Am 10. September 2019 um 12 Uhr trat Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, in der Schweriner Staatskanzlei mit einem Statement vor die Presse: Sie sei an Brustkrebs erkrankt und werde, um Kraft für ihre Gesundung zu gewinnen, alle Ämter mit Ausnahme des Ministerpräsidentenamtes niederlegen. Zum Ende der Erklärung betonte sie:
Es ist mir wichtig, von vorneherein offen und ehrlich mit dieser Krankheit und dieser Situation umzugehen. Ich bitte aber zu respektieren, dass weitere Einzelheiten zur Bewältigung meiner Krankheit, zur Therapie, zur Behandlung, auch zum Umgang in der Familie, Privatsache sind und auch Privatsache bleiben sollten.
Parteiübergreifend erhielt Manuela Schwesig Zuspruch. Ihre Facebook-Seite füllte sich mit Genesungswünschen und ihr Parteikollege Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte und Autor eines Sachbuches über die „Krebs-Industrie“, twitterte: „Der offene Umgang mit der Krankheit ist vorbildlich.“ Das schleswig-holsteinische Nachrichtenportal shz.de titelte, Schwesig begegne ihrer Krankheit mit „offenem Visier“ – der Tenor in der Berichterstattung war ähnlich.
Dieses einmütige Lob der Offenheit könnte man als Strategie der Medien abtun: Aufmerksamkeit weckt, was besonders ist. Darum wird Offenheit hervorgehoben. Und letztlich kam Schwesig mit ihrem Statement wohl nur einer „Enthüllung“ zuvor, die die Medien sonst höchstwahrscheinlich selbst betrieben hätten. So behielt sie die Kontrolle darüber, was bekannt wurde – ein Wunsch, den sie im eingangs zitierten Statement mit der Bitte um Respekt vor ihrer Privatsphäre zum Ausdruck brachte. Dass Schwesigs Umgang auch von vielen Menschen in Twitter– und Facebook-Kommentaren hervorgehoben wird, ist dennoch ein Hinweis darauf, dass Offenheit im Umgang mit Krebs nicht als selbstverständlich gilt. Mehr noch: Viele Journalisten machen daraus eine Geschichte von heute und damals. So schrieb die Schweriner Volkszeitung als Kommentar zu Schwesigs Statement:
Wurden Krankheiten früher oft verheimlicht, sind in den vergangenen Jahren immer mehr Politiker mit der Diagnose Krebs an die Öffentlichkeit gegangen.
Schon eine kurze Recherche bestätigt diesen Befund: Erwin Sellering, Schwesigs Vorgänger, nannte 2017 seinen kurz zuvor diagnostizierten Lymphdrüsenkrebs als Rücktrittsgrund. Eine Reihe anderer zum Zeitpunkt der Diagnose aktive Politiker zögerten nicht, ihre Krebserkrankung publik zu machen, wie der Thüringer Mike Mohring (CDU) oder der mittlerweile verstorbene frühere Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Dies trifft nicht nur für die Bundesrepublik, die Schweiz oder Österreich zu, sondern auch für viele andere westliche Demokratien. Aber stimmt es, dass Politiker „früher“ nicht offen über Krebs sprachen? Fällt das Lob der Offenheit deshalb so einmütig aus?
Wie Politiker über Krebs redeten
Beginnen wir mit dem 19. Jahrhundert. Welche deutschsprachige Tageszeitung aus den späten 1880er Jahren auch immer man aufschlägt – man wird rasch fündig. Die Krankheit des deutschen Kronprinzen, der 1888 nur kurze Zeit als deutscher Kaiser Friedrich III. regieren sollte, war in aller Munde. Die „Krebsnatur“ seiner Kehlkopfbeschwerden blieb lange umstritten (und bot angesichts der Beteiligung eines britischen Arztes Stoff für nationalistischen Furor). Die in den Zeitungen abgedruckten Hofnachrichten gaben Auskunft über Kanülenwechsel, Atemnot und Schluckbeschwerden des kaiserlichen Patienten. Berichterstattung über die medizinischen Aspekte dieser Krankheit und damit über die Amtsfähigkeit Friedrichs war eine politische Pflichtübung, der der Hof durch die Weitergabe dieser Informationen an die Presse nachkam. Diese „Offenheit“ wurde von den Medien weder kritisch noch lobend hervorgehoben, sondern schlicht als selbstverständlich hingenommen. Bildungs- und Wohltätigkeitsvereine nahmen die Presseberichte zum Anlass, Informationsveranstaltungen zu organisieren, um ein breites Publikum über die Anatomie des Kehlkopfes und mögliche Krebstherapien aufzuklären. Ärzte verzeichneten – durchaus wohlwollend – ein erhöhtes Interesse ihrer Patientinnen und Patienten an der Krebserkrankung.
Gut siebzig Jahre später sah die öffentliche Reaktion auf eine ähnliche Informationspolitik anders aus: Als 1956 bei dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles Darmkrebs diagnostiziert wurde, sorgte Dulles dafür, dass die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger bereits einen Tag nach der Diagnose aus den Tageszeitungen davon erfuhren. Auch er wollte deutlich machen, dass er weiterhin in der Lage sei, sein Amt zu versehen. Bis zu seinem Rücktritt am 15. April 1959, wenig mehr als einen Monat vor seinem Tod, wurde die Öffentlichkeit dementsprechend über Befunde und gewählte Therapien zeitnah in Kenntnis gesetzt. Daneben lieferten die Medien Bilder und Geschichten, die den starken und entschlossenen Menschen Dulles in seinem „Kampf“ gegen die Krankheit porträtierten – so etwa eine mehrteilige Artikelserie der Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin Marguerite Higgins, die Der Spiegel unter dem Titel „Der Mann, der nicht aufgeben wollte“ übersetzen ließ. Die bundesdeutsche Presse berichtete ausführlich, woran jedoch insbesondere die deutschen Ärztevertreter scharfe Kritik übten. Sie befürchteten, dass das öffentliche Reden über die Krebserkrankung die Bevölkerung beunruhigen und ängstigen könnte.
Vergleicht man die drei Geschichten, die hier stellvertretend präsentiert wurden, wird deutlich, dass nicht die öffentliche Bekanntgabe der Krebsdiagnose das Novum war. Was sich wandelte, ist die Art und Weise, wie diese Informationspolitik wahrgenommen und bewertet wird.
Im Hintergrund: Das Verschweigen der Diagnose
Dieser Wandel ist nur durch den Blick hinter die Fassade des öffentlichen Redens zu verstehen: durch den Blick auf die Situation, in der sich Arzt und Patient begegneten und über eine Krebsdiagnose sprachen – oder nicht sprachen. Denn die Vorbedingung des öffentlichen Redens ist, dass Patienten oder Patientinnen zuvor überhaupt mitgeteilt wird, an welcher Krankheit sie leiden. Aber mehr noch: Wie das öffentliche Reden bewertet wird, ist entscheidend davon abhängig, wie die Mitteilung oder das Verschweigen der Diagnose im Zwiegespräch von Arzt und Patient moralisch legitimiert werden.
Immer wieder neu aufgelegte Ärzteratgeber wie der „Ärzte-Knigge“ betonten vom späten 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fast unisono, dass es besser sei, todkranken Patientinnen und Patienten die Diagnose zu verschweigen – würde sie doch von den meisten Menschen unweigerlich mit einem Todesurteil gleichgesetzt, mehr noch, mit einem langsamen, schmerzvollen und elenden Sterben. Ein Leben in ständiger Angst, ohne Hoffnung und Lebensmut wäre das Ergebnis. Demgegenüber sahen Ärzte ihre Aufgabe darin, für die unheilbar Kranken Lebenshoffnung „barmherzig“ lügend zu bewahren – mit einer Ausnahme: Bei besonderer hausväterlicher oder wirtschaftlichen Verantwortung sollten Menschen erfahren, wie es um sie stand, um ihre Geschäfte ordnen und für die Zeit nach ihrem Tod vorsorgen zu können. Kaiser Friedrich III. trug eine solche besondere Verantwortung. Und doch bemühten sich seine Ärzte in den nicht-öffentlichen Begegnungen enthüllend und zugleich verschleiernd zu reden, um trotz aller politisch notwendigen Offenheit dem Menschen Friedrich einen hoffnungsvollen Zweifel an seiner Diagnose zu erlauben. So wurde Friedrich mitgeteilt, dass seine Halsbeschwerden womöglich „carcinomatöser Natur“ seien, später wurde aber immer wieder betont, dass die Diagnose noch nicht mit letzter Sicherheit feststehe.
Neben den Ärzten beschäftigten sich auch Juristen mit der Frage, was Ärzte und Ärztinnen ihren Patienten und Patientinnen sagen müssten und was sie verschweigen dürften. Zahlreiche Gerichtsurteile des frühen 20. Jahrhunderts verlangten die Aufklärung der Patienten über Folgen und Komplikationen medizinischer Eingriffe, schlossen die Diagnoseaufklärung allerdings noch ausdrücklich aus. Dies war insofern erstaunlich, als die Ärzte im Zuge der Eingriffsaufklärung die Zustimmung der Patienten zu risikoreichen Therapien erlangen sollten, ohne eindeutig zu benennen, welcher Art die Krankheit sei. Die Reichsgerichtsurteile der 1930er und 1940er Jahre setzten dagegen die Diagnoseaufklärung als Regel fest, auch bei einer potentiell tödlichen Krankheit wie Krebs. Die Urteilsbegründungen konstatierten, dass die Diagnosemitteilung lediglich zu einer vorübergehenden „Herabdrückung der Stimmung“ des Patienten führe und insofern weniger dramatisch sei, als bisher angenommen. Das entsprach Diskussionen, die im Nationalsozialismus unter Ärzten, Seelsorgern und Psychotherapeuten über die Konfrontation mit dem Tod geführt wurden. Angst galt als natürliche und notwendige Reaktion auf eine Lebensbedrohung, als Prüfung, die der „mutige deutsche Mensch“ bestehen würde und sollte – umso mehr, als er seinen Tod nicht mehr im Rahmen eines ungesunden Individualismus als absolutes Ende begreifen, sondern seine Existenz im „Wir“ der Gemeinschaft oder des Volkes aufgehoben wissen sollte. Menschen über tödliche Diagnosen aufzuklären und sie zu Leidenskrise und Bewährung zu zwingen, wurde vor diesem Hintergrund zum Postulat der nationalsozialistischen Moral. Dazu gehörte auch, dass das Leben von Menschen, deren Krankheit wenig Aussicht auf Heilung versprach, kaum mehr etwas wert war – wie die immer geringere Unterstützung, die Kliniken für Schwer- oder Todkranke wie die Berliner „Krebsbaracken“ an der Charité erhielten, zeigt. Diese „wertlosen“ Menschen durch das Verschweigen der Diagnose zu schonen, hätte dieser Logik widersprochen. In der klinischen Praxis setzte sich diese neue ärztliche Ethik gegenüber Krebskranken jedoch nicht auf breiter Linie durch. Die Krebsdiagnose zu verschweigen blieb weithin die Regel.
Hoffnungslosigkeit tötet
Daran änderte sich auch nach 1945 zunächst nichts, möglicherweise wurde das Schweigegebot sogar noch wirkmächtiger, denn die Sicht auf Angst und Hoffnung wandelte sich. Angst galt nun als irrationale und potentiell tödliche Emotion, die besser gar nicht erst entstehen sollte. Hoffnungslosigkeit, so interpretierte der Hamburger Arzt und Psychosomatiker Arthur Jores seine Beobachtungen zu Tod und Überleben ehemaliger Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge, sei der „ausschlaggebende Faktor“. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hans-Georg Puchta untermauerte er diese These mit einer Studie zum „Pensionierungstod“ von Beamten. Wenn diese nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben von innerer Leere übermannt früher starben, würde dann nicht auch das Wissen um eine Krebserkrankung zum beschleunigten Tod aus Hoffnungslosigkeit führen? Aus diesem Grund sorgte die Berichterstattung über das Leiden des John Foster Dulles und die damit einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit für Krebs unter bundesdeutschen Ärzten für Beunruhigung.
Mit der Studentenbewegung und dem Psycho-Boom änderten sich die Ansichten erneut. Nun erschien die Verdrängung von Angst als schädlich und verlogen, Gespräche sollten dagegen helfen. Zugleich traten neben die große Überlebenshoffnung die vielen kleineren Alltagshoffnungen einer nahen Zukunft: auf eine gute Begegnung, auf einen schmerzfreien nächsten Tag. Ausgesprochene und therapeutisch bearbeitete Gefühle galten jetzt als wesentliches Medium von Beziehungen, auch und gerade der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Die Krebsdiagnose zu verschweigen, wurde nicht mehr als heilsame Schonung, sondern als Versuch verstanden, Angst zu vermeiden. Verdrängung aber ließe Angst nicht verschwinden, sondern machte sie weniger beherrschbar. Erst Offenheit ermöglichte, an seinen belastenden Gefühlen zu „arbeiten“, womöglich sogar die „zweite Chance“ eines intensiveren und in Gefühlsdingen „authentischeren“ Lebens zu ergreifen.
Dass seit den 1960er Jahren immer mehr Ärzte und Ärztinnen mit ihren Patienten und Patientinnen über eine Krebsdiagnose sprachen, hatte noch zwei weitere Ursachen. Erstens wurden Krebstherapien immer umfassender. Neben Operation und Bestrahlung trat die Chemotherapie. Behandlungszeiten verlängerten sich, immer mehr Personen waren an Therapie und Nachsorge beteiligt. Ein Schweigenetz um die Patienten zu weben, wurde schwieriger. Zweitens begannen mit den 1970er Jahren – zumindest für einige Krebserkrankungen – die Überlebenschancen, die sich während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum verändert hatten, langsam zu steigen. Das machte es ebenfalls leichter, über Krebsdiagnosen zu sprechen. Die fatale Gleichsetzung von Krebsdiagnose und Todesurteil verlor Stück für Stück an Gewicht.
Das neue Lob der Offenheit
Die Schauspielerin Hildegard Knef sorgte 1975 mit ihrem provokant betitelten Buch „Das Urteil oder der Gegenmensch“ für Aufsehen. In drastischen Worten prangerte sie an, wie Ärzte und Schwestern nach ihrer Brustkrebsdiagnose zwei Jahre zuvor mit ihr umgegangen waren. Dem Stern gab sie zu Protokoll: „Wo zu Großmutters Zeiten Sex tabu war, sind heute Sterben, Tod und Krebs tabu, das ist unsere moderne Pornographie.“ Anders als „zu Großmutters Zeiten“ war ihr allerdings die Krebsdiagnose (das titelgebende Urteil) mitgeteilt worden. Dennoch hatte sie den Eindruck gehabt, dass Krankenschwestern und Ärzte ihr auswichen, dass ihre Umwelt ihr, der Krebskranken, gegenüber sprachlos blieb. Trotz offener Diagnosemitteilung blieb Krebs als öffentliches Thema in ihren Augen tabu – ein Tabu, das sie im gleichen Atemzug durchbrach.
Der Enthüllungsgestus, den Knef hier bemühte, war fraglos Teil einer medialen Aufmerksamkeitsmaschinerie. Zugleich markiert er einen Wertewandel, der den behaupteten Tabubruch zum Medienereignis machte: Das Verschweigen wurde nun in der Sprache der Psychotherapie als Verdrängung und Eingeständnis eines Stigmas verstanden. Dieser Wechsel des Redens in den Horizont von Authentizität und Wahrhaftigkeit war die Geburtsstunde des Lobs der Offenheit.
Doch Offenheit blieb schillernd. Ihre starke emphatische Aufladung bot und bietet noch heute die Möglichkeit, Informationen zu kontrollieren und eine Grenze des Privaten zu benennen, das nicht mehr als das Verborgene erscheint, sondern als das Eigene und Intime präsentiert werden kann. Auf diese Doppelbewegung macht das eingangs zitierte Statement Manuela Schwesigs aufmerksam. Doch es gibt noch eine weitere leicht zu übersehene Facette: Offenheit kann auch eine Demonstration der Stärke sein, der Anspruch, souverän öffentlich über die eigene schwere Erkrankung reden zu können. Daran knüpft oft das Bestreben an, möglichst ohne große Unterbrechung oder Einschränkung weiter zu arbeiten. Eine solche selbstgewählte und der Krankheit abgetrotzte „Arbeit und Struktur“, wie es der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ausdrückte, kann hilfreich sein. Sie ist aber auch eine „perfekte“ Antwort auf die immer weitgehenderen Ansprüche einer Leistungsgesellschaft, die nur wenig Raum für Schwäche, Krankheit und „unproduktive“ Pause lässt. So bleibt das Lob der Offenheit auch heute ambivalent.