Die großen deutschen Printmedien waren sich schnell einig: Mit Martin Walser sei nicht nur ein bedeutender Schriftsteller gestorben, sondern auch ein wichtiger Vertreter Nachkriegsdeutschlands. Als „Chronist der deutschen Seele“ bezeichnete ihn DER SPIEGEL, für die FAZ war er eine prägende Gestalt der Bundesrepublik, für DIE ZEIT sogar „der Mann, der Deutschland war“.
Um zu verstehen, was „deutsche Seele“ oder „Deutschland“ hier bedeuten, muss ergänzt werden, was Walser auch war: einer der letzten Protagonisten der Ende der 1920er Jahre Geborenen. Der Soziologe Helmut Schelsky nannte sie die „skeptische Generation“. Ihre Vertreter erschienen – das war ihr Spezifikum – mit Bezug auf den Nationalsozialismus gleichsam schuldig-unschuldig. Sie waren zu jung für größere Nazi-Verbrechen, waren aber in besonderem Maße ideologisch vom NS-System beeinflusst worden.
Diese Zwischenstellung prädestinierte sie, zwischen Generationen und unterschiedlichen Geschichtsideologien in Ost- und Westdeutschland zu vermitteln. Zwei ihrer Vertreter stechen besonders hervor: Martin Walser und Jürgen Habermas. Walsers Projekt einer Solidarität mit den Tätervätern im Namen einer gemeinsamen Schuld scheiterte schon mit dem Durchbruch der 68er. Dahingegen gelang es Habermas, auf der Grundlage des konsequenten Ausschlusses der Schuldleugner und -relativierer, die 68er und die nachfolgenden Generationen in die deutsche Geschichte zu integrieren. Charakteristisch für die „skeptische Generation“ ist eine um die „deutsche Schuld“ zentrierte Identitätspolitik. Und eben diese Politik gelangt nun, wie die Generation, die sie stiftete, an ein Ende.
Nationalisierung der Schuld
Die intellektuelle Beschäftigung mit der NS-Schuld begann nicht erst mit Walser. Sie zeigte sich schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Besonders in der „Stuttgarter Schulderklärung“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1945 und im Buch „Die Schuldfrage“ des Philosophen Karl Jaspers von 1946. In beiden Fällen wurden Schuld und Nation miteinander verbunden. So war die EKD-Schrift von prononcierten Nationalprotestanten verfasst worden. Und in seinem Buch vollzog auch Jaspers eine spezifische Nationalisierung der Schuld, indem er die von Nationalsozialisten „organisierte Schuld“, von der seine Schülerin Hannah Arendt bereits Anfang 1945 gesprochen hatte, zu einer „deutschen Schuld“ transformierte.
Bemerkenswerterweise spielte aber weder in der Stuttgarter Schulderklärung noch in Jaspers’ Buch „Die Schuldfrage“ die Vernichtung des europäischen Judentums eine zentrale Rolle. Erst später rückte sie ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, angestoßen insbesondere durch die Auschwitzprozesse von 1963 bis 1965. Und hier war es Martin Walser, der früher und konsequenter als andere den Holocaust in die Mitte einer negativen deutschen Identitätspolitik stellte. Das hat er im Grunde schon im Titel seines berühmten Aufsatzes von 1965 artikuliert: „Unser Auschwitz“.
Gegen den Bruch mit den schuldigen Tätervätern
Das problematische Grundanliegen dieses Essays kann bis heute leicht übersehen werden, weil Walsers Intention auf den ersten Blick radikal selbstkritisch zu sein schien:
Angesichts dieser zwar systematisch vorbereiteten, aber dann doch in gleißender Subjektivität vollzogenen Brutalitäten verlieren wir den Rest von nationaler Solidarität mit den Tätern. Wir vergessen, sozusagen vom Ergebnis betäubt, daß wir zumindest geduldige Zeugen waren.“ (Martin Walser)
Mit dieser Zeugenschaft sprach Walser eine kollektive Mitverantwortung an und das klang selbstkritisch. Tatsächlich aber ging es ihm gerade darum, dass diese Mitverantwortung eine Solidarisierung mit den Tätern erleichterte. Es ging ihm nicht eigentlich um Kollektivschuld, sondern um das Kollektiv, das durch die Kollektivschuld bewahrt blieb, um eine Gemeinschaftsbewahrung gegen die durch die Auschwitzprozesse aufkommende Gefahr eines Bruchs mit den schuldigen Tätervätern. „Auschwitz“ bekam hier erstmals die Funktion, eine deutsche Einheit (zwischen den Generationen ebenso wie zwischen West- und Ostdeutschen) aufrechtzuerhalten. Walser kann daher als der erste bezeichnet werden, der Auschwitz für „eine großdeutsche Sache“ („Unser Auschwitz“) zu funktionalisieren versuchte. Das problematische Grundanliegen seines Essays liegt im Versuch der restlosen Bewahrung der deutschen Volks- als Schuldgemeinschaft einschließlich der Täter. Walser ist somit der Dichter einer deutschen Tätervolksgemeinschaft. Der vor fast genau fünfzig Jahren gestorbene Max Horkheimer hatte diese Möglichkeit der Gemeinschaftskonstitution früh und deutlich erkannt und benannt. Vermutlich in direkter Antwort auf Walsers „Unser Auschwitz“ schrieb er in einer Notiz Mitte der 60er Jahre:
Wir Nazis. — Immer wieder zu formulieren: das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten.“ (Max Horkheimer)
Volksgemeinschaft der Täter
Dieses „famose Verfahren“ zeigte sich bei Walser in aller Deutlichkeit 1979, als er auf die durch die US-Serie Holocaust angestoßene vergangenheitspolitische Debatte reagierte. In seinem Text „Auschwitz und kein Ende“ sprach er davon, dass „wir zur Volksgemeinschaft der Täter gehören“. Und etwas später nannte er explizit die gemeinschaftsstiftende Dimension von Auschwitz: Wie „wir“ auf Auschwitz reagiert hätten, das zeige uns „eng beieinander. Schlimm genug, daß wir nur durch Schlimmstes, durch die Auschwitz-Schuld auf unsere Gemeinsamkeit hingewiesen werden können“.
Allerdings war sein Anliegen im Grunde genommen schon kurz nach seiner ersten Formulierung mit „Unser Auschwitz“ gescheitert. Denn die 68er als die erste nach dem Krieg geborene Generation rebellierte gegen die Väter und versuchte, sich den verschränkten Kategorien von Schuld und (deutscher) Nation gleichzeitig zu entziehen. So ging ihre Absage an die Väter und an eine gesamtdeutsche Schuld konsequenter Weise mit einer Absage an den (deutschen) Nationalstaat und einer Verabschiedung des Anliegens einer Wiedervereinigung einher.
Symptomatisch für diesen Bruch ist das Verhältnis Walsers zum Generationsgenossen Jürgen Habermas: Zuvor dessen Weggefährte, rückte Habermas 1979 von Walser und seinem Festhalten an der deutschen Einheit ab. Wenngleich die Geschichte in Bezug auf die Wiedervereinigung Walser Recht gab, behielt Habermas dadurch jene Tuchfühlung mit der Neuen Linken, die Walser verlor. Genau dadurch hatte Habermas Mitte der 80er Jahre die Autorität, auf die Neue Linke einzuwirken. Was Walser mit seiner Tätervolksgemeinschaft nicht gelungen war, nämlich die neuen Nachschuldgenerationen qua deutscher Schuld im nationalen Boot zu halten, gelang Habermas.
Dem war die tragische Ironie voraus gegangen, dass die 68er sich in ihrem Kampf um eine zurechenbare Unschuld, die nicht nur qua Gnade der späten Geburt geschenkt worden war, in neue politische Schuld verstrickt hatten. Erst nach dem Abgleiten der Radikaleren der Neuen Linken in Linksterrorismus und auch der weniger Radikalen in linkem Antisemitismus war die Neue Linke für die Möglichkeit einer eigenen Schuld sensibilisiert, was ihre Integration in die deutsche Schuldgeschichte erleichterte.
Diese vollzog sich im Zuge des (ersten) Historikerstreits 1986-87. So wie bei Walser ein wenige Jahre zuvor allgemein eingebürgerter Name für den Holocaust („Auschwitz“) eine zentrale Rolle gespielt hatte, so war es jetzt der wenige Jahre zuvor in den USA debattierte Begriff der Singularität, der eine zentrale Rolle für die Errichtung einer deutschen Gedenkgemeinschaft spielte.
Singularität
Das Wort Singularität diente hauptsächlich dazu, Ernst Noltes bereits 1980 formulierte Relativierung des Holocaust abzuwehren. Nolte hatte angesichts des Genozids der Roten Khmer die Priorität einer linken Vernichtungspolitik vor einer faschistischen betont, was im Zuge des Historikerstreits für seine Kritiker einer Relativierung des Holocaust gleichkam und damit ein Ausweichen vor einer deutschen historischen Verantwortung ermöglichte. Daneben bot der Begriff genau deswegen die Möglichkeit, eine komplette Diskreditierung der linken Geschichte abzuwehren und machte ihn somit für die verunsicherte Linke attraktiv.
In einem zentralen Beitrag zum Historikerstreit („Vom öffentlichen Gebrauch der Historie“) ging es Habermas wesentlich um die Frage der Mithaftung der Nachgeborenen. Um eine solche zu begründen, verwendete er Begriffe wie „geschichtliches Milieu“, sprach von „unsere[r] nationale[n] Geschichte“ und sogar von einem „kollektive[n] Schicksal“, in das die Nächsten verstrickt gewesen seien, und kam damit Heideggers Begriff des „Geschicks“ des Volkes aus Sein und Zeit (1927) erstaunlich nahe. Auch hier war es der Bezug auf die „deutsche Schuld“, der die Verwendung nationaler Kategorien akzeptabel erscheinen lassen konnte. Mit dieser Verbindung aus Schuld und Nation gelang Habermas, woran Walser gescheitert war: die Neue Linke in eine nationale Verantwortungsgemeinschaft zu integrieren.
Es gibt also Parallelen zwischen den Generationsgenossen Walser und Habermas: Wie Walsers Tätervolksgemeinschaft basierte auch die im Historikerstreit gestiftete Gedenkgemeinschaft auf der Anerkennung nationaler Schuld, genauer: auf der Anerkennung der Singularität des Holocaust. Diametral anders als zur Tätervolksgemeinschaft gehört zur Gedenkgemeinschaft der Ausschluss all jener, die diese Schuldanerkennung (und damit die konsequente Absage an den Nationalsozialismus) nicht vollziehen wollen. Durch die Singularitätsthese konnte die Relativierung des Holocaust in den Bereich der Verharmlosung und damit der Leugnung gerückt werden. Und da die sinnverwandten Begriffe „Negationismus“ und „Negationisten“ überhaupt erst 1987 (vom Historiker Henry Rousso) geprägt wurden, kann man auch sagen, dass hier jene Leugnung als schuldpolitisch relevante Kategorie wirksam wurde, die seitdem auf immer neue politische und gesellschaftliche Bereiche (Klima, Corona) übertragen wurde und jeweils zur Politisierung von Debatten beitrug.
Die „deutsche Schuld“ hat zwar ihre Schuldigkeit getan, aber…
Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie irrig es ist, Walsers 1998 viel diskutierte Paulskirchenrede vom frühen Walser abzutrennen. Denn hier tauchen die gleichen Grundmotive wieder auf. Noch immer sah sich Walser als Teil einer Tätervolksgemeinschaft, noch immer galt sein Interesse der Einheit, wobei sich diese nach Vollendung der äußeren auf die innere Verfassung Gesamtdeutschlands richtete.
Spätestens hier aber zeigte sich in Walsers ablehnenden Haltung gegenüber dem Holocaustmahnmal („Dauerpräsentation unserer Schande“) deutlich ein tiefer Widerspruch, der entstehen musste, wenn der Holocaust zum Mittel der Bewahrung einer deutschen Volksgemeinschaft instrumentalisiert würde. Denn jetzt, wo die deutsche Einheit erreicht war, hatte für Walser die „deutsche Schuld“ ihre Schuldigkeit getan. Sie konnte sich in die Innerlichkeit des jeweils Einzelnen zurückziehen. Die Standing Ovations in der Paulskirche im Anschluss an seine Rede zeugten davon, wie verbreitet dieser Wunsch auch in gebildeten Kreisen war.
Man unterschätzt aber das Problem einer auf Schuld basierenden Gemeinschaft, wenn man meint, es beschränke sich lediglich auf Walsers Tätervolksgemeinschaft. Dass das Problem auch die deutsche Gedenkgemeinschaft betrifft, zeigte sich gerade anhand jenes Mahnmals, das diese Gemeinschaft repräsentiert. Es schließt nämlich nicht nur die Leugnerinnen und Relativierer aus, sondern, obwohl es „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ heißt, auch nichtdeutsche Naziopfer, ebenso wie die eingebürgerten Immigrantinnen nach 1945.
Das artikulierte 1999 kein anderer als Jürgen Habermas in aller Deutlichkeit:
Nicht die jüdischen Deutschen, nicht die hier lebenden Sinti und Roma, nicht die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingebürgerten Immigranten können sagen, was dieses Denkmal ausdrücken soll. Stifter sind diejenigen Bürger, die sich als die unmittelbaren Erben einer Kultur, in der das möglich war, vorfinden – in einem Traditionszusammenhang, den sie mit der Tätergeneration teilen.“ (Jürgen Habermas)
Das Mahnmal repräsentiert die deutsche Gedenkgemeinschaft. Und weil diese, wie Walsers Tätervolksgemeinschaft, auf dem Eingeständnis und der Anerkennung der Verantwortung einer gemeinsamen Schuld basiert, schließt sie letztlich die Opfer und Zugewanderten, die nicht dieser Schuldgemeinschaft entstammen, aus.
Zeitenwende des Erinnerns
Eben dieser Widerspruch musste sich mit den großen Migrationsbewegungen der vergangenen zehn Jahre verschärfen, vor allem angesichts einer wachsenden Zahl von Menschen, für die der europäische Kolonialismus eine größere Rolle spielte als der Holocaust. Genau dieses Problem wurde im (von Dirk Moses in Geschichte der Gegenwart initiierten) Zweiten Historikerstreit von 2021 ausgetragen. Wenn hier die Singularität des Holocaust durch Verweis auf die Kolonial- und Rassismusgeschichte Europas in Frage gestellte wurde, dann ging es gerade um die Frage, inwieweit eine um den Holocaust zentrierte deutsche Gedenkgemeinschaft noch in der Lage ist, eine postmigrantische deutsche Gesellschaft zu integrieren. Diese Gedenkgemeinschaft scheint mittlerweile, bei allen Verdiensten, zu einem „Instrument der Ausgrenzung geworden“ zu sein.
Dass sich daran aktuell etwas ändert, zeigt sich schon in semantischer Hinsicht: Nachdem bereits die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Ende 2022 mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine von einem „Bruch der Zivilisation“ gesprochen hatte, verwendete der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, Anfang des Jahres für den russischen Angriff exakt jenen Begriff, der bis dahin dem größten aller Verbrechen, dem Holocaust, vorbehalten war: „Zivilisationsbruch“. Mehr noch als diese jeweilige Wortwahl war signifikant, dass in beiden Fällen kaum öffentliche Kritik zu vernehmen war.
Der Historiker Dan Diner, der den Begriff des „Zivilisationsbruchs“ geprägt hatte, sprach 2022 von der Erosion der Singularität des Holocaust. Damit wird auch eine der zentralen Stützen der Gedenkgemeinschaft brüchig und ihre Erosion schreitet seit dem Krieg in der Ukraine und der kurz darauf ausgerufenen „Zeitenwende“ noch voran. Deckte sich die deutsche Gedenkgemeinschaft zeitlich sehr genau mit einer, maßgeblich von Michail Gorbatschow nach 1985 ermöglichten, Phase der Demilitarisierung und „Friedensdividende“, scheint die Betonung deutscher Schuld in Zeiten der Remilitarisierung allmählich unzeitgemäß zu werden.
Martin Walser hat, früher als andere, die ambivalente und eben auch einheitsbewahrende Dimension erspürt, die in nationalen Schuldvorwürfen und -bekenntnissen verborgen war. „Der Mann, der Deutschland war“, war deswegen Deutschland, weil er, wie kein Zweiter, das deutsche Nachkriegsdilemma verkörperte: den inneren Widerspruch einer negativen, auf Schuld beruhenden nationalen Identität, die sich mehr für die Solidarität mit den Tätern als mit den Opfern interessierte. In ihrem Fluchtpunkt stand die Unmöglichkeit einer nationalen Schuldgemeinschaft ohne Schuld.
Gerade die Schweiz brüstet sich gerne damit, sich während des Naziterrors nicht die Hände schmutzig gemacht zu haben, denn die Schuld liege ja bei der deutschen Nation. So beschwört sie bis heute, zur Zeit des russischen Terrors, ihre ‚Neutralität‘. In Wahrheit profitiert sie damals wie heute von der heimlichen Kollaboration mit der Diktatur. Grosse Teile des christlichen Europas waren verstrickt in die Gräuel des Genozids. Aber es ist vordergründig einfacher, den Deutschen alle Schuld zu geben. Auf lange Sicht hingegen wird es für die EU unausweichlich, sich der gemeinsamen Schuld der kolonialen und faschistischen Gräuel zu stellen, ohne die einen… Mehr anzeigen »