Mit Martin Walser ist einer der letzten großen Vertreter der „skeptischen Generation“ gestorben. Mit ihr neigt sich auch die von ihr durchgesetzte negative deutsche Identitätspolitik ihrem Ende zu.

  • Luca Di Blasi

    Prof. Luca Di Blasi unterrichtet Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Gegenwartsphilosophie, Politische Theologien und Theorien des Postsäkularen. Seine Monographie „Politik der Schuld“ steht kurz vor dem Abschluss.

Die großen deut­schen Print­me­dien waren sich schnell einig: Mit Martin Walser sei nicht nur ein bedeu­tender Schrift­steller gestorben, sondern auch ein wich­tiger Vertreter Nach­kriegs­deutsch­lands. Als „Chro­nist der deut­schen Seele“ bezeich­nete ihn DER SPIEGEL, für die FAZ war er eine prägende Gestalt der Bundes­re­pu­blik, für DIE ZEIT sogar „der Mann, der Deutsch­land war“.

Um zu verstehen, was „deut­sche Seele“ oder „Deutsch­land“ hier bedeuten, muss ergänzt werden, was Walser auch war: einer der letzten Prot­ago­nisten der Ende der 1920er Jahre Gebo­renen. Der Sozio­loge Helmut Schelsky nannte sie die „skep­ti­sche Gene­ra­tion“. Ihre Vertreter erschienen – das war ihr Spezi­fikum – mit Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lismus gleichsam schuldig-unschuldig. Sie waren zu jung für größere Nazi-Verbrechen, waren aber in beson­derem Maße ideo­lo­gisch vom NS-System beein­flusst worden.

Diese Zwischen­stel­lung präde­sti­nierte sie, zwischen Gene­ra­tionen und unter­schied­li­chen Geschichts­ideo­lo­gien in Ost- und West­deutsch­land zu vermit­teln. Zwei ihrer Vertreter stechen beson­ders hervor: Martin Walser und Jürgen Habermas. Walsers Projekt einer Soli­da­rität mit den Täter­vä­tern im Namen einer gemein­samen Schuld schei­terte schon mit dem Durch­bruch der 68er. Dahin­gegen gelang es Habermas, auf der Grund­lage des konse­quenten Ausschlusses der Schuld­leugner und -rela­ti­vierer, die 68er und die nach­fol­genden Gene­ra­tionen in die deut­sche Geschichte zu inte­grieren. Charak­te­ris­tisch für die „skep­ti­sche Gene­ra­tion“ ist eine um die „deut­sche Schuld“ zentrierte Iden­ti­täts­po­litik. Und eben diese Politik gelangt nun, wie die Gene­ra­tion, die sie stif­tete, an ein Ende.

Natio­na­li­sie­rung der Schuld

Die intel­lek­tu­elle Beschäf­ti­gung mit der NS-Schuld begann nicht erst mit Walser. Sie zeigte sich schon unmit­telbar nach dem Ende des Zweiten Welt­kriegs: Beson­ders in der „Stutt­garter Schuld­er­klä­rung“ der Evan­ge­li­schen Kirche in Deutsch­land (EKD) von 1945 und im Buch „Die Schuld­frage“ des Philo­so­phen Karl Jaspers von 1946. In beiden Fällen wurden Schuld und Nation mitein­ander verbunden. So war die EKD-Schrift von pronon­cierten Natio­nal­pro­tes­tanten verfasst worden. Und in seinem Buch vollzog auch Jaspers eine spezi­fi­sche Natio­na­li­sie­rung der Schuld, indem er die von Natio­nal­so­zia­listen „orga­ni­sierte Schuld“, von der seine Schü­lerin Hannah Arendt bereits Anfang 1945 gespro­chen hatte, zu einer „deut­schen Schuld“ transformierte.

Bemer­kens­wer­ter­weise spielte aber weder in der Stutt­garter Schuld­er­klä­rung noch in Jaspers’ Buch „Die Schuld­frage“ die Vernich­tung des euro­päi­schen Juden­tums eine zentrale Rolle. Erst später rückte sie ins Zentrum der öffent­li­chen Aufmerk­sam­keit, ange­stoßen insbe­son­dere durch die Ausch­witz­pro­zesse von 1963 bis 1965. Und hier war es Martin Walser, der früher und konse­quenter als andere den Holo­caust in die Mitte einer nega­tiven deut­schen Iden­ti­täts­po­litik stellte. Das hat er im Grunde schon im Titel seines berühmten Aufsatzes von 1965 arti­ku­liert: „Unser Auschwitz“.

Gegen den Bruch mit den schul­digen Tätervätern

Das proble­ma­ti­sche Grund­an­liegen dieses Essays kann bis heute leicht über­sehen werden, weil Walsers Inten­tion auf den ersten Blick radikal selbst­kri­tisch zu sein schien:

Ange­sichts dieser zwar syste­ma­tisch vorbe­rei­teten, aber dann doch in glei­ßender Subjek­ti­vität voll­zo­genen Bruta­li­täten verlieren wir den Rest von natio­naler Soli­da­rität mit den Tätern. Wir vergessen, sozu­sagen vom Ergebnis betäubt, daß wir zumin­dest gedul­dige Zeugen waren.“ (Martin Walser)

Mit dieser Zeugen­schaft sprach Walser eine kollek­tive Mitver­ant­wor­tung an und das klang selbst­kri­tisch. Tatsäch­lich aber ging es ihm gerade darum, dass diese Mitver­ant­wor­tung eine Soli­da­ri­sie­rung mit den Tätern erleich­terte. Es ging ihm nicht eigent­lich um Kollektivschuld, sondern um das Kollektiv, das durch die Kollek­tiv­schuld bewahrt blieb, um eine Gemein­schafts­be­wah­rung gegen die durch die Ausch­witz­pro­zesse aufkom­mende Gefahr eines Bruchs mit den schul­digen Täter­vä­tern. „Ausch­witz“ bekam hier erst­mals die Funk­tion, eine deut­sche Einheit (zwischen den Gene­ra­tionen ebenso wie zwischen West- und Ostdeut­schen) aufrecht­zu­er­halten. Walser kann daher als der erste bezeichnet werden, der Ausch­witz für „eine groß­deut­sche Sache“ („Unser Ausch­witz“) zu funk­tio­na­li­sieren versuchte. Das proble­ma­ti­sche Grund­an­liegen seines Essays liegt im Versuch der rest­losen Bewah­rung der deut­schen Volks- als Schuld­ge­mein­schaft einschließ­lich der Täter. Walser ist somit der Dichter einer deut­schen Täter­volks­ge­mein­schaft. Der vor fast genau fünfzig Jahren gestor­bene Max Hork­heimer hatte diese Möglich­keit der Gemein­schafts­kon­sti­tu­tion früh und deut­lich erkannt und benannt. Vermut­lich in direkter Antwort auf Walsers „Unser Ausch­witz“ schrieb er in einer Notiz Mitte der 60er Jahre:

Wir Nazis. — Immer wieder zu formu­lieren: das Schuld­be­kenntnis der Deut­schen nach der Nieder­lage des Natio­nal­so­zia­lismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völki­sche Gemein­schafts­emp­finden in die Nach­kriegs­pe­riode hinüber­zu­retten.“ (Max Horkheimer)

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Volks­ge­mein­schaft der Täter

Dieses „famose Verfahren“ zeigte sich bei Walser in aller Deut­lich­keit 1979, als er auf die durch die US-Serie Holo­caust ange­sto­ßene vergan­gen­heits­po­li­ti­sche Debatte reagierte. In seinem Text „Ausch­witz und kein Ende“ sprach er davon, dass „wir zur Volks­ge­mein­schaft der Täter gehören“. Und etwas später nannte er explizit die gemein­schafts­stif­tende Dimen­sion von Ausch­witz: Wie „wir“ auf Ausch­witz reagiert hätten, das zeige uns „eng beiein­ander. Schlimm genug, daß wir nur durch Schlimmstes, durch die Auschwitz-Schuld auf unsere Gemein­sam­keit hinge­wiesen werden können“.

Aller­dings war sein Anliegen im Grunde genommen schon kurz nach seiner ersten Formu­lie­rung mit „Unser Ausch­witz“ geschei­tert. Denn die 68er als die erste nach dem Krieg gebo­rene Gene­ra­tion rebel­lierte gegen die Väter und versuchte, sich den verschränkten Kate­go­rien von Schuld und (deut­scher) Nation gleich­zeitig zu entziehen. So ging ihre Absage an die Väter und an eine gesamt­deut­sche Schuld konse­quenter Weise mit einer Absage an den (deut­schen) Natio­nal­staat und einer Verab­schie­dung des Anlie­gens einer Wieder­ver­ei­ni­gung einher.

Sympto­ma­tisch für diesen Bruch ist das Verhältnis Walsers zum Gene­ra­ti­ons­ge­nossen Jürgen Habermas: Zuvor dessen Wegge­fährte, rückte Habermas 1979 von Walser und seinem Fest­halten an der deut­schen Einheit ab. Wenn­gleich die Geschichte in Bezug auf die Wieder­ver­ei­ni­gung Walser Recht gab, behielt Habermas dadurch jene Tuch­füh­lung mit der Neuen Linken, die Walser verlor. Genau dadurch hatte Habermas Mitte der 80er Jahre die Auto­rität, auf die Neue Linke einzu­wirken. Was Walser mit seiner Täter­volks­ge­mein­schaft nicht gelungen war, nämlich die neuen Nach­schuld­ge­ne­ra­tionen qua deut­scher Schuld im natio­nalen Boot zu halten, gelang Habermas.

Dem war die tragi­sche Ironie voraus gegangen, dass die 68er sich in ihrem Kampf um eine zure­chen­bare Unschuld, die nicht nur qua Gnade der späten Geburt geschenkt worden war, in neue poli­ti­sche Schuld verstrickt hatten. Erst nach dem Abgleiten der Radi­ka­leren der Neuen Linken in Links­ter­ro­rismus und auch der weniger Radi­kalen in linkem Anti­se­mi­tismus war die Neue Linke für die Möglich­keit einer eigenen Schuld sensi­bi­li­siert, was ihre Inte­gra­tion in die deut­sche Schuld­ge­schichte erleichterte.

Diese vollzog sich im Zuge des (ersten) Histo­ri­ker­streits 1986-87. So wie bei Walser ein wenige Jahre zuvor allge­mein einge­bür­gerter Name für den Holo­caust („Ausch­witz“) eine zentrale Rolle gespielt hatte, so war es jetzt der wenige Jahre zuvor in den USA debat­tierte Begriff der Singu­la­rität, der eine zentrale Rolle für die Errich­tung einer deut­schen Gedenk­ge­mein­schaft spielte. 

Singu­la­rität

Das Wort Singu­la­rität diente haupt­säch­lich dazu, Ernst Noltes bereits 1980 formu­lierte Rela­ti­vie­rung des Holo­caust abzu­wehren. Nolte hatte ange­sichts des Geno­zids der Roten Khmer die Prio­rität einer linken Vernich­tungs­po­litik vor einer faschis­ti­schen betont, was im Zuge des Histo­ri­ker­streits für seine Kritiker einer Rela­ti­vie­rung des Holo­caust gleichkam und damit ein Auswei­chen vor einer deut­schen histo­ri­schen Verant­wor­tung ermög­lichte. Daneben bot der Begriff genau deswegen die Möglich­keit, eine komplette Diskre­di­tie­rung der linken Geschichte abzu­wehren und machte ihn somit für die verun­si­cherte Linke attraktiv.

In einem zentralen Beitrag zum Histo­ri­ker­streit („Vom öffent­li­chen Gebrauch der Historie“) ging es Habermas wesent­lich um die Frage der Mithaf­tung der Nach­ge­bo­renen. Um eine solche zu begründen, verwen­dete er Begriffe wie „geschicht­li­ches Milieu“, sprach von „unsere[r] nationale[n] Geschichte“ und sogar von einem „kollektive[n] Schicksal“, in das die Nächsten verstrickt gewesen seien, und kam damit Heid­eg­gers Begriff des „Geschicks“ des Volkes aus Sein und Zeit (1927) erstaun­lich nahe. Auch hier war es der Bezug auf die „deut­sche Schuld“, der die Verwen­dung natio­naler Kate­go­rien akzep­tabel erscheinen lassen konnte. Mit dieser Verbin­dung aus Schuld und Nation gelang Habermas, woran Walser geschei­tert war: die Neue Linke in eine natio­nale Verant­wor­tungs­ge­mein­schaft zu integrieren.

Es gibt also Paral­lelen zwischen den Gene­ra­ti­ons­ge­nossen Walser und Habermas: Wie Walsers Täter­volks­ge­mein­schaft basierte auch die im Histo­ri­ker­streit gestif­tete Gedenk­ge­mein­schaft auf der Aner­ken­nung natio­naler Schuld, genauer: auf der Aner­ken­nung der Singu­la­rität des Holo­caust. Diame­tral anders als zur Täter­volks­ge­mein­schaft gehört zur Gedenk­ge­mein­schaft der Ausschluss all jener, die diese Schuld­an­er­ken­nung (und damit die konse­quente Absage an den Natio­nal­so­zia­lismus) nicht voll­ziehen wollen. Durch die Singu­la­ri­täts­these konnte die Rela­ti­vie­rung des Holo­caust in den Bereich der Verharm­lo­sung und damit der Leug­nung gerückt werden. Und da die sinn­ver­wandten Begriffe „Nega­tio­nismus“ und „Nega­tio­nisten“ über­haupt erst 1987 (vom Histo­riker Henry Rousso) geprägt wurden, kann man auch sagen, dass hier jene Leug­nung als schuld­po­li­tisch rele­vante Kate­gorie wirksam wurde, die seitdem auf immer neue poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Bereiche (Klima, Corona) über­tragen wurde und jeweils zur Poli­ti­sie­rung von Debatten beitrug.

Die „deut­sche Schuld“ hat zwar ihre Schul­dig­keit getan, aber…

Vor diesem Hinter­grund wird erkennbar, wie irrig es ist, Walsers 1998 viel disku­tierte Pauls­kir­chen­rede vom frühen Walser abzu­trennen. Denn hier tauchen die glei­chen Grund­mo­tive wieder auf. Noch immer sah sich Walser als Teil einer Täter­volks­ge­mein­schaft, noch immer galt sein Inter­esse der Einheit, wobei sich diese nach Voll­endung der äußeren auf die innere Verfas­sung Gesamt­deutsch­lands richtete.

Spätes­tens hier aber zeigte sich in Walsers ableh­nenden Haltung gegen­über dem Holo­caust­mahnmal („Dauer­prä­sen­ta­tion unserer Schande“) deut­lich ein tiefer Wider­spruch, der entstehen musste, wenn der Holo­caust zum Mittel der Bewah­rung einer deut­schen Volks­ge­mein­schaft instru­men­ta­li­siert würde. Denn jetzt, wo die deut­sche Einheit erreicht war, hatte für Walser die „deut­sche Schuld“ ihre Schul­dig­keit getan. Sie konnte sich in die Inner­lich­keit des jeweils Einzelnen zurück­ziehen. Die Stan­ding Ovations in der Pauls­kirche im Anschluss an seine Rede zeugten davon, wie verbreitet dieser Wunsch auch in gebil­deten Kreisen war.

Man unter­schätzt aber das Problem einer auf Schuld basie­renden Gemein­schaft, wenn man meint, es beschränke sich ledig­lich auf Walsers Täter­volks­ge­mein­schaft. Dass das Problem auch die deut­sche Gedenk­ge­mein­schaft betrifft, zeigte sich gerade anhand jenes Mahn­mals, das diese Gemein­schaft reprä­sen­tiert. Es schließt nämlich nicht nur die Leug­ne­rinnen und Rela­ti­vierer aus, sondern, obwohl es „Denkmal für die ermor­deten Juden Europas“ heißt, auch nicht­deut­sche Nazi­opfer, ebenso wie die einge­bür­gerten Immi­gran­tinnen nach 1945.

Das arti­ku­lierte 1999 kein anderer als Jürgen Habermas in aller Deutlichkeit:

Nicht die jüdi­schen Deut­schen, nicht die hier lebenden Sinti und Roma, nicht die seit dem Ende des Zweiten Welt­krieges einge­bür­gerten Immi­granten können sagen, was dieses Denkmal ausdrü­cken soll. Stifter sind dieje­nigen Bürger, die sich als die unmit­tel­baren Erben einer Kultur, in der das möglich war, vorfinden – in einem Tradi­ti­ons­zu­sam­men­hang, den sie mit der Täter­ge­nera­tion teilen.“ (Jürgen Habermas)

Das Mahnmal reprä­sen­tiert die deut­sche Gedenk­ge­mein­schaft. Und weil diese, wie Walsers Täter­volks­ge­mein­schaft, auf dem Einge­ständnis und der Aner­ken­nung der Verant­wor­tung einer gemein­samen Schuld basiert, schließt sie letzt­lich die Opfer und Zuge­wan­derten, die nicht dieser Schuld­ge­mein­schaft entstammen, aus.

Zeiten­wende des Erinnerns

Eben dieser Wider­spruch musste sich mit den großen Migra­ti­ons­be­we­gungen der vergan­genen zehn Jahre verschärfen, vor allem ange­sichts einer wach­senden Zahl von Menschen, für die der euro­päi­sche Kolo­nia­lismus eine größere Rolle spielte als der Holo­caust. Genau dieses Problem wurde im (von Dirk Moses in Geschichte der Gegen­wart initi­ierten) Zweiten Histo­ri­ker­streit von 2021 ausge­tragen. Wenn hier die Singu­la­rität des Holo­caust durch Verweis auf die Kolonial- und Rassis­mus­ge­schichte Europas in Frage gestellte wurde, dann ging es gerade um die Frage, inwie­weit eine um den Holo­caust zentrierte deut­sche Gedenk­ge­mein­schaft noch in der Lage ist, eine post­mi­gran­ti­sche deut­sche Gesell­schaft zu inte­grieren. Diese Gedenk­ge­mein­schaft scheint mitt­ler­weile, bei allen Verdiensten, zu einem „Instru­ment der Ausgren­zung geworden“ zu sein.

Dass sich daran aktuell etwas ändert, zeigt sich schon in seman­ti­scher Hinsicht: Nachdem bereits die deut­sche Außen­mi­nis­terin Anna­lena Baer­bock Ende 2022 mit Blick auf den Krieg Russ­lands gegen die Ukraine von einem „Bruch der Zivi­li­sa­tion“ gespro­chen hatte, verwen­dete der Leiter der Münchner Sicher­heits­kon­fe­renz, Chris­toph Heusgen, Anfang des Jahres für den russi­schen Angriff exakt jenen Begriff, der bis dahin dem größten aller Verbre­chen, dem Holo­caust, vorbe­halten war: „Zivi­li­sa­ti­ons­bruch“. Mehr noch als diese jewei­lige Wort­wahl war signi­fi­kant, dass in beiden Fällen kaum öffent­liche Kritik zu vernehmen war. 

Der Histo­riker Dan Diner, der den Begriff des „Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs“ geprägt hatte, sprach 2022 von der Erosion der Singu­la­rität des Holo­caust. Damit wird auch eine der zentralen Stützen der Gedenk­ge­mein­schaft brüchig und ihre Erosion schreitet seit dem Krieg in der Ukraine und der kurz darauf ausge­ru­fenen „Zeiten­wende“ noch voran. Deckte sich die deut­sche Gedenk­ge­mein­schaft zeit­lich sehr genau mit einer, maßgeb­lich von Michail Gorbat­schow nach 1985 ermög­lichten, Phase der Demi­li­ta­ri­sie­rung und „Frie­dens­di­vi­dende“, scheint die Beto­nung deut­scher Schuld in Zeiten der Remi­li­ta­ri­sie­rung allmäh­lich unzeit­gemäß zu werden.

Martin Walser hat, früher als andere, die ambi­va­lente und eben auch einheits­be­wah­rende Dimen­sion erspürt, die in natio­nalen Schuld­vor­würfen und -bekennt­nissen verborgen war. „Der Mann, der Deutsch­land war“, war deswegen Deutsch­land, weil er, wie kein Zweiter, das deut­sche Nach­kriegs­di­lemma verkör­perte: den inneren Wider­spruch einer nega­tiven, auf Schuld beru­henden natio­nalen Iden­tität, die sich mehr für die Soli­da­rität mit den Tätern als mit den Opfern inter­es­sierte. In ihrem Flucht­punkt stand die Unmög­lich­keit einer natio­nalen Schuld­ge­mein­schaft ohne Schuld.