, dass von 51 Urteilen lediglich 1% die Verantwortlichen, ihre Gründe und die genauen Zusammenhänge eindeutig feststellte. Noch schlechter sieht die Bilanz bezüglich der Unterstützer des Paramilitarismus aus, was keine Überraschung ist, denn das dem Verfahren zugrundeliegende Gesetz beschränkte die Gerichtsbarkeit auf die Straftaten der bewaffneten Gruppierungen: Verantwortlichkeiten von Militärs, Politikern, Unternehmern und sonstigen gesellschaftlichen Eliten zu benennen, blieb der ordentlichen Justiz vorbehalten. Das bedeutete langwierige Verfahren, an deren Ende traditionell meist Straflosigkeit steht.
Die positiven Effekte dieser ersten gerichtlichen Aufarbeitung nehmen sich dagegen gering aus: Viele Opfer fanden in den Anhörungen ein Forum, um Erlittenes zu schildern und gehört zu werden, trotz ihrer immer noch gesellschaftlich marginalisierten Rolle. Die Namen Ermordeter und Verschwundener wurden genannt und ihrer erinnert. Und nicht selten wurden die Täter mit den Opfern ihrer Taten konfrontiert. Was allerdings nicht entlarvt wurde, sind die vielfältigen Machtstrukturen, die hinter den paramilitärischen Verbrechen standen.
Eine neue Form der Aufarbeitung der Vergangenheit?
In den Friedensverhandlungen mit der FARC wurde am 23. September 2015 ein neuerlicher Versuch der justiziellen Aufarbeitung begonnen. An diesem Tag beschlossen der damalige Präsident Juan Manuel Santos und die FARC die Einrichtung der sogenannten „Sondergerichtsbarkeit für den Frieden“. Ebenfalls vereinbart wurde, dass die FARC ihre Waffen an eine Mission der Vereinten Nationen übergeben sollten. Die neue Sondergerichtsbarkeit sollte aus den Erfahrungen lernen, die man im zurückliegenden Jahrzehnt bei der Aufarbeitung der Paramilitärs gemacht hatte. Ihr innovativster Teil bildet die sogenannte sanción propia: Opfer und Täter sollen gemeinsam das angemessene Strafmaß zur Wiedergutmachung des durch das Verbrechen entstandenen Schadens feststellen. Mögliche Strafen bewegen sich zwischen fünf und acht Jahren Freiheitsbeschränkung, die aber außerhalb eines Gefängnisses verbüßt werden können und in sozialen Projekten abzuleisten sind. Die sanción propia ist für all jene vorgesehen, die mit der Gerichtsbarkeit kooperieren und ihre Verbrechen rechtzeitig gestehen. Für alle anderen ist die ordentliche Justiz zuständig. Für schwere Straftaten wie Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Vertreibung wurde eine Amnestie ausgeschlossen. Für andere Delikte wie die sogenannten delitos políticos, und damit zusammenhängende Taten, besteht hingegen die Möglichkeit der Amnestie.
Vor allem die Amnestieregelungen blieben in der kolumbianischen Gesellschaft ein hochgradig umstrittener Punkt, was rechtsgerichtete Politiker wie der ehemalige Präsident Uribe nutzten, um die Sondergerichtsbarkeit zu diskreditieren. Die Kritik an ihr hatte entscheidenden Anteil daran, dass der am 26. September 2016 von der Regierung und der FARC unterzeichnete Friedensvertrag in einer Volksabstimmung keine Mehrheit fand: 6,5 Millionen Kolumbianer sagten entgegen aller Vorhersagen „Nein“ zum Friedensprozess. Die Ablehnung kam vor allem aus den wenig betroffenen Großstädten des Landes. In den gewaltgeprägten Regionen hatten die Menschen mehrheitlich dem Abkommen zugestimmt. Die Betroffenheit war groß, die Regierung hatte keinen „Plan B“ und die Gesellschaft war nach der Abstimmung gespaltener als je zuvor. Erst nach einigen Änderungen konnte der Friedensvertrag schließlich doch noch im November 2016 unterzeichnet werden.

„Blumenmarsch“ am 12. Oktober 2016 in Bogotá, Wayúu Indianer. Am 12. Oktober 2016 wurde der „Marcha de las flores“ für die Opfer des bewaffneten Konflikts und den Frieden in Bogotá durchgeführt. Tausende Indigene, Bauern und Opfer kamen in die Hauptstadt, um die Einhaltung der Abkommen zwischen der Regierung und der FARC einzufordern. Foto: César Romero
Daraufhin gründete die Demobilisierte Guerrilla FARC eine politische Partei mit dem Namen FARC (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, dt. Alternative Revolutionäre Kraft des Miteinander), um den Kampf mit Worten anstatt mit Waffen weiterzuführen, wie der Parteivorsitzende Rodrigo Londoño dem vormaligen FARC-Kommandanten Timochenko versicherte. Zu einem Ende der Gewalt kam es damit jedoch nicht. Vielmehr sieht sich die neue Partei zahlreichen Schwierigkeiten ausgesetzt. So verlangen die USA die Auslieferung zumindest eines ihrer Funktionäre, Jesús Santrich. Vor allem wurden zahlreiche ehemalige Mitglieder der demobilisierten FARC ermordet. Die Vereinten Nationen sprachen in einem kürzlich erschienen Bericht von 123 ermordeten ehemaligen FARC-Kämpfern, 10 Verschwundenen sowie 17 Fällen versuchten Mordes. Ebenso werden sogenannte líderes sociales (im Deutschen nur unzureichend mit „Menschenrechtsaktivisten“ übersetzt), die eine fundamentale Rolle bei der Implementierung des Friedensabkommens in den Regionen spielen, zunehmend zu Opfern des Konflikts. So wurden zwischen Januar 2016 und Juli 2018 zumindest 343 dieser Menschenrechtsaktivisten ermordet. Die Gewaltakte häuften sich zum einen vor und nach den Präsidentschaftswahlen, bei denen der konservative Politiker und Uribe-Vertraute Iván Duque zum Präsidenten Kolumbiens gewählt wurde, und zum anderen immer dann, wenn Ländereien an Bauern, die von dort vertrieben worden waren, zurückgegeben werden sollten. Die Gewalt gegen die líderes sociales betrifft mittlerweile beinahe alle Regionen des Landes. Der Friedensprozess befindet sich damit wieder einmal in der Sackgasse.
Kolumbien: Quo Vadis?
Die aktuelle Entwicklung macht eines allzu deutlich: Der Widerstand der Eliten gegen den Friedensprozess ist in Kolumbien unerbittlich. Die Drahtzieher und Profiteure von Konflikt und Widerstand gelangen nicht auf die Anklagebank. Bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Paramilitärs wurden sie per Gesetz ausgeklammert; bei der aktuellen Aufarbeitung der Verbrechen der FARC stand die Tür zur Verurteilung von „Dritten“ (Unternehmern, Eliten, Politikern) einen Spalt breit offen – dieser wurde jedoch durch ein Urteil des Verfassungsgerichtes rasch wieder geschlossen. Die Arbeit von beiden Sondergerichtsbarkeiten wird kontinuierlich behindert. Die aktuelle Regierung wiederholt alte Fehler ihrer Vorgänger. Deshalb kann nur schwer von einer Transition im Sinne einer Überwindung der systemischen Ursachen des jahrzehntelangen Konflikts in Kolumbien gesprochen werden. Der von oben vorangetriebene „Transitionsprozess“ droht zu scheitern. Die derzeitige Protestbewegung kann dagegen als Signal gedeutet werden, dass eine Transition „von unten“ reif ist.