Im Jahr 1979 erschien im SPIEGEL ein Interview mit Alain de Benoist, in dem der französische Theoriefürst der sogenannten „Nouvelle Droite“ die Kulturen der Griechen, Römer, Kelten und Germanen als humanere Gesellschaften pries als diejenige der Gegenwart. Seine Bewunderung begründete er damit, dass „dort der alte Grundsatz naturgegebener Ungleichheit Gültigkeit hatte und die hierarchische Gesellschaft mit ihrer elitären Ordnung eine natürliche Rechtfertigung besaß“. Dieser Satz birgt das politische Programm dessen, was man als „moderne Rechte” bezeichnen kann. Das, was Benoist an dieser Stelle explizit als „naturgegebene” Ungleichheit nennt, ist eine bestimmte Vorstellung der Differenz. Sein Differenzkonzept unterscheidet sich von der bekannteren Differenzidee, die sich ab den 1960er Jahren an europäischen Universitäten ausbreitete: Während der poststrukturalistische Differenzbegriff hierarchische Ordnungen in Frage stellt, liegt im neoreaktionären Differenzbegriff das Bestreben, ‘natürliche’ Ordnungen zu legitimieren.
1968: Aufbruch aus alten Ordnungen
Nachdem Benoist in den 1950er Jahren Mitglied der Terrorgruppe Jeune Nation war, gründete er mit Kameraden 1968 den Thinktank GRECE (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne). Der Name verweist lautmalerisch auf die griechische Antike, die Benoist als tonangebende Hochkultur anpreist, während er die Moderne in ihren Dekadenzerscheinungen diffamiert. Die Gründung von GRECE gilt als Geburtsstunde der Nouvelle Droite, die sich polemisch von der traditionellen Rechten distanzierte und Vorbildcharakter für die Formierung von Rechten Kräften auch in Deutschland hatte, wo Verbindungen zu Götz Kubitschek und zur Identitären Bewegung bestehen. Die zwei Abgrenzungspunkte waren die Kolonialpolitik einerseits und der Katholizismus andrerseits. Der Unabhängigkeitskrieg in Algerien von 1954 bis 1962 spaltete die französische Öffentlichkeit. In dieser Auseinandersetzung unterstützte das rechte Lager mehrheitlich die Terrorgruppe OAS (Organisation de l’armée secrète), die, auch nachdem die französische Regierung die Unabhängigkeit akzeptierte, weiterhin verbissen für ihre Idee der weißen Suprematie in der ehemaligen Kolonie kämpfte. Dahingegen plädierte Benoist in späteren Schriften für eine Entkolonisierung Algeriens, jedoch nicht aus humanistischen Motiven, sondern weil ihm eine Trennung der Kulturen erstrebenswerter erschien als die Pluralisierung der französischen Gesellschaft. Zum andern aber vertrat er eine paganistische, betont nicht-christliche Position – eine wohl kalkulierte Provokation, da die französische Rechte seit der Dreyfus-Affäre und der 1898 gegründeten Action Française gleichermaßen von Katholizismus, Antisemitismus und Militarismus geprägt war.
Unzähmbare Differenzen

Gilles Deleuze vor dem Spiegel; Quelle: goethe.de
Das Gründungsdatum von GRECE war 1968 ein Um- und Aufbruch, der weit über die studentischen und aktivistischen Kreise hinausging und die gesamte Gesellschaft erfasste. Dazu gehörte auch die Entstehung der poststrukturalistischen Theorieströmung. Einer ihrer prominentesten Vertreter war der Philosoph Gilles Deleuze, dessen Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, 1974 zusammen mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari verfasst, sich als Manifest dieses revolutionären Aufbegehrens begreifen lässt. Bei Deleuze/Guattari wie auch bei Jacques Derrida ist das Konzept der „Differenz“ zentral. Es wandte sich gegen ein Denken der Einheit, der Gleichförmigkeit und des „Wesens“ und stellte der angeblich ontologischen Ordnung der Welt eine prozessuale, durch Sprache und Geschichte ständig im Wandel begriffene Ontologie entgegen. Der von Deleuze geprägte Differenzbegriff zielte darauf ab, die Machtkategorien der Einheit und Identität aufzulösen, geschichtlich sedimentierte Herrschaftsverhältnisse und soziale Hierarchien zu untergraben. Damit setzte sein Differenzbegriff ‚an-archistische‘ Akzente im Umdenken des Politischen gegen die alten konservativen Kräfte sowie gegen ‚hier-archische‘ Differenzkonzepte, die ein europäisches Erbe als anderen Kulturen überlegen abgrenzen wollten.
Bei Deleuze ist Differenz eine Bewegung des Werdens und des Wandels. So verstanden, sind Begriffe immens wandelbar, werden aufgegriffen und kippen mitunter in ihr Gegenteil. Diesem Schicksal unterlag auch der poststrukturalistische Differenzbegriff, der im Verlauf einiger Jahre nicht nur zum neoreaktionären Kampfbegriff, sondern auch zum neoliberalen Modewort wurde. Der heutige neoliberale Vulgärdeleuzianismus nimmt das poststrukturalistische Vokabular auf und arbeitet es zu Zwecken der Wirtschaft um, während der neurechte Differenzbegriff alte Hierarchien neu zu rechtfertigen versucht.
1984: Aufbruch zu neuen Ordnungen

Jean-Marie Le Pen, 1972; Quelle: youtube.com
1979 wurde vor dem SPIEGEL die französische Öffentlichkeit auf GRECE aufmerksam, da bekannt wurde, dass mehrere Mitglieder der radikalen Rechten in der Redaktion der konservativen Zeitung Le Figaro tätig waren. Nach diesem Eklat, der zum Ausschluss der Mitarbeiter führte, machte GRECE unverdrossen weiter, denn inzwischen gab es einen neuen Bündnispartner: den 1972 unter der Führung von Jean-Marine Le Pen gegründeten Front National. Die rechtsextreme Partei errang ihren ersten Erfolg in einer Kampagne gegen die wirtschaftsliberalen Maßnahmen des seit 1981 amtierenden Präsidenten François Mitterrand. Unter dessen sozialdemokratischer Regierung, die sich zwar auch für Arbeitnehmerrechte einsetzte, entstanden neue Industrieregionen, die vielerorts durch Einwanderung, Bevölkerungszuwachs und soziale Spannungen geprägt waren, und genau dort schaffte es der FN, eine bis heute stabile Wählerbasis aufzubauen. 1984 schließlich, als der FN erstmals einen nennenswerten Stimmenanteil von rund 10% errang, lautete sein Wahlslogan „Recht auf Differenz“, den sich die Partei nach dem Motto „mit ’68 gegen ’68“ (Leggewie) von antirassistischen Gruppen aneignete.
Der antiliberale Gestus, den der FN von Benoist übernahm, verweist auf eine weitere Konfliktlinie innerhalb der Rechten: die Frage nach der Ökonomie. Benoist wandte sich vehement von Kameraden ab, die wirtschaftsliberale Positionen vertraten. Seine Position ist bis heute dezidiert antiliberal; daher diente der Differenzbegriff dazu, in gegenaufklärerischer Tradition Demokratie und ökonomischen Liberalismus mit Uniformität und Totalität gleichzusetzen. Doch diese Fehde zwischen dem rechtsextremen Hardliner und neoliberalen Wirtschaftspolitiken täuscht darüber hinweg, dass über den von beiden Seiten verwendeten Differenzbegriff sehr wohl Konvergenzen zwischen Rechtsextremismus und Neoliberalismus sichtbar werden.
Be different!
Ab den 1970er Jahren haben sich neoliberale Wirtschaftsdiskurse poststrukturalistische Ideen und Impulse angeeignet, um die verkrusteten Unternehmensstrukturen flexibler zu gestalten und wettbewerbstauglich in globalen Konkurrenzdynamiken zu machen. Um Menschen zu mobilisieren, müssen die autoritären und postdemokratischen Maßnahmen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die damit einhergehende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen ideologisch eingefasst werden. Hierfür hat sich der Differenzbegriff als äußerst zweckdienlich erwiesen. Eine der neoliberalen Kernideologien ist die Behauptung, alle kämen mit gleichen Chancen auf die Welt und könnten durch eigenverantwortliches Streben eine privilegierte Position im Wettbewerb erringen. Dieser Drang zur Distinktion verschärft sich im Spätkapitalismus, der nicht mehr nur standardmäßige, sondern herausragende Leistungen einfordert, und der zudem, philosophisch gesprochen, das „Singuläre“ (Reckwitz) feiert und das Allgemeine als profan abtut.

Herren-Hoodie „Be different“, grau, 27 Euro; Quelle: trade-stage.de
Der Differenzbegriff soll Singularität herstellen, und zwar im Modus der vertikalen, d.h. hierarchischen Differenzierung. Das gilt durchgängig von der Arbeitsorganisation bis zur Konsumkultur, in der die Massenproduktion individuell zugeschnittenen Waren gewichen ist. Das Subjekt selbst muss sich von Anderen abheben, um seine Individualität zu behaupten: Make the Difference! Be different! Es sind nicht mehr nur die Klassenschranken, die Pierre Bourdieu 1979 anhand der „feinen Unterschiede“ entzifferte; die vertikale Differenzbemühung soll vielmehr ein unverkennbares Individuum hervorbringen, das sich von der Masse wie auch von der Klasse „abhebt“. Deshalb ist der neoliberale Differenzbegriff mit neoreaktionärem Denken so kompatibel: Wo Ersteres die vertikale Differenzierung aus dem Handeln des Subjekts entstehen sieht, weiß die moderne Rechte diese bereits ‚naturgemäß’ in ihm angelegt. Die Akzeptanz und Förderung von Hierarchie zwischen Menschen sind dabei Programm, in beiden Fällen angetrieben von einem letztlich sozialdarwinistisch geprägten Schlüsselmechanismus.
Ordnungen der Differenz

Klaus Obermaier, Ars Electronica 2004; Quelle: flickr.com
Die Unterschiede könnten nicht grösser sein: Während es Deleuze um ein libertäres „Gewimmel von Differenzen, einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen“ ging, will Benoist „dem Chaos eine Form aufzwingen”. Diese Form werde erreicht, indem sich Menschen differenzieren und in „Unter-Mensch oder Über-Mensch” sortieren lassen. Benoist kämpft gegen eine Idee des Weltfriedens, in dem er ein „Ideal der Widerspruchslosigkeit” erkennt, „das zwangsläufig die Aufhebung der Unterschiede [différences] in sich schließt”. Er will den Kampf, der Differenzen und Ordnungen herstellt, er will einen „Konflikt der Gegensätze”, der Gewinner und Verlierer kennt; sein Denken ähnelt auch darin dem neoliberalen Dogma der konkurrenzgebundenen Freiheit des Marktes.
Der neoreaktionäre Differenzbegriff strebt an, Identitätsgrenzen zu verfestigen, während die neoliberale Subjektivierung Identität verflüssigt, verhandel- und tauschbar wird. Der entscheidende Unterschied zwischen dem poststrukturalistischen, den neoliberalen und dem reaktionären Differenzbegriff liegt historisch in dem Konzept der Identität begründet. Identität ist eine aufklärerische Kategorie, die zur Konstitution des kapitalistischen Marktes beigetragen hat; zugleich ist sie, auf romantische Motive zurück gehend, auch die Kategorie, anhand derer rassistische Hierarchien legitimiert werden. Insbesondere Herder nimmt die im 19. Jahrhundert moderne Idee der Identität auf und überträgt sie auf Kollektive, die er durch die neu entstehenden Nationalgrenzen als Völker definiert. Da sich Identität durch Differenz bestimmt, weshalb nationale Identität nur im Vergleich zu anderen Völkern ersonnen werden kann, was in westeuropäischen, besonders deutschen Allmachtsfantasien mündet. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens, nationale und kulturelle Identitäten werden im Kontext der kolonialen Gewaltgeschichte verhandelt, was bedeutet, dass Identität im abwertenden Abgleich mit rassifizierten Alteritätskonstruktionen ausgehandelt wird. Zweitens, dem nationalistischen Denken (und ebenso der aufklärerischen Demokratisierung) ist der nationalökonomische Wettbewerbsgedanke eingeschrieben, wodurch sich ideengeschichtlich zeigt, wie kompatibel ökonomische und reaktionäre Differenzkonzepte sind.
Während der poststrukturalistisch geprägte Differenzbegriff „horizontal“ funktioniert, weil hierarchische Ordnungen angefochten werden, und Differenzen zu einer gleichrangigen Heterogenität führen, funktioniert die rechte Idee der Differenz gewissermaßen „vertikal“, in ein unten und oben, in besser und schlechter sortierend. Während der poststrukturalistische Differenzbegriff soziale Hierarchien aufzulösen versucht, streben der reaktionäre und der neoliberale Differenzbegriff an, diese Hierarchien zu produzieren oder zu verfestigen.
Während der Neoliberalismus sein zunehmendes Verzichtenkönnen auf Demokratie deutlich zeigt, wirft die Rechte die Maske der „Neuen” Rechten ab. In Frankreich lässt sich seit 2012 mit der erzkatholischen und homofeindlichen Bewegung Manif Pour Tous eine Allianz zwischen ‘Alter Rechter’ und neoreaktionären Positionen feststellen. Die moderne Rechte hat das Kriegsbeil begraben, bekennt sich zu einer christlichen Identität, um die islamfeindliche Hetze voranzutreiben, die darin besteht, „der Islam” stehe inkompatibel different zur westlichen Zivilisation. Indessen verharrt Benoist als Salonreaktionär in der Öffentlichkeit. Seine Nachfolger, ob nun Renaud Camus, der in seiner Verschwörungstheorie über die Besetzung Frankreichs durch den Islam fantasiert, oder Götz Kubitschek, der von seinem als Rittergut geadelten Bauernhof in Schnellroda aus im wortgewaltig tönenden Pathos schwelgt. Sie betrachten sich als rechte Intellektuelle, die in ihren apokalyptischen Ausbrüchen den Bürgerkrieg beschwören wollen. Letztlich reduzieren sich ihre großen Theorien auf ein winziges Argument, das ganz und gar nicht neu ist: Sie nehmen eine gesellschaftliche Ordnung mit naturgegebenen Unterschieden an, und sie streben danach, diese Ordnung aufzurichten. Um diesen plumpen sozialdarwinistischen Machtwillen zu durchschauen, muss man nicht mit Rechten reden.