In den vergangenen Monaten traten in den USA immer häufiger martialisch bewaffnete Bürgerwehren in Erscheinung – meist nur als medienwirksame Drohgeste, zuweilen aber auch mit tödlicher Gewalt. Sie glauben, es sei ihre Pflicht, für „Recht und Ordnung“ zu sorgen.

  • Pia Beumer

    Pia Beumer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte der Universität Erfurt und forscht zur nordamerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, zur Geschichte der Gewalt und zur Raumtheorie.

Am 23. August 2020 schießt ein Poli­zist in Kenosha, Wisconsin, dem 29-jährigen Afro­ame­ri­kaner Jacob Blake sieben Mal in den Rücken. Blake über­lebt, von der Hüfte an gelähmt. In den nächsten Tagen kommt es in Kenosha zu Ausein­an­der­set­zungen zwischen Black Lives Matter-Demons­trie­renden und der Polizei. Während Gebäude in Flammen stehen, verbreitet sich in den sozialen Medien die Nach­richt, die Polizei sei in der Unter­zahl – unfähig die Situa­tion zu kontrol­lieren. Am zweiten Tag der Proteste ruft der 36-jährige Kevin Mathewson bei Face­book „Patrioten“ dazu auf, sich zu bewaffnen und Häuser und Geschäfte gegen „evil thugs“ zu schützen. Mathewson bezeichnet sich selbst als „commander“ der Bürger­wehr Kenosha Guards. Hunderte folgen seinem Aufruf, versam­meln sich in Mili­tär­klei­dung und bis zu den Zähnen bewaffnet, als würden sie in einen Krieg ziehen.

Kyle Ritten­house (l.) auf der Sher­idan Road in Kenosha, Wis.; Quelle: apnews.com

Unter ihnen der 17-jährige Kyle Ritten­house, der um den Hals eine Smith & Wesson M&P 15 trägt, ein halb­au­to­ma­ti­sches Maschi­nen­ge­wehr. Einem Reporter erklärt er, es sei seine Aufgabe, Verletzten zu helfen; seine Waffe trage er zur Selbst­ver­tei­di­gung. Schnell entwi­ckelt sich eine gefähr­liche Eigen­dy­namik: Während sich die Vigi­lanten auf Hoch­häu­sern und vor Geschäften posi­tio­nieren, wird Ritten­house von Demons­trie­renden mit Müll beworfen. Er flüchtet. Wenige Sekunden später fallen die ersten Schüsse. Ritten­house erschießt zwei Menschen und verletzt einen weiteren schwer. Ein Video zeigt ihn kurz darauf mit erho­benen Händen an mehreren Poli­zei­wagen vorbei­gehen. Sie lassen ihn passieren. Er fährt nach Hause und stellt sich erst am nächsten Tag.

Die Reak­tionen auf den Vorfall sind gespalten. Während die einen sagen, der Staat sei nicht in der Lage, für Recht und Ordnung zu sorgen, und Ritten­house habe sich nur selbst vertei­digt, mahnen andere, das offene Waffen­tragen provo­ziere die tödliche Gewalt erst. Der Anwalt von Ritten­house beschreibt ihn als pflicht­be­wussten Bürger: „[He] answered his patriotic and civic duty to serve nearby Kenosha, Wis., during a destruc­tive insur­rec­tion.“ Konser­va­tive Unterstützer:innen richten Spen­den­fonds für den Teen­ager ein, er wird als Aushän­ge­schild für das ameri­ka­ni­sche Recht auf Waffen und Selbst­ver­tei­di­gung vermarktet.

Die Fron­tier Nation

Was moti­viert derzeit so viele Amerikaner:innen, sich zu bewaffnen und aktiv an einer Gefah­ren­si­tua­tion zu betei­ligen? Und inwie­fern recht­fer­tigt das Recht auf Waffen und Selbst­ver­tei­di­gung in ihren Augen auch Selbst­justiz? Antworten auf solche Fragen finden sich im Zusam­men­spiel von Elementen der ameri­ka­ni­schen Geschichte: des Waffen­rechtes und einer Politik, die über Angst und Spal­tung funk­tio­niert wie kaum je zuvor.

Die Bürger­wehr Kenosha Guards folgt einer Welt­an­schauung, die der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Justin Mann als „vigi­lante spirit“ bezeichnet. Die Vigi­lanten, vornehm­lich weiße Männer, recht­fer­tigen ihr gewalt­sames Einschreiten durch die schein­bare Unfä­hig­keit des Staates, öffent­liche Sicher­heit zu gewähr­leisten. Sie sehen es als ihre Bürger­pflicht an, nicht nur ihre Fami­lien und ihren Besitz zu schützen, sondern darüber hinaus auch selbst für law and order zu sorgen, das heißt Straf­ge­walt und Rechts­ver­fol­gung für sich zu bean­spru­chen. Eine beson­ders gefähr­liche Form des Vigi­lan­tismus war die Lynch­ge­walt in den Südstaaten zwischen den 1890er und den 1940er Jahren, bei der im Wesent­li­chen weiße, männ­liche Täter kollek­tive Gewalt gegen Schwarze anwandten, zu deren Recht­fer­ti­gung oft der Schutz von weißen Frauen ange­führt wurde.

Stra­ßen­schild in einem ameri­ka­ni­schen Vorort; Quelle: shutterstock.com

Tief in der ameri­ka­ni­schen Geschichte verwur­zelt, hat sich der „vigi­lante spirit“ heute über den Süden hinaus verbreitet und insti­tu­tio­na­li­siert. Das Ergebnis ist eine poli­tisch wie räum­lich gespal­tene Gesell­schaft, die sich durch geschlos­sene Wohn­an­lagen, Nach­bar­schafts­wa­chen und die private Bewaff­nung auszeichnet. Urbane Zentren stehen in den Bedro­hungs­nar­ra­tiven für Gesetz­lo­sig­keit und Chaos. Aus dieser ange­spannten Atmo­sphäre heraus werden Gefahren formu­liert, die stereo­ty­pisch schwarz und männ­lich sind und auf die letale Gewalt die scheinbar einzige Antwort ist.

So empfand etwa der Nach­bar­schafts­wächter George Zimmerman im Februar 2012 in Florida den 17-jährigen Schwarzen Trayvon Martin in einer vorwie­gend weißen Nach­bar­schaft als gefähr­lich, verfolgte ihn und erschoss ihn in der Ausein­an­der­set­zung. Vigi­lan­tismus ist also nicht nur eine Reak­tion auf vorher­ge­gan­gene Verbre­chen, sondern viel­mehr der Versuch, bestehende Macht­ver­hält­nisse und die soziale Ordnung gewaltsam aufrecht­zu­er­halten. Teil dieser Bürgerwehr-Maschinerie sind neben dem Waffen­recht heute die soge­nannten Stand Your Ground-Gesetze, die das Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung in den öffent­li­chen Stadt­raum ausweiten und Gewalt­taten wie die Zimmer­mans und Ritten­houses generieren.

Um die Moti­va­tion von Bürger­wehren zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte ameri­ka­ni­scher Gewalt werfen, die ihren Ursprung in der Fron­tier hat. Laut des Mani­fest Destiny-Glau­bens war die Expan­sion des ameri­ka­ni­schen Konti­nents gegen den Pazifik im 19. Jahr­hun­dert eine gött­liche Bestim­mung (destiny), die folg­lich auch Gewalt legi­ti­mierte. Dieser Grenz-Ethos zeichnet sich bis heute in Facetten ameri­ka­ni­scher kollek­tiver Iden­tität ab, beson­ders in dem Recht auf Waffen­tragen und auf Selbst­ver­tei­di­gung, welche, so der Histo­riker Richard M. Brown, zentral für das ameri­ka­ni­sche Verständnis von Gewalt sind. In bewusstem Gegen­satz zu dem im 18. Jahr­hun­dert in den briti­schen Kolo­nien Nord­ame­rikas geltenden Gesetz zur Selbst­ver­tei­di­gung, das vorschrieb, soweit möglich von einem poten­zi­ellen Angreifer zurück­zu­wei­chen, wurde später die ameri­ka­ni­sche Fassung umfor­mu­liert: Der „true man“, so entschied ein Gericht in Ohio 1876, solle nicht zurück­wei­chen, sondern seinem Gegner gegen­über­treten. Feiges Zurück­wei­chen wurde als uname­ri­ka­nisch dekla­riert. Auf diese Weise wurde „no duty to retreat“ zu einem Grund­satz des Bürger­seins und dieser schließ­lich 1921 vom Supreme Court für allge­mein­gültig erklärt.

Versamm­lung der Bürger­wehr Proud Boys; Quelle: washingtonpost.com

Seither ist dieser Iden­ti­täts­ent­wurf des ameri­ka­ni­schen Mannes von einer patrio­ti­schen, nach Frei­heit stre­benden und kampf­be­reiten Version weißer Männ­lich­keit geprägt. Doch mit dem Ende der Fron­tier schwand auch die „fron­tier mascu­li­nity“, wie sie der Sozio­loge Scott Melzer in seiner Analyse der einfluss­rei­chen National Rifle Asso­cia­tion (NRA) bezeichnet. Die hege­mo­niale Konzep­tion des ameri­ka­ni­schen Mannes wurde demnach im 20. Jahr­hun­dert durch sich verän­dernde soziale Struk­turen und Geschlech­ter­rollen ange­fochten; neben der Bürgerrechts- und Frau­en­be­we­gung hinter­ließ vor allem der Viet­nam­krieg tiefe Kerben im ameri­ka­ni­schen Selbst­bild. Doch entgegen dieser viel­fach wahr­ge­nom­menen Iden­ti­täts­krise konnte der glori­fi­zierte Revol­ver­held in der Popu­lär­kultur fort­be­stehen. Filme wie Rambo, Batman, oder Top Gun präsen­tierten helden­hafte, mutige, und kampf­be­reite Prot­ago­nisten, zu denen irri­tierte weiße Männer aufsehen konnten. Doch das war nicht alles. Im wirk­li­chen Leben offen­barte sich die wahr­ge­nom­mene Krise unter anderem durch den starken Mitglie­der­zu­wachs der NRA in den 1970ern.

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“Too many fingers resting on too many triggers”

Es waren Narra­tive der eigenen Ohnmacht, der fort­schrei­tenden Irrele­vanz des Weiß­seins und einer als „entmänn­licht“ wahr­ge­nom­menen Staats­re­gie­rung, die gegen­über „linker“ Gewalt machtlos sei, die die Proteste in Kenosha befeu­erten. Die nost­al­gi­sche Version eines früheren Amerikas, mit guten Jobs und sicheren Nach­bar­schaften, der „good old times“, scheint aus dieser Perspek­tive bedroht. Donald Trump befeuert dieses Miss­trauen noch weiter, indem er die Auto­rität und Hand­lungs­fä­hig­keit von lokalen Regie­rungen unter­gräbt. Eigen­ver­ant­wor­tung, so scheint es, bleibt das einzige Mittel zum Schutz gegen Gewalt. Bewaff­nung ist so gesehen als Kritik an der angeb­li­chen Schwäche des Staates zu verstehen, während sie zugleich der eigenen Stärke Ausdruck verleiht. Durch das offene Tragen einer Waffe performen Männer (und zuneh­mend auch Frauen) eine idea­li­sierte Form des Bürger­seins, die die Sozio­login Jennifer Carlson „citizen-protector“ nennt. Die Waffe dient nicht nur dem eigenen Selbst­schutz, sondern auch der Demons­tra­tion von Frei­heit und Eigenstaatlichkeit.

Laut Carlson gibt es einen direkten Zusam­men­hang zwischen der zuneh­menden Präsenz von Waffen und den Wahr­neh­mungen von wirt­schaft­li­chem und sozialem Verfall. Gegen­wärtig lassen sich neben Poli­zei­ge­walt und syste­mi­schen Rassismus auch noch andere desta­bi­li­sie­rende Faktoren beob­achten: COVID-19 hat die USA so schwer getroffen wie kein anderes Land. Ohne ein funk­tio­nie­rendes Sozi­al­system fürchten viele um ihre Exis­tenzen. Während die einen auf ein Ende der Pandemie hoffen, gehen andere bewaffnet auf die Straße, um gegen Corona-Maßnahmen zu protes­tieren, die aus ihrer Sicht die „ameri­ka­ni­schen Frei­heiten“ einzu­schränken drohen. Zusammen mit z.B. Gerüchten über Brand­stif­tung während der dies­jäh­rigen Wald­brände in Kali­for­nien führte dies dazu, dass im Vergleich zum Vorjahr zwischen März und September dieses Jahres 91% mehr Waffen gekauft wurden.

Opfer oder Revolverheld?

Wisconsin, der Staat, in dem Kenosha liegt, ist einer von 45 Staaten, in denen das offene Tragen einer Waffe erlaubt ist. Patrouil­lieren also bewaff­nete Gruppen in einer Stadt, sind der Polizei und der Justiz die Hände gebunden. In einem Brief an den Bürger­meister Keno­shas weist die Jura­pro­fes­sorin Mary McCord jedoch daraufhin, dass das berühmte Second Amend­ment zur ameri­ka­ni­schen Verfas­sung keines­wegs einen bewaff­neten Vigi­lan­tismus schützt. Viel­mehr sei es privaten Milizen klar verboten, sich an der Rechts­durch­set­zung zu betei­ligen. Zudem ist Wisconsin kein Stand Your Ground-Staat, sodass “no duty to retreat“ nicht auf den öffent­li­chen Stadt­raum anwendbar ist. Nichts­des­to­trotz können sich private Milizen leicht jegli­cher Straf­ver­fol­gung entziehen. Denn 2008 wurde in der Rechts­sache District of Columbia v. Heller erst­mals entschieden, dass die Verfas­sung den Waffen­be­sitz von Privat­per­sonen legi­ti­miert. Demzu­folge lässt sich eine verbo­tene private Miliz kaum von einer spon­tanen Versamm­lung von Waffenbesitzer:innen unterscheiden.

Der Fall Ritten­house hat, mit anderen Worten, wich­tige Fragen zu dem ameri­ka­ni­schen Waffen­recht, der Selbst­ver­tei­di­gung und der Selbst­justiz aufge­worfen. Entschei­dend wäre eine Proble­ma­ti­sie­rung derje­nigen Gesetze, die das offene Waffen­tragen sowie das Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung im öffent­li­chen Stadt­raum regu­lieren. Der Jura­pro­fessor George Flet­cher wies in diesem Zusam­men­hang darauf hin, dass Gerichts­ent­schei­dungen zur Selbst­ver­tei­di­gung von enormer Bedeu­tung seien, da sie bewaff­nete Gewalt­taten oft als „models of beha­vior“ entschul­digen. Kyle Ritten­house hat zwar geschossen, doch er ist Teil einer Bewe­gung, die ihn antrieb. Ein Urteil im Fall Ritten­house bedeutet also nicht nur eine Antwort auf die Frage, wer das Recht auf Waffen­ge­walt für sich bean­spru­chen darf, ein Frei­spruch könnte darüber hinaus den „vigi­lante spirit“ als legitim anerkennen.

Lockere Waffen­rechte, Angst­po­litik und ein von Grenz­erfah­rungen geprägter ameri­ka­ni­scher Männ­lich­keits­ent­wurf haben ein Verhal­tens­muster gene­riert, welches tödliche Gewalt unter dem Deck­mantel von öffent­li­cher Sicher­heit ermög­licht. Im Fall Ritten­house sieht es so aus, als hätte ein Junge den Helden spielen wollen – loyal, maskulin und stark. Bei Face­book zeigte Ritten­house große Unter­stüt­zung für Blue Lives Matter (mit „Blue“ sind Poli­zisten gemeint), das Recht auf Waffen und Trump. Er betei­ligte sich sogar an Spen­den­ak­tionen für die lokale Polizei und nahm an Kadet­ten­pro­grammen teil. Im Januar bewarb er sich bei der US-Marine. Er wurde abge­lehnt. Jetzt ist Ritten­house ange­klagt wegen vorsätz­li­cher Tötung. Er hatte kein Recht, den Besitz anderer mit tödli­cher Gewalt zu schützen. Mit 17 Jahren hatte er nicht einmal das Recht seine Waffe zu tragen. Ob er das Recht hatte sie zu nutzen, werden nun Geschwo­rene entscheiden.