Um einem populistischen, biologisch begründeten Volksbegriff ein anderes Konzept entgegenzusetzen, reicht es nicht aus, auf die Verfassung hinzuweisen. Wer zum Volk gehört, war immer auch eine Frage der Inklusion und Exklusion und Verhandlungssache. Umso wichtiger, kulturelle Differenz nicht zu politisieren.

  • Michael Wildt

    Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt Universität zu Berlin. Jüngste Veröffentlichung: "Volk, Volksgemeinschaft, AfD", Hamburg 2017.

Alle Gewalt geht vom Volk aus – so lautet der Grund­satz in den demo­kra­ti­schen Verfas­sungen. Demo­kratie heißt Herr­schaft des Volkes. Aber wer ist das Volk? Der Begriff ,Volk‘ führt stets die blutigen Kämpfe mit sich, die in seinem Namen geführt werden: die Abgren­zungen nach oben und unten, nach innen und außen. Staats­volk will nichts gemein haben mit dem Pöbel, der Menge, den Massen; allein das Wort Volks­herr­schaft, gar in der Doppe­lung Volks­de­mo­kratie, ruft die Asso­zia­tionen Terror, Anar­chie und Willkür hervor. Das auser­wählte Volk Gottes glaubt sich gegen­über den ungläu­bigen Völkern in einer unzwei­fel­haften Posi­tion der Über­le­gen­heit; das Volk zur Nation gekürt verwan­delt die Bevöl­ke­rung eines Terri­to­riums in eine Abstam­mungs­ge­mein­schaft oder in Staats­bürger, die sich eben­falls mit der ganzen Kraft des natur­recht­li­chen Vernunft­an­spruchs zur moder­ni­sie­renden Herr­schaft über andere Völker und Nationen berufen sehen können.

Das Volk als revo­lu­tio­näre Kraft

Wir waren nach 1989/90 gewohnt, im Volk eine demo­kra­ti­sche Kraft zu erkennen. Die oran­ge­far­benen Massen, die in Kiew 2004 erfolg­reich für die Neuwahl des Präsi­denten demons­triert haben, nahmen für sich wie selbst­ver­ständ­lich in Anspruch, für das ukrai­ni­sche Volk zu spre­chen. Die Demons­tranten in Leipzig, Berlin und anderswo in der dama­ligen DDR skan­dierten 1989 „Wir sind das Volk“ und brachten das SED-Regime zum Einsturz. Judith Butler hat jüngst noch einmal diese revo­lu­tio­näre Kraft unter­stri­chen: „Ein gewähltes Regime kann von einer öffent­li­chen Versamm­lung zum Still­stand gebracht oder bezwungen werden, die ‚im Namen des Volkes‘ spricht und damit jenes ‚Wir‘ insze­niert, das unter demo­kra­ti­schen Herr­schafts­be­din­gungen die entschei­dende Legi­ti­ma­ti­ons­in­stanz ist.“ Eben diese poli­ti­sche Macht, die im Anspruch steckt, das Volk zu sein, versu­chen heute popu­lis­ti­sche Bewe­gungen für sich zu gewinnen, die von sich behaupten, das „wahre“ Volk zu repräsentieren. 

Happe­ning Berlin 2002, Quelle: sonicedevelopment.com

Doch würde es sich die Kritik am Popu­lismus zu leicht machen, wenn sie dem „wahren“ Volk der Popu­listen das „wahre“ Volk der libe­ralen Demo­kratie entge­gen­setzen, also dem parti­ku­laren Anspruch einer poli­ti­schen Gruppe, das Volk zu reprä­sen­tieren, ein Volk gegen­über­stellen würde, das aus allen Staats­bür­ge­rinnen und Staats­bür­gern besteht. Denn so universal, ursprüng­lich, unver­än­der­lich wie die anti-populistische Rhetorik in der Gegen­wart klingt, sind Defi­ni­tionen dessen, was denn das Volk sei, keines­wegs. Auch der demos kennt Exklu­sion und Inklu­sion, vor allem, wenn man den Begriff Volk histo­ri­siert und einen Blick in die Geschichte des Volkes wirft. Wer zum Volk gehören darf und wer nicht, wurde stets ausgehandelt.

Aushand­lungen

Zur polis im antiken Athen gehörten die besit­zenden, freien Männer, ausge­schlossen waren Ausländer, Sklaven und Frauen. Das Volk, das in der nord­ame­ri­ka­ni­schen Verfas­sung 1787 mit „We, the people of the United States“ empha­tisch beschworen wird, umfasste freie, weiße Männer, keine Frauen, keine Indi­genen und erst recht keine Sklaven. Und wenn in der Erklä­rung der Menschen- und Bürger­rechte, die die fran­zö­si­sche Natio­nal­ver­samm­lung am 26. August 1789 feier­lich verab­schie­dete, fest­ge­halten wurde, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren würden und die Souve­rä­nität im Staat nur beim Volk liegen könne, so waren Frauen weniger gleich, denn sie gehörten nicht zu diesem Volk. Und auch die Sklaven der fran­zö­si­schen Kolonie Saint-Domingue, die nun auch für sich das Recht in Anspruch nahmen, freie Menschen zu sein, stießen auf Wider­spruch im revo­lu­tio­nären Paris und mussten ihre Aner­ken­nung mit einem gewalt­samen Aufstand erzwingen.

Quelle: locopengu.com

Das Wahl­recht für Frauen wurde übri­gens in den meisten euro­päi­schen Ländern erst nach dem Ersten Welt­krieg einge­führt, in der Schweiz bekann­ter­maßen erst 1971, im Kanton Appen­zell Inner­rhoden sogar erst 1990, nachdem das Schweizer Bundes­ge­richt der Klage etli­cher Frauen stattgab und die Verfas­sungs­wid­rig­keit der Kantons­ver­fas­sung bestä­tigte – gegen die Mehr­heits­ent­schei­dung der männ­li­chen Wähler im Kanton, die an der bishe­rigen, Frauen ausschlie­ßenden Verfas­sung fest­halten wollten.

Die enge Verbin­dung, die Volk und Nation in Europa im 19. Jahr­hun­dert eingingen, verstärkte kultu­relle Diffe­renz­kri­te­rien. Die von Gelehrten sorgsam ausge­ar­bei­teten natio­nalen Spra­chen sowie die von Histo­ri­kern entwor­fenen Natio­nal­ge­schichten setzten das eine Volk von dem anderem ab und sorgten nicht nur für hori­zon­tale, sondern auch für verti­kale Unter­schiede. Manche Völker konnten sich nun histo­risch höher­ent­wi­ckelt, „zivi­li­sierter“ dünken und aus ihrem „Volks­cha­rakter“ heraus Herr­schaft über die übrigen Völker beanspruchen.

Ethni­sie­rung des Volksbegriffs

Verwan­delte man Geschichte in Abstam­mung, entschied über die Zuge­hö­rig­keit zum Volk nicht mehr Sprache oder Kultur, das „Blut“ bestimmte über Inklu­sion und Exklu­sion – und damit über ein Merkmal, das nicht mehr der freien Entschei­dung einzelner Menschen unterlag. Wer Deut­scher, Fran­zose, Pole oder Jude sei, bildete eine im Kern rassis­ti­sche Defi­ni­tion im Sinne eines Ausschlusses des „Anderen“ und der „Rein­hal­tung“ der eigenen Gemeinschaft.

Foto: Joachim E. Rött­gers, Quelle: kontextwochenzeitung.de

Die Ethni­sie­rung des Volkes hat im 20. Jahr­hun­dert rasant an Verbrei­tung und Legi­ti­mität gewonnen und in der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­ge­mein­schaft als Gestalt des rassis­ti­schen, anti­se­mi­ti­schen und gewalt­tä­tigen Volkes ihren mörde­ri­schen Höhe­punkt erreicht. Diese Defi­ni­tion des Volkes sprengte natio­nal­staat­liche Grenzen und völker­recht­liche Verein­ba­rungen. Mit dem Satz „Recht ist, was dem Volke nutzt“ ließ sich jede Verfolgungs- und Vernich­tungs­po­litik gegen Juden, „Fremd­völ­ki­sche“ und „Gemein­schafts­fremde“ in Deutsch­land ebenso wie der geno­zi­dale „Lebensraum“-Krieg gegen die übrigen euro­päi­schen Völker recht­fer­tigen. Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Volks­ge­mein­schaft setzte das poli­ti­sche und soziale Volk als rassis­tisch defi­nierte, homo­ge­ni­sierte, „gesäu­berte“ und zu „säubernde“ Gemein­schaft in eins, elimi­nierte indi­vi­du­elle wie kollek­tive Rechte zugunsten eines Verständ­nisses von sozialer und poli­ti­scher Parti­zi­pa­tion als „Dienst am Volk“. So sicher wir uns wären, das NS-Regime als unde­mo­kra­tisch zu kenn­zeichnen, weil es Freiheits-, ja Exis­tenz­rechte seiner Bürge­rinnen und Bürger negierte, so konnte es sich doch bis weit in den Krieg hinein der Zustim­mung der weitaus großen Mehr­heit eines Volkes sicher sein, das den Ausschluss des „Hete­ro­genen“ offen­kundig billigte. 

Bei aller sorg­fäl­tigen Einhe­gung der Volks­ge­walt durch die Verfas­sung, trotz aller Verfah­rens­re­geln, mit denen das Volk in einer reprä­sen­ta­tiven, rechts­staat­li­chen Demo­kratie seine Gewalt ausübt, kann doch nichts darüber hinweg­täu­schen, dass das Volk der Souverän der Demo­kratie ist und über die poli­ti­sche Ordnung entscheiden kann, auch gegen die Verfas­sung. Das libe­rale Argu­ment verwischt, dass es keine „gute“ Tradi­tion des Volkes gibt, die es gegen Popu­listen zu vertei­digen gelte, sondern poli­ti­sche Exklu­sion auch in der Vergan­gen­heit mit kultu­rellen Diffe­renzen begründet wurde. Die mögliche rassis­ti­sche Selbst­de­fi­ni­tion als Volk weist auf die Macht wie auf die Gefahr von Volks­sou­ve­rä­nität hin.

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Poli­ti­sches Volk und kultu­relle Differenz

Kultu­relle Diffe­renzen sind nichts Unge­wöhn­li­ches. Es hat stets verschie­dene Auffas­sungen in Gesell­schaften gegeben, wer zu einer jewei­ligen Gruppe dazu gehören darf oder nicht, begleitet von Aushand­lungs­pro­zesse, denn solche kultu­rellen Grenzen verän­dern sich im Laufe der Zeit aufgrund wech­selnder Kontexte. Folg­lich waren und sind auch soziale wie kultu­relle Zuge­hö­rig­keiten fluid. Die gegen­wär­tige Rede vom „christlich-jüdischen Abend­land“ ist dafür ein beredtes Beispiel, hat doch das „christ­liche Abend­land“ in den vergan­genen Jahr­hun­derten immer wieder deut­lich gemacht, dass die jüdi­sche Minder­heit nicht zuge­hörig sei. 

Quelle: wiki­pedia

Proble­ma­tisch wird es, wenn kultu­relle Grenz­zie­hungen mit recht­li­chen und poli­ti­schen Sank­tionen verbunden werden, also zum Beispiel die Frage des reli­giösen Bekennt­nisses mit der Staats­bür­ger­schaft, der „Volks­zu­ge­hö­rig­keit“ verknüpft wird. Der Satz, dass der Islam nicht zu Deutsch­land, zu Frank­reich, zur Schweiz etc. gehöre, will weniger eine reli­giöse oder kultu­relle als eine poli­ti­sche Grenze bestimmen, mit der jene, die nicht zu „uns“ gehören, benannt werden. Damit wird, was „deutsch“, „fran­zö­sisch“, „schwei­ze­risch“ ist, durch Ausgren­zung defi­niert – eine Grenz­zie­hung, die sich gegen die geltenden Verfas­sungen richtet, die sämt­lich die Reli­gi­ons­frei­heit ausdrück­lich gewährleisten. 

Vielen, die sich jetzt zur Vertei­di­gung eines „jüdisch-christlichen Abend­landes“ aufschwingen – als hätte es den Holo­caust nicht gegeben –, ist Reli­gion längst einerlei. Kirchen werden kaum noch besucht, christ­liche Feier­tage als Urlaubs­tage gern genutzt, ohne noch zu verstehen, welche reli­giöse Bedeu­tung diese Feier­tage besitzen. Ähnlich wie gegen­über den Juden, deren reli­giöse Praxis zur nicht-integrierbaren kultu­rellen Diffe­renz erklärt wurde, wird der Islam als „Fremdes“ begriffen. Bei aller reli­giösen Rhetorik geht es in der Ableh­nung des Islam offen­kundig weniger um die Vertei­di­gung christ­li­cher Werte als viel­mehr um „Othe­ring“, um die poli­ti­sche Grenze von Zuge­hö­rig­keit und Nicht-Zugehörigkeit.

Von zentraler Bedeu­tung ist daher, kultu­relle Diffe­renzen nicht zu Krite­rien von „Volks­zu­ge­hö­rig­keit“ und Staats­bür­ger­schaft zu machen. Wenn es eine Einsicht aus der rassis­ti­schen, mörde­ri­schen Volks­de­fi­ni­tion gibt, die im 20. Jahr­hun­dert Wirk­lich­keit wurde, dann liegt sie in der Vertei­di­gung der Verbin­dung von Staats­bür­ger­schaft und Menschen­rechten, der Zuge­hö­rig­keit zum poli­ti­schen Volk und dem Recht von Indi­vi­duen auf Würde, Schutz und Selbst­be­stim­mung. „Niemand darf diskri­mi­niert werden, nament­lich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stel­lung, der Lebens­form, der reli­giösen, welt­an­schau­li­chen oder poli­ti­schen Über­zeu­gung oder wegen einer körper­li­chen, geis­tigen oder psychi­schen Behin­de­rung.“ (Artikel 8, Absatz 2 der Bundes­ver­fas­sung der Schweizer Eidgenossenschaft).