Offenheit im Umgang mit Krebs gilt als neu. Doch diese Wahrnehmung trügt, das Sprechen über die Diagnose wurde nicht immer tabuisiert. Über die wechselvolle Geschichte des Sprechens und Schweigens über Krebs im 20. Jahrhundert.

  • Bettina Hitzer

    Bettina Hitzer ist Historikerin. Sie leitet seit 2014 eine Minerva-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und lehrt als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin. Sie forscht zur Emotionsgeschichte der Krebskrankheit im 20. Jahrhundert und zur Geschichte der Adoption von Kindern. Ende Januar 2020 erscheint ihr Buch "Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts".

Am 10. September 2019 um 12 Uhr trat Manuela Schwesig, Minis­ter­prä­si­dentin von Mecklenburg-Vorpommern, in der Schwe­riner Staats­kanzlei mit einem State­ment vor die Presse: Sie sei an Brust­krebs erkrankt und werde, um Kraft für ihre Gesun­dung zu gewinnen, alle Ämter mit Ausnahme des Minis­ter­prä­si­den­ten­amtes nieder­legen. Zum Ende der Erklä­rung betonte sie: 

Es ist mir wichtig, von vorne­herein offen und ehrlich mit dieser Krank­heit und dieser Situa­tion umzu­gehen. Ich bitte aber zu respek­tieren, dass weitere Einzel­heiten zur Bewäl­ti­gung meiner Krank­heit, zur Therapie, zur Behand­lung, auch zum Umgang in der Familie, Privat­sache sind und auch Privat­sache bleiben sollten. 

Partei­über­grei­fend erhielt Manuela Schwesig Zuspruch. Ihre Face­book-Seite füllte sich mit Gene­sungs­wün­schen und ihr Partei­kol­lege Karl Lauter­bach, Gesund­heits­experte und Autor eines Sach­bu­ches über die „Krebs-Industrie“, twit­terte: „Der offene Umgang mit der Krank­heit ist vorbild­lich.“ Das schleswig-holsteinische Nach­rich­ten­portal shz.de titelte, Schwesig begegne ihrer Krank­heit mit „offenem Visier“ – der Tenor in der Bericht­erstat­tung war ähnlich.

Dieses einmü­tige Lob der Offen­heit könnte man als Stra­tegie der Medien abtun: Aufmerk­sam­keit weckt, was beson­ders ist. Darum wird Offen­heit hervor­ge­hoben. Und letzt­lich kam Schwesig mit ihrem State­ment wohl nur einer „Enthül­lung“ zuvor, die die Medien sonst höchst­wahr­schein­lich selbst betrieben hätten. So behielt sie die Kontrolle darüber, was bekannt wurde – ein Wunsch, den sie im eingangs zitierten State­ment mit der Bitte um Respekt vor ihrer Privat­sphäre zum Ausdruck brachte. Dass Schwe­sigs Umgang auch von vielen Menschen in Twitter– und Face­book-Kommen­taren hervor­ge­hoben wird, ist dennoch ein Hinweis darauf, dass Offen­heit im Umgang mit Krebs nicht als selbst­ver­ständ­lich gilt. Mehr noch: Viele Jour­na­listen machen daraus eine Geschichte von heute und damals. So schrieb die Schwe­riner Volks­zei­tung als Kommentar zu Schwe­sigs Statement: 

Wurden Krank­heiten früher oft verheim­licht, sind in den vergan­genen Jahren immer mehr Poli­tiker mit der Diagnose Krebs an die Öffent­lich­keit gegangen. 

Schon eine kurze Recherche bestä­tigt diesen Befund: Erwin Selle­ring, Schwe­sigs Vorgänger, nannte 2017 seinen kurz zuvor diagnos­ti­zierten Lymph­drü­sen­krebs als Rück­tritts­grund. Eine Reihe anderer zum Zeit­punkt der Diagnose aktive Poli­tiker zögerten nicht, ihre Krebs­er­kran­kung publik zu machen, wie der Thüringer Mike Mohring (CDU) oder der mitt­ler­weile verstor­bene frühere Bundes­au­ßen­mi­nister Guido Wester­welle. Dies trifft nicht nur für die Bundes­re­pu­blik, die Schweiz oder Öster­reich zu, sondern auch für viele andere west­liche Demo­kra­tien. Aber stimmt es, dass Poli­tiker „früher“ nicht offen über Krebs spra­chen? Fällt das Lob der Offen­heit deshalb so einmütig aus?

Wie Poli­tiker über Krebs redeten

Beginnen wir mit dem 19. Jahr­hun­dert. Welche deutsch­spra­chige Tages­zei­tung aus den späten 1880er Jahren auch immer man aufschlägt – man wird rasch fündig. Die Krank­heit des deut­schen Kron­prinzen, der 1888 nur kurze Zeit als deut­scher Kaiser Fried­rich III. regieren sollte, war in aller Munde. Die „Krebs­natur“ seiner Kehl­kopf­be­schwerden blieb lange umstritten (und bot ange­sichts der Betei­li­gung eines briti­schen Arztes Stoff für natio­na­lis­ti­schen Furor). Die in den Zeitungen abge­druckten Hofnach­richten gaben Auskunft über Kanü­len­wechsel, Atemnot und Schluck­be­schwerden des kaiser­li­chen Pati­enten. Bericht­erstat­tung über die medi­zi­ni­schen Aspekte dieser Krank­heit und damit über die Amts­fä­hig­keit Fried­richs war eine poli­ti­sche Pflicht­übung, der der Hof durch die Weiter­gabe dieser Infor­ma­tionen an die Presse nachkam. Diese „Offen­heit“ wurde von den Medien weder kritisch noch lobend hervor­ge­hoben, sondern schlicht als selbst­ver­ständ­lich hinge­nommen. Bildungs- und Wohl­tä­tig­keits­ver­eine nahmen die Pres­se­be­richte zum Anlass, Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tungen zu orga­ni­sieren, um ein breites Publikum über die Anatomie des Kehl­kopfes und mögliche Krebs­the­ra­pien aufzu­klären. Ärzte verzeich­neten – durchaus wohl­wol­lend – ein erhöhtes Inter­esse ihrer Pati­en­tinnen und Pati­enten an der Krebserkrankung.

Gut siebzig Jahre später sah die öffent­liche Reak­tion auf eine ähnliche Infor­ma­ti­ons­po­litik anders aus: Als 1956 bei dem ameri­ka­ni­schen Außen­mi­nister John Foster Dulles Darm­krebs diagnos­ti­ziert wurde, sorgte Dulles dafür, dass die ameri­ka­ni­schen Bürge­rinnen und Bürger bereits einen Tag nach der Diagnose aus den Tages­zei­tungen davon erfuhren. Auch er wollte deut­lich machen, dass er weiterhin in der Lage sei, sein Amt zu versehen. Bis zu seinem Rück­tritt am 15. April 1959, wenig mehr als einen Monat vor seinem Tod, wurde die Öffent­lich­keit dementspre­chend über Befunde und gewählte Thera­pien zeitnah in Kenntnis gesetzt. Daneben lieferten die Medien Bilder und Geschichten, die den starken und entschlos­senen Menschen Dulles in seinem „Kampf“ gegen die Krank­heit porträ­tierten – so etwa eine mehr­tei­lige Arti­kel­serie der Jour­na­listin und Pulitzer-Preisträgerin Margue­rite Higgins, die Der Spiegel unter dem Titel „Der Mann, der nicht aufgeben wollte“ über­setzen ließ. Die bundes­deut­sche Presse berich­tete ausführ­lich, woran jedoch insbe­son­dere die deut­schen Ärzte­ver­treter scharfe Kritik übten. Sie befürch­teten, dass das öffent­liche Reden über die Krebs­er­kran­kung die Bevöl­ke­rung beun­ru­higen und ängs­tigen könnte.

Vergleicht man die drei Geschichten, die hier stell­ver­tre­tend präsen­tiert wurden, wird deut­lich, dass nicht die öffent­liche Bekannt­gabe der Krebs­dia­gnose das Novum war. Was sich wandelte, ist die Art und Weise, wie diese Infor­ma­ti­ons­po­litik wahr­ge­nommen und bewertet wird.

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Im Hinter­grund: Das Verschweigen der Diagnose

Dieser Wandel ist nur durch den Blick hinter die Fassade des öffent­li­chen Redens zu verstehen: durch den Blick auf die Situa­tion, in der sich Arzt und Patient begeg­neten und über eine Krebs­dia­gnose spra­chen – oder nicht spra­chen. Denn die Vorbe­din­gung des öffent­li­chen Redens ist, dass Pati­enten oder Pati­en­tinnen zuvor über­haupt mitge­teilt wird, an welcher Krank­heit sie leiden. Aber mehr noch: Wie das öffent­liche Reden bewertet wird, ist entschei­dend davon abhängig, wie die Mittei­lung oder das Verschweigen der Diagnose im Zwie­ge­spräch von Arzt und Patient mora­lisch legi­ti­miert werden.

Immer wieder neu aufge­legte Ärzte­rat­geber wie der „Ärzte-Knigge“ betonten vom späten 19. Jahr­hun­dert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahr­hun­derts fast unisono, dass es besser sei, todkranken Pati­en­tinnen und Pati­enten die Diagnose zu verschweigen – würde sie doch von den meisten Menschen unwei­ger­lich mit einem Todes­ur­teil gleich­ge­setzt, mehr noch, mit einem lang­samen, schmerz­vollen und elenden Sterben. Ein Leben in stän­diger Angst, ohne Hoff­nung und Lebensmut wäre das Ergebnis. Demge­gen­über sahen Ärzte ihre Aufgabe darin, für die unheilbar Kranken Lebens­hoff­nung „barm­herzig“ lügend zu bewahren – mit einer Ausnahme: Bei beson­derer haus­vä­ter­li­cher oder wirt­schaft­li­chen Verant­wor­tung sollten Menschen erfahren, wie es um sie stand, um ihre Geschäfte ordnen und für die Zeit nach ihrem Tod vorsorgen zu können. Kaiser Fried­rich III. trug eine solche beson­dere Verant­wor­tung. Und doch bemühten sich seine Ärzte in den nicht-öffentlichen Begeg­nungen enthül­lend und zugleich verschlei­ernd zu reden, um trotz aller poli­tisch notwen­digen Offen­heit dem Menschen Fried­rich einen hoff­nungs­vollen Zweifel an seiner Diagnose zu erlauben. So wurde Fried­rich mitge­teilt, dass seine Hals­be­schwerden womög­lich „carci­no­ma­töser Natur“ seien, später wurde aber immer wieder betont, dass die Diagnose noch nicht mit letzter Sicher­heit feststehe.

Neben den Ärzten beschäf­tigten sich auch Juristen mit der Frage, was Ärzte und Ärztinnen ihren Pati­enten und Pati­en­tinnen sagen müssten und was sie verschweigen dürften. Zahl­reiche Gerichts­ur­teile des frühen 20. Jahr­hun­derts verlangten die Aufklä­rung der Pati­enten über Folgen und Kompli­ka­tionen medi­zi­ni­scher Eingriffe, schlossen die Diagno­se­auf­klä­rung aller­dings noch ausdrück­lich aus. Dies war inso­fern erstaun­lich, als die Ärzte im Zuge der Eingriffs­auf­klä­rung die Zustim­mung der Pati­enten zu risi­ko­rei­chen Thera­pien erlangen sollten, ohne eindeutig zu benennen, welcher Art die Krank­heit sei. Die Reichs­ge­richts­ur­teile der 1930er und 1940er Jahre setzten dagegen die Diagno­se­auf­klä­rung als Regel fest, auch bei einer poten­tiell tödli­chen Krank­heit wie Krebs. Die Urteils­be­grün­dungen konsta­tierten, dass die Diagno­se­mit­tei­lung ledig­lich zu einer vorüber­ge­henden „Herab­drü­ckung der Stim­mung“ des Pati­enten führe und inso­fern weniger drama­tisch sei, als bisher ange­nommen. Das entsprach Diskus­sionen, die im Natio­nal­so­zia­lismus unter Ärzten, Seel­sor­gern und Psycho­the­ra­peuten über die Konfron­ta­tion mit dem Tod geführt wurden. Angst galt als natür­liche und notwen­dige Reak­tion auf eine Lebens­be­dro­hung, als Prüfung, die der „mutige deut­sche Mensch“ bestehen würde und sollte – umso mehr, als er seinen Tod nicht mehr im Rahmen eines unge­sunden Indi­vi­dua­lismus als abso­lutes Ende begreifen, sondern seine Exis­tenz im „Wir“ der Gemein­schaft oder des Volkes aufge­hoben wissen sollte. Menschen über tödliche Diagnosen aufzu­klären und sie zu Leidens­krise und Bewäh­rung zu zwingen, wurde vor diesem Hinter­grund zum Postulat der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Moral. Dazu gehörte auch, dass das Leben von Menschen, deren Krank­heit wenig Aussicht auf Heilung versprach, kaum mehr etwas wert war – wie die immer gerin­gere Unter­stüt­zung, die Kliniken für Schwer- oder Todkranke wie die Berliner „Krebs­ba­ra­cken“ an der Charité erhielten, zeigt. Diese „wert­losen“ Menschen durch das Verschweigen der Diagnose zu schonen, hätte dieser Logik wider­spro­chen. In der klini­schen Praxis setzte sich diese neue ärzt­liche Ethik gegen­über Krebs­kranken jedoch nicht auf breiter Linie durch. Die Krebs­dia­gnose zu verschweigen blieb weithin die Regel.

Hoff­nungs­lo­sig­keit tötet

Daran änderte sich auch nach 1945 zunächst nichts, mögli­cher­weise wurde das Schwei­ge­gebot sogar noch wirk­mäch­tiger, denn die Sicht auf Angst und Hoff­nung wandelte sich. Angst galt nun als irra­tio­nale und poten­tiell tödliche Emotion, die besser gar nicht erst entstehen sollte. Hoff­nungs­lo­sig­keit, so inter­pre­tierte der Hamburger Arzt und Psycho­so­ma­tiker Arthur Jores seine Beob­ach­tungen zu Tod und Über­leben ehema­liger Kriegs­ge­fan­gener und KZ-Häftlinge, sei der „ausschlag­ge­bende Faktor“. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hans-Georg Puchta unter­mau­erte er diese These mit einer Studie zum „Pensio­nie­rungstod“ von Beamten. Wenn diese nach dem Ausscheiden aus dem Berufs­leben von innerer Leere über­mannt früher starben, würde dann nicht auch das Wissen um eine Krebs­er­kran­kung zum beschleu­nigten Tod aus Hoff­nungs­lo­sig­keit führen? Aus diesem Grund sorgte die Bericht­erstat­tung über das Leiden des John Foster Dulles und die damit einher­ge­hende öffent­liche Aufmerk­sam­keit für Krebs unter bundes­deut­schen Ärzten für Beunruhigung.

Mit der Studen­ten­be­we­gung und dem Psycho-Boom änderten sich die Ansichten erneut. Nun erschien die Verdrän­gung von Angst als schäd­lich und verlogen, Gespräche sollten dagegen helfen. Zugleich traten neben die große Über­le­bens­hoff­nung die vielen klei­neren Alltags­hoff­nungen einer nahen Zukunft: auf eine gute Begeg­nung, auf einen schmerz­freien nächsten Tag. Ausge­spro­chene und thera­peu­tisch bear­bei­tete Gefühle galten jetzt als wesent­li­ches Medium von Bezie­hungen, auch und gerade der Bezie­hung zwischen Arzt und Patient. Die Krebs­dia­gnose zu verschweigen, wurde nicht mehr als heil­same Scho­nung, sondern als Versuch verstanden, Angst zu vermeiden. Verdrän­gung aber ließe Angst nicht verschwinden, sondern machte sie weniger beherrschbar. Erst Offen­heit ermög­lichte, an seinen belas­tenden Gefühlen zu „arbeiten“, womög­lich sogar die „zweite Chance“ eines inten­si­veren und in Gefühls­dingen „authen­ti­scheren“ Lebens zu ergreifen.

Dass seit den 1960er Jahren immer mehr Ärzte und Ärztinnen mit ihren Pati­enten und Pati­en­tinnen über eine Krebs­dia­gnose spra­chen, hatte noch zwei weitere Ursa­chen. Erstens wurden Krebs­the­ra­pien immer umfas­sender. Neben Opera­tion und Bestrah­lung trat die Chemo­the­rapie. Behand­lungs­zeiten verlän­gerten sich, immer mehr Personen waren an Therapie und Nach­sorge betei­ligt. Ein Schwei­ge­netz um die Pati­enten zu weben, wurde  schwie­riger. Zwei­tens begannen mit den 1970er Jahren – zumin­dest für einige Krebs­er­kran­kungen – die Über­le­bens­chancen, die sich während der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts kaum verän­dert hatten, langsam zu steigen. Das machte es eben­falls leichter, über Krebs­dia­gnosen zu spre­chen. Die fatale Gleich­set­zung von Krebs­dia­gnose und Todes­ur­teil verlor Stück für Stück an Gewicht. 

Das neue Lob der Offenheit

Die Schau­spie­lerin Hilde­gard Knef sorgte 1975 mit ihrem provo­kant beti­telten Buch „Das Urteil oder der Gegen­mensch“ für Aufsehen. In dras­ti­schen Worten pran­gerte sie an, wie Ärzte und Schwes­tern nach ihrer Brust­krebs­dia­gnose zwei Jahre zuvor mit ihr umge­gangen waren. Dem Stern gab sie zu Proto­koll: „Wo zu Groß­mutters Zeiten Sex tabu war, sind heute Sterben, Tod und Krebs tabu, das ist unsere moderne Porno­gra­phie.“ Anders als „zu Groß­mutters Zeiten“ war ihr aller­dings die Krebs­dia­gnose (das titel­ge­bende Urteil) mitge­teilt worden. Dennoch hatte sie den Eindruck gehabt, dass Kran­ken­schwes­tern und Ärzte ihr auswi­chen, dass ihre Umwelt ihr, der Krebs­kranken, gegen­über sprachlos blieb. Trotz offener Diagno­se­mit­tei­lung blieb Krebs als öffent­li­ches Thema in ihren Augen tabu – ein Tabu, das sie im glei­chen Atemzug durchbrach.

Der Enthül­lungs­gestus, den Knef hier bemühte, war fraglos Teil einer medialen Aufmerk­sam­keits­ma­schi­nerie. Zugleich markiert er einen Werte­wandel, der den behaup­teten Tabu­bruch zum Medi­en­er­eignis machte: Das Verschweigen wurde nun in der Sprache der Psycho­the­rapie als Verdrän­gung und Einge­ständnis eines Stigmas verstanden. Dieser Wechsel des Redens in den Hori­zont von Authen­ti­zität und Wahr­haf­tig­keit war die Geburts­stunde des Lobs der Offenheit.

Doch Offen­heit blieb schil­lernd. Ihre starke empha­ti­sche Aufla­dung bot und bietet noch heute die Möglich­keit, Infor­ma­tionen zu kontrol­lieren und eine Grenze des Privaten zu benennen, das nicht mehr als das Verbor­gene erscheint, sondern als das Eigene und Intime präsen­tiert werden kann. Auf diese Doppel­be­we­gung macht das eingangs zitierte State­ment Manuela Schwe­sigs aufmerksam. Doch es gibt noch eine weitere leicht zu über­se­hene Facette: Offen­heit kann auch eine Demons­tra­tion der Stärke sein, der Anspruch, souverän öffent­lich über die eigene schwere Erkran­kung reden zu können. Daran knüpft oft das Bestreben an, möglichst ohne große Unter­bre­chung oder Einschrän­kung weiter zu arbeiten. Eine solche selbst­ge­wählte und der Krank­heit abge­trotzte „Arbeit und Struktur“, wie es der Schrift­steller Wolf­gang Herrn­dorf ausdrückte, kann hilf­reich sein. Sie ist aber auch eine „perfekte“ Antwort auf die immer weit­ge­hen­deren Ansprüche einer Leis­tungs­ge­sell­schaft, die nur wenig Raum für Schwäche, Krank­heit und „unpro­duk­tive“ Pause lässt. So bleibt das Lob der Offen­heit auch heute ambivalent.