Digitale Videoessays gehören online zu den beliebtesten audiovisuellen Formaten. In den letzten Jahren ist ihre Zahl geradezu explodiert. Doch wer darunter noch immer vor allem leicht zu konsumierende Erklärvideos versteht, sollte genauer hinschauen.

  • Johannes Binotto

    Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler an der Hochschule Luzern Design & Kunst und der Universität Zürich und arbeitet zudem als Videoessayist. Aktuell leitet er das SNF-Forschungsprojekt zu Videoessays als Forschungsinstrument.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Video­es­says: Zeigen als Intervention
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Das zweite Impeachment-Verfahren gegen den ehema­ligen Präsi­denten Donald Trump wurde am 9. Februar 2021 mit einer Zeugen­aus­sage eröffnet, die umso mehr Aufmerk­sam­keit auf sich zog, als sie nicht etwa von einer der anwe­senden Personen, sondern viel­mehr in Form eines Videos vorge­bracht wurde. Gezeigt wurde eine drei­zehn­mi­nü­tige Montage aus Pres­se­auf­nahmen, vor allem aber aus Clips, welche die Trump-Anhänger:innen von sich selbst und ihrem Angriff aufs Kapitol am 6. Januar 2021 aufge­nommen und anschlie­ßend auf der Online­platt­form Parler geteilt hatten. Drei­zehn Minuten gesam­meltes audio­vi­su­elles Mate­rial, das in seiner Zusam­men­stel­lung nicht nur die Gefähr­lich­keit der Kapitol-Stürmer, sondern auch den direkten Zusam­men­hang zwischen Trumps Agita­tion und der eska­lie­renden Gewalt seiner Anhänger:innen eindrück­lich zeigte.

Damit war dieses Video weit mehr als nur ein Beweis­mittel – es war eine Argu­men­ta­ti­ons­stra­tegie in audio­vi­su­eller Form. Auf Twitter teilte kurz darauf der Filme­ma­cher Kevin B. Lee den Hinweis eines Freundes, dass mit diesen drei­zehn Minuten mögli­cher­weise erst­mals ein Video­essay den Verlauf der Geschichte der USA bestimmen werde. Jedoch fügte Kevin B. Lee die Frage an, ob es sich denn hier tatsäch­lich um einen Video­essay handelte. Tatsäch­lich ist die Frage brisanter als man denkt und das Impeachment-Video ein idealer Anlass, um sich grund­sätz­liche Gedanken zu machen über das noch junge, aber bereits äußerst einfluss­reiche mediale Format Video­essay – über seine Möglich­keiten und die Verant­wor­tung, die es mit sich bringt.

Das Mate­rial spricht

Gemeinhin versteht man unter dem Sammel­be­griff Video­essay digi­tale Videos von begrenzter Länge, die beispiels­weise einen Spiel­film in Form von Ausschnitten analy­sieren, indem sie diese neu montieren, kommen­tieren oder mit erläu­ternden Sche­mata versehen. Das Format, das seit gut fünf­zehn Jahren auf Video­platt­formen wie Youtube oder Vimeo Furore macht, kann dabei von einem mit Bildern verse­henen münd­li­chen Vortrag bis zu einer ganz ohne Kommentar auskom­menden Clip-Zusammenstellung, einem soge­nannten Supercut, reichen. Gemein ist allen Spiel­arten des Video­es­says aber wohl, dass sie sich fremdes multi­me­diales Mate­rial aneignen und es nicht nur zur Illus­tra­tion zeigen, sondern es viel­mehr zum Argu­ment machen wollen. Video­es­says, so könnte man sagen, lassen nicht nur die Quellen spre­chen, sondern wollen vorführen, wie diese sich selbst analysieren.

Die bewegten Bilder sind also nicht nur Unter­su­chungs­ob­jekt, sondern werden selber zum wissen­schaft­li­chen Werk­zeug, das neues Wissen gene­riert. Zusätz­lich revo­lu­tionär ist daran, dass dieses Werk­zeug nicht mehr nur einem engen Kreis zur Verfü­gung steht. Die direkten Vorbilder der heutigen Video-Essayist:innen wie etwa Agnès Varda, Chris Marker, Jean-Luc Godard, Harun Farocki oder Hartmut Bitomsky hatten als profes­sio­nelle Film­schaf­fende über­haupt erst Zugriff auf Kame­ra­ap­pa­rate, Monta­ge­technik und Archiv­ma­te­rial. Im Zuge der Digi­ta­li­sie­rung hat sich das unter­dessen weit­ge­hend demo­kra­ti­siert: Wir alle tragen mit unseren Smart­phones zugleich auch ganze Fern­seh­stu­dios in unseren Hosen­ta­schen herum, inklu­sive hoch­auf­lö­sender Kamera, Schnitt­soft­ware und Vorführ­gerät. Wer Video­es­says machen will, kann jetzt gleich anfangen.

Umso merk­wür­diger ist es, dass trotz dieser prin­zi­pi­ellen Offen­heit die Vorstel­lung davon, was Video­es­says seien, bislang noch ziem­lich eng ist. Immer noch verstehen die meisten unter Video­es­says flotte Erklär­vi­deos, in denen Film­fans vorführen, was sie alles wissen. Das Poten­tial des Video­es­says geht jedoch weit darüber hinaus, nur eine Fort­set­zung der Film­kritik mit neuen audio­vi­su­ellen Mitteln zu sein.

Verstri­ckungen zeigen

Kevin B. Lee, Trans­for­mers the Premake; Screenshot

Bereits der erwähnte Kevin B. Lee, der mit seinen über 360 Video­es­says für diverse Film- und Streaming-Plattformen wie kaum ein anderer für das Aufkommen des Formats verant­wort­lich ist, hatte weit Größeres im Sinn, als nur ange­eig­netes Film­wissen vorzu­führen. In seinem mehr­fach ausge­zeich­neten „Trans­for­mers The Premake“ von 2014 wird die Benut­zer­ober­fläche seines Compu­ters zugleich zur Bühne und zum Aufnah­me­gerät, um zu doku­men­tieren, wie die Fans der Actionfilm-Franchise „Trans­for­mers“ ihre Aufnahmen von Dreh­orten ins Netz stellen, die wiederum von der Marke­ting­ab­tei­lung der Film­stu­dios geblockt werden, und was passiert, wenn Holly­wood seine Blockbuster-Produktion nach China verlegt. Ohne münd­li­chen Kommentar, allein mittels seiner Aktionen auf Streaming-Plattformen, Sharing-Sites und der eigenen Fest­platte führt Lee dabei die komplexen Verstri­ckungen von globaler Indus­trie und natio­naler Politik, von Fankultur und prekären Arbeits­ver­hält­nissen, von Copyright-Verfolgung, Open Access, Geld­strömen, Wissens­ge­sell­schaft und staat­li­cher Kontrolle vor.

Der Spiel­film „Trans­for­mers 4“ ist dabei selber gar nicht mehr von Inter­esse, sondern viel­mehr jene Globa­li­sie­rungs­ef­fekte für die der Film zugleich Symptom und Treiber ist. Dabei macht uns Lees Film aber auch das Dilemma klar, dass sich bei dieser Analyse welt­um­span­nender Zusam­men­hänge gar keine Außen­po­si­tion mehr einnehmen lässt. Auch darum ist das video­es­say­is­ti­sche Verfahren, das zu unter­su­chende Mate­rial direkt in den eigenen Essay einzu­bauen so plau­sibel: Die Video­es­says sind mit ihren eigenen Seh- und Arbeits­ma­schinen ja sowieso immer schon selbst in das verwi­ckelt, was sie unter­su­chen wollen. In den Chips meines eigenen Compu­ters stecken eben­jene Rohstoffe, deren Raubbau und damit einher­ge­hende Ausbeu­tung von Arbeits­kräften ich auf dem Bild­schirm nach­zu­voll­ziehen versuche.

Bilder deuten – Netnographie

Im besten Falle unter­su­chen Video­es­says somit geschicht­liche Zusam­men­hänge und gegen­wär­tige Zustände nicht etwa, indem sie sich auf einen angeb­lich unbe­tei­ligten Beob­ach­tungsort zurück­ziehen, sondern viel­mehr indem sie ihre eigene Posi­tion mit behan­deln. Wahr­schein­lich kommt solch tastende Selbst­re­fle­xi­vität den komplexen Verhält­nissen, in denen wir uns befinden, deut­lich näher als eine abge­klärte Repor­tage, die das zu Unter­su­chende in einen flüs­sigen Text über­setzt und damit ausdeutet.

Chloé Galibert-Laîné, Foren­sick­ness; Screenshot

In den video­es­say­is­ti­schen Analysen der fran­zö­si­schen Filme­ma­cherin und Medi­en­wis­sen­schaft­lerin Chloé Galibert-Laîné zu unserem Online-Verhalten, macht sich die Forscherin beispiels­weise immer auch selbst zum Teil der Unter­su­chung. In ihrem letzt­jäh­rigen „Foren­sick­ness“ zeichnet sie nach, wie in der Folge des Anschlags auf den Boston Mara­thon 2013 in News­groups darum gewett­ei­fert wurde, auf den Bildern von Fern­seh­sta­tionen und Über­wa­chungs­ka­meras die Schul­digen ausfindig zu machen. Dieser digital befeu­erte Deutungs­wahn entpuppt sich bei Galibert-Laîné als neuer Normal­zu­stand im Netz. Die Mischung aus nicht zu sätti­gender Sensa­ti­ons­lust und dem Ohnmachts­ge­fühl, dass das nur einen Klick entfernte heikle Mate­rial schon längst unsere Seh- und Versteh­fä­hig­keiten über­steigt, macht wilde Analytiker:innen und Sofa-Detektive aus uns allen. „Netno­gra­phie“ – so bezeichnet Chloé Galibert-Laîné die neue Forschungs­dis­zi­plin, die sie mit ihren Video­es­says entwi­ckelt: Die Erfor­schung mensch­li­chen Verhal­tens unter den audio­vi­su­ellen Bedin­gungen des Internet. Und sie zeigt uns dabei, dass wir bei unserem alltäg­li­chen Wühlen in den digi­talen Archiven der Gegen­wart mehr über uns selbst heraus­finden, als uns lieb sein kann.

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Das wäre denn auch der Unter­schied zwischen den selbst­hin­ter­fra­genden Arbeiten Galibert-Laînés und dem Monta­ge­video aus dem Impeachment-Prozess: Die Frage nämlich, was es bedeutet, dass es ja die Angreifer selber waren, die das Bild­ma­te­rial zu ihrer Verur­tei­lung lieferten und was es über die eigenen Selbst­bilder und Wahr­neh­mungs­ver­schie­bungen verrät, dass sie sich vor ihren Smart­phone­ka­meras wie die fiktio­nalen Figuren eines Action­films insze­nierten –all das wurde im Impeachment-Video nicht thema­ti­siert. Es ist aber etwas, was in Zukunft zu unter­su­chen wäre bei der erneuten Durch­sicht des Parler-Videomaterials – viel­leicht in video­es­say­is­ti­scher Form.

Verdrängtes sehen

Wo die Montage aus dem Impeach­ment immer schon weiß, worauf sie hinaus­will, verstehen sich Video­es­says weniger als fertige Analysen, sondern viel­mehr als Forschung in Aktion. Genau das macht sie auch für den Unter­richt so inter­es­sant, nicht nur zur Wissens­ver­mitt­lung, sondern vor allem auch als Labor, in dem Lehrende und Lernenden auf Augen­höhe zusam­men­ar­beiten können, um gemein­same Video­es­says zu machen. Wie thema­tisch viel­fältig und aktuell brisant das sein kann, was bei dieser audio­vi­su­ellen Forschung heraus­kommt, zeigt sich wenn man sich etwa die heraus­ra­genden Videoessays-Bestenlisten des letzten Jahres anschaut oder jüngst die Black Lives Matter Video Essay Play­list, die mitt­ler­weile bereits über 130 Titel umfasst.

Cydnii Wilde Harris, „Cotton – The Fabric of Geno­cide“; Screenshot

Eines der Videos „Cotton – The Fabric of Geno­cide“ von Cydnii Wilde Harris (welche die Play­list auch gemeinsam mit Will DiGravio und Kevin B. Lee kuriert hat) darf bereits als Klas­siker gelten: In gerade mal vier Minuten demon­tiert Wilde Harris kolo­nia­lis­ti­sche Geschichts­ver­klä­rung und zeigt Baum­woll­in­dus­trie und Skla­verei als einander gegen­seitig bedin­gende Systeme. Und dies allein, indem sie einen süßli­chen Doku­men­tar­film von 1938 über die ameri­ka­ni­sche Baum­woll­pro­duk­tion mit Szenen aus Steve McQueens „12 Years a Slave“ (2013) gegen­schneidet. Wenn sie anschlie­ßend Mate­rial aus heutigen Werbe­filmen für Baum­woll­pro­dukte einblendet, hat das einen radi­kalen Effekt: Wie in einem Vexier­bild wird schlag­artig nicht nur eine ganze Geschichte der Ausbeu­tung, sondern auch deren syste­ma­ti­sche Verdrän­gung im Bewusst­sein der weißen Konsum­ge­sell­schaft sichtbar. Plötz­lich sehen wir, was an histo­ri­schen Zusam­men­hängen in diesen Werbe­bil­dern immer schon drin­steckte, als Verheimlichtes.

Die Geschichte der Baum­wolle nicht mehr nur als Para­de­bei­spiel für ein Gefüge von Mensch, Technik, Natur, Waren­zir­ku­la­tion und Finanz­strömen, sondern endlich auch als ein „Gefüge von Gewalt“ zu verstehen, hat jüngst die Medi­en­wis­sen­schaft­lerin Ulrike Berger­mann vorge­schlagen. Cydnii Wilde Harris reißt dieses Gewebe auf, indem sie sich als schwarze Video­es­say­istin in dessen weiße Bild­welten hinein­be­gibt und sie von innen her sprengt. Sie führt damit exem­pla­risch vor, was bell hooks einmal als „oppo­si­tio­nellen Blick“ beschrieben hat: Einen Blick, der die domi­nanten Bild­welten der weißen Männer nicht einfach verwirft, sondern sich diese viel­mehr aneignet, sie ausein­an­der­nimmt und gegen ihre eigene inten­dierte Funk­tion in Stel­lung bringt. Der oppo­si­tio­nelle Blick macht damit in den Bildern einer Kultur gerade das sichtbar, was diese hatten aussparen wollen. Das wäre keine schlechte Absichts­er­klä­rung für Video­es­says schlechthin und dafür, was ihr Beitrag zu einer Geschichts­schrei­bung der Gegen­wart sein müsste.