Bei den Filmfestspielen in Cannes begeisterte 1971 ein Film die Kritiker besonders: WR – Mysterien des Organismus (WR – Misterije organizma) des jugoslawischen Regisseurs Dušan Makavejev (1932-2019). Die Sensation kam nicht aus dem Nichts. Die blockfreie Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien war angesagt in den 1960er und 70er Jahren. Ihr Platz zwischen den Großmächten des Kalten Krieges versprach einen anderen, freieren Weg des Sozialismus, als ihn die Sowjetunion zur gleichen Zeit beschritt. Und das jugoslawische Autorenkino versprühte trotz, oder gerade wegen gelegentlicher technischer Ungeschliffenheit, einen besonderen Charme. WR beeindruckte Cineasten mit seiner gewagten Montage, die Anleihen bei Sergei Eisenstein nahm, obwohl gerade Montageexperimente dem Seh-Trend der 70er Jahre zuwiderliefen.
Doch provokant war nicht nur die Machart des Films, sondern vor allem die sexuell expliziten Bilder. Makavejev widmete sie dem Urvater der sexuellen Revolution, dem Psychiater und Marxisten Wilhelm Reich (1897-1957) und politisierte ganz in 1968er-Manier Sexualität gegen autoritäre und kriegslüsterne Herrschaft in Ost und West – all dies mit einer gehörigen Portion anarchischem Humor. Was passiert, wenn wir WR heute sehen? Ist der Film nur ein historisches Dokument, oder kann er auch heute noch provozieren und inspirieren?
WR – Wilhelm Reichs World Revolution
Das Kürzel WR im Filmtitel ist eine doppelte Referenz: Abkürzung für „World Revolution“ und Initialen von Wilhelm Reich. Reich, der aufmüpfige marxistische Schüler Freuds, Mitbegründer einer proletarischen Bewegung für Sexualpolitik, Sexpol, war es, der den Ausdruck „sexuelle Revolution“ in den 1930ern prägte. Er ging davon aus, dass die Sexualunterdrückung ein Hindernis auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaft darstelle, denn sie schaffe ängstliche, dependente und neurotische Persönlichkeiten, die nach autoritärer Führung verlangten. Im Aufstieg des Nationalsozialismus, vor dem er 1933 aus Deutschland flüchten musste, sah Reich seine Überlegungen bestätigt. Dessen Tyrannei sei in der christlich-bürgerlichen Sexualmoral der Weimarer Republik vorbereitet worden.
Später dehnte er die Repressionshypothese dann auch auf die „roten Faschisten“, die Stalinisten, aus. Reich, der seine Ideen in einer zunehmend esoterischen Energielehre (des „Orgons“) systematisierte, entwickelte die einflussreiche Theorie, dass verwehrte sexuelle Befriedigung zu einer Körperpanzerung führe, weshalb körperliche Übungen eine Abkürzung bei der Behandlung der ‚Sexualneurose‘ darstellten.

Filmplakat 1971, Quelle: Wikipedia
Postum wurde Reich zum Stichwortgeber der sexuellen Revolution von 1968. Ihr Slogan „Make Love, Not War!“, der tatsächlich um die ganze Welt ging, war grundiert von der in einer oberflächlichen Reich-Lektüre erworbenen Gewissheit, dass, wie es die Historikerin Dagmar Herzog auf den Punkt bringt, ein genital befriedigter Mensch zu nichts Bösem fähig wäre. Besonders die westdeutsche Studentenbewegung erklärte die unvorstellbaren Verbrechen der Vätergeneration mit der repressiven sexuellen Erziehung, die diese erfahren habe.
Für den Film begab sich Makavejev auf die Suche nach filmisch verwertbaren Spuren aus dem Leben von Reich, dessen Flucht über den Umweg von Dänemark und Norwegen ihn schließlich in die USA geführt hatte. Fast nur dort wurde er fündig – auf dem Anwesen in Rangeley, Maine, wo der Arzt gelebt und geforscht hatte, sowie bei Körperpsychotherapeut:innen, die seine Arbeit fortsetzten. Während seiner Recherchereise dokumentierte Makavejev zudem Begegnungen mit Protagonist:innen der amerikanischen Counterculture und der sexuellen Revolution von 1968.

Still aus Dušan Makavejevs „WR – Mysterien des Organismus“, Quelle: arsenal-berlin.de
Mit seinem Verfahren der assoziativen Montage (Dina Iordanova) arrangierte er dieses Material mit einer Fülle von visuellem und akustischem found footage (Archivaufnahmen von Reich bis Musik von The Fugs) sowie einer Spielfilmhandlung. In diesem Plot verliebt sich die Revolutionärin Milena – gespielt von der legendären Milena Dravić (1940-2018) – in einen sexuell verklemmten russischen Eiskunstläufer, der wie der russische Revolutionsführer Lenin heißt: Vladimir Il’ič. Der gastierende Künstler wird zum Mörder, er enthauptet die Reich-Anhängerin Milena, nachdem sie ihn verführte, mit einem Schlittschuh. Ihr rumpfloser Kopf hält noch eine Rede und bekennt: „Genossen, sogar jetzt schäme ich mich nicht meiner kommunistischen Vergangenheit“. Vladimir Il’ič nennt er einen „echten roten Faschisten“, sprich einen Stalinisten. Damit war der These Reichs, dass Führerkult und Autoritarismus auf sexueller Unterdrückung gründeten, plastisch genug Ausdruck gegeben.
„Sozialismus mit menschlichem Körper“
Auch der provokanteste Schnitt des Films ist eine politische Provokation: ein Match Cut ‚von Dildo auf Stalin‘. Er war in den Diskussionen um den Film immer präsent – und dies zu Recht, denn er ist entscheidend für sein Verständnis. Makavejev baute eine Gelegenheitsaufnahme ein, in der die Künstlerin Nancy Godfrey einen Gipsabdruck des erigierten Glieds von Jim Buckley abnahm, dem Chefredakteur der kontrakulturellen Zeitschrift Screw. Vom fertig in Gummi gegossenen und aufgestellten Phallus wird auf die steife Gestalt Stalins geschnitten, verkörpert durch den Schauspieler Micheil Gelovani aus Micheil Tschiaurelis Spielfilm Der Schwur (Kljatwa, UdSSR, 1946). Der Diktator verkündet unter dem Applaus seiner Anhänger, dass die erste Phase des Kommunismus realisiert sei.
In einem Interview im Erscheinungsjahr von WR bezeichnet Makavejev diesen Schnitt als einen „Witz“, und in der Tat lässt sich die Montage gut mit der Freud’schen Witztheorie erklären: ein über die Technik des Unbewussten, hier die Ähnlichkeit der Gestalt, hergestellter ‚unmöglicher Vergleich‘, bei dem schlagartig der Sinn im Unsinn bewusst wird.
Der Witz ist allerdings komplex und hat drei Tendenzen. Erstens die aggressive: Stalin ist eine leblose, falsche Verkörperung der Kraft der Revolution. Liest man überdies mit Reich, ist die Führerfigur das Produkt der neurotisch fehlgeleiteten erotischen Energien der sexuell unterdrückten Massen. Zweitens die sexuelle Tendenz: Der politische Witz legitimiert die exhibitionistische Lust an der im jugoslawischen Kino bis dato präzedenzlosen Darstellung des Masturbationsakts (mit dem Godfrey den Gipsabdruck vorbereitete). Drittens geht es hier jedoch nicht nur um politische Kritik und sexuellen Tabubruch, sondern auch – wie der Filmhistoriker Daniel Goulding bereits 1986 bemerkte – um eine Satire auf Formen der sexuellen Revolte, die Makavejev in den USA beobachtete. Im notorischen Match Cut Dildo–Stalin wird nicht nur Stalin als Fetisch der Revolution, sondern – in umgekehrter Richtung gelesen – auch die Fetischisierung von Sexualität kritisiert.
Im Hintergrund steht hier Makavejevs humanistische Forderung, die Goulding treffend zusammengefasst hat als „Sozialismus mit menschlichem Körper“ – in Anlehnung an die Losung des Prager Frühlings eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Makavejev war alles andere als ein Reich-Dogmatiker, aber er meinte im Sinne Reichs die Sexualität als Angriffspunkt einer Forderung nach individuellem Glück ansehen zu dürfen, ohne das kollektives Glück nicht herstellbar erscheint. Makavejevs vielleicht bester Film, Man is not a Bird (Čovek nije tica, 1965) veranschaulicht dies als Fusion von sozialistischem Produktionsfilm und Liebesfilm.
Angesichts der Ubiquität autoritärer Führerfiguren (Bolsonaro, Erdogan, Putin, Trump), die alle zumindest vordergründig einer konservativen, heteronormativen Sexualmoral das Wort reden, lässt sich fragen, ob Reichs Thesen nicht wieder an Aktualität gewonnen haben? Einerseits ja – wir wähnen uns noch im Zeitalter ‚liberaler Gouvernementalität‘ (Michel Foucault), das schützt die Menschen jedoch nicht gegen die Wiederkehr ‚älterer‘ repressiver Machttechniken. Skeptisch stimmt andererseits, dass Reich selbst auf die Ent-Entfremdung ‚der Sexualität‘ ausgerichtet scheint, und seinerseits einen Maßstab einer ‚natürlichen‘ genitalen Sexualität anlegt, der viel rigider ist als bei Freud (auch wenn selbst Reich in einer Relektüre gequeert werden mag). Eine solche (hetero-)normative Ausrichtung gehört zur sexuellen Revolution von 1968 ebenso dazu wie die beginnende Fragmentierung der Sexualität. Diese Normativität ist auch in Makavejevs Humanismus spürbar, etwa in einer milden Abwertung einiger Manifestationen der sexuellen Revolution (etwa der von Warhol entdeckten, und von WR ‚übernommenen‘ Transgenderfrau Jackie Curtis). Naiv hinsichtlich der Kommerzialisierung der Sexualität in der sexuellen Revolution zeigt sich Makavejev jedenfalls nicht, eher ist es so, dass er das emanzipative Potenzial der 1968 beginnenden Rehabilitierung der ‚Perversionen‘ als sexuelle Identitäten unterschätzt. Ironischerweise wurde er darin von seinen jugoslawischen Kritikern verkannt: Sie geißelten Makavejev als Verfechter aller Emanationen sexueller Befreiung, die er gefilmt hatte.
Die Skandalisierung
Der Skandal in Jugoslawien begann, noch bevor der Film öffentlich zum ersten Mal gezeigt wurde. Das Belgrader erotische Unterhaltungsmagazin Fleš (Flash) veröffentlichte eine Serie von Fotographien vom Set von WR, die als kontextlose Assemblagen der Elemente ‚Lenin-Poster‘, ‚nackte Frau‘ (Jagoda Kaloper) und ‚Hitler-Photographie‘ schockierend wirken mussten. Makavejev witterte in Fleš eine aus Russland finanzierte Provokation. Das aufgeschreckte serbische Kultursekretariat reagierte und versuchte, die bereits erteilte Zulassung des Films für die Kinos zu annullieren. Dagegen opponierte die vojvodische Kommission für Kinematographie in Novi Sad, die im Verbot eine Einschränkung ihrer Selbstverwaltungskompetenz sah. Sie organisierte stattdessen am 5. Juni 1971 in Novi Sad eine öffentliche Vorführung und Diskussion von WR, die lang und turbulent wurde.
Die Verteidiger des Films – Intellektuelle und Filmschaffende – führten den internationalen Erfolg Makavejevs und sein befreiendes filmisches Denken ins Feld. Die Kritiker hingegen, die durch und aus dem Verband der Veteranen des Volksbefreiungskriegs (SUBNOR) rekrutiert wurden, empörten sich über Unsittlichkeit und Antikommunismus. Zwar hatte Tito schon 1948 mit dem sowjetischen Stalinismus gebrochen, dennoch erschien der Film vielen Zuschauern als zu aggressiv ‚gegen das sozialistische Brudervolk‘. Ihnen missfiel auch die von Makavejev lustig und lustvoll inszenierte Rekodierung des sozialistischen Sonderwegs Jugoslawiens als sexuellem Befreiungsprojekt. Als die salbungsvolle Hymne an die Kommunistische Partei durch die Aufnahme eines zärtlichen Geschlechtsverkehrs begleitet wurde, interpretierten die Gegner die Szene als Missbrauch patriotischer Emblematik.
Obwohl die Diskussion für den anwesenden Regisseur letztlich recht gut verlief, behielt der Veteranenverband dennoch die Überhand und weitere Aufführungen des Films wurden verboten. Der Bann gegen den Film wird in Serbien noch heute als eines der Ereignisse erinnert, die das Ende der kulturellen Liberalisierung der 1960er Jahre und den Beginn einer Verknöcherung des Staatswesens markieren, die dem Nationalismus den Weg ebnen sollte.
WR als Dokument einer Utopie Jugoslawiens
2019 erschien Goran Radovanovićs The Makavejev Trial, Or Trial in a Movie Theater (2019), ein Dokumentarfilm über die Debatte in Novi Sad mit Elementen eines Reenactments. In seinem director’s statement schreibt Radovanovićs, der Film bringe das größte Trauma des sozialistischen Jugoslawiens zum Vorschein: das Scheitern des Versuchs, Demokratie ohne wirkliche Freiheit, und Freiheit ohne wirkliche Demokratie zu etablieren. Der Film fragt auch, wo der Ort und was die Sprache einer Erinnerung an ein solches Trauma sein könnte in einer Gesellschaft, die durch die unsäglich viel größeren Traumata und Verbrechen der 1990er Jahre von dieser seiner Geschichte abgeschnitten ist.

Still aus Dušan Makavejevs „WR – Mysterien des Organismus“, Quelle: arsenal-berlin.de
Auch wenn Makavejevs Film wenig in der jugoslawischen Wirklichkeit situiert war – die Spielfilmhandlung um Milena war ganz als Satire einer Reich’schen Utopie konzipiert –, so hatte er doch große emanzipative Kraft. Makavejev hatte die Hoffnung, dass alle Bilder, die er weltweit sammelte, in seiner Heimat, einem sozialistischen Staat, nicht nur herzeigbar, sondern sogar frei kombinierbar mit der Emblematik des sozialistischen Staates wären. In dieser Möglichkeit des ‚therapeutischen‘ Tabubruchs – in dem etwa der sexualisierte gegen den politisch ästhetisierten Körper instrumentalisiert wird – sollte sich Jugoslawien unterscheiden von der Sowjetunion. Wie es ein Diskussionsteilnehmer 1971 in Novi Sad ausdrückte, solle man stolz sein auf Jugoslawien, dass es diesen Film hervorbringen konnte, und wenn es ihn aushalten kann. Diese ‚weltrevolutionäre‘ Utopie zerbrach in Jugoslawien zu Beginn der 1970er Jahre, auch wenn sie nach außen weiter gespielt wurde, etwa indem WR weiter ins Ausland verliehen wurde.
Zwar gibt es erstaunlich viele Menschen in Serbien, in den jugoslawischen Nachfolgestaaten, und weltweit, die heute passioniert das filmische Erbe Jugoslawiens bewahren. Es gibt sogar eine eigens Makavejev gewidmete Ausstellung im neuen Gebäude des Jugoslawischen Filmarchivs in Belgrad. Jedoch erscheint diese Erinnerung unter der nur schlecht bemäntelten Hegemonie des Nationalismus und den schlechten Lebensbedingungen an der Peripherie Europas, gesamtgesellschaftlich marginalisiert. Jedoch nicht nur dort, sondern überall in unserer nationalistischen und turbokapitalistischen Welt hier, lohnt es sich, ohne Nostalgie und ohne Zynismus, an World Revolution zu erinnern.