Die Pandemie hat Menschen mit Behinderungen als „besonders vulnerable Gruppe“ kurzfristig in die Aufmerksamkeit gerückt. Doch sie hat lediglich schlaglichtartig sichtbar gemacht, was häufig nicht wahrgenommen wird – dass deren Existenz immer noch in vielerlei Hinsichten eine prekäre und gefährdete ist.

  • Markus Dederich

    Markus Dederich ist Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation sowie Vorsitzender der Deutschen Interdiziplinären Gesellschaft zur Förderung der Forschung für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.

In der Zeit der Covid-19-Pandemie rückten Menschen mit Behin­de­rungen, die unter den Bedin­gungen des „gesell­schaft­li­chen Normal­be­triebs“ eher im Hinter­grund und weit­ge­hend unbe­merkt bleiben, zumin­dest kurz­fristig in den Fokus der öffent­li­chen Aufmerk­sam­keit. Dabei wurden sie in ein größeres Kollektiv einge­reiht, nämlich den Reigen der Gruppen, die wir als „beson­ders vulnerabel“ zu bezeichnen gelernt haben. Und ohne Frage gehörten Menschen mit Behin­de­rungen zu denje­nigen, die beson­ders hart von der Pandemie, mehr aber noch von den Folgen der ergrif­fenen Schutz­maß­nahmen betroffen waren. In beson­derem Maße galt dies für Menschen mit geis­tigen und schwe­reren Behin­de­rungen, die in statio­nären Einrich­tungen leben.

Menschen mit Behin­de­rungen in statio­nären Einrich­tungen waren nicht nur dem erhöhten Risiko zu beson­ders schweren Krank­heits­ver­läufen ausge­setzt, sondern in beson­derem Maß von den restrik­tiven Maßnahmen zur Einhe­gung der Pandemie betroffen, die zur Folge hatten, dass ihre soziale und kultu­relle Teil­habe erheb­lich einge­schränkt wurde. Infolge der Kontakt­ver­bote, der oftmals ohnehin einge­schränkten Nutzung digi­taler Medien, des erheb­lich einge­schränkten Zugangs zu rele­vanten Infor­ma­tionen und anderem mehr, trugen sie auch ein erhöhtes Risiko, durch Angst, Isola­tion und Einsam­keit psychisch beein­träch­tigt zu werden.

Dass Menschen mit Behin­de­rungen zu den Gruppen gehörten, bei denen sich sehr unter­schied­liche Lebens­ri­siken bündeln, machte auch die Diskus­sion um Triage deut­lich, also die Frage danach, welchen Menschen im Falle eines Mangels an Behand­lungs­plätzen eine inten­siv­me­di­zi­ni­sche Behand­lung zwin­gend zu gewähren sei und welchen diese im Notfall vorent­halten werde könne. Damit war das Thema der „Selek­tion“ auf der Agenda, das zumin­dest in Deutsch­land aus guten Gründen mit den düsteren histo­ri­schen Erfah­rungen der NS-Euthanasie verbunden ist. Sicher­lich wurde in der Debatte über die Triage von vielen Seite betont, dass Menschen mit Behin­de­rungen durch die ange­strebte Rege­lung nicht benach­tei­ligt werden dürften – und diese Stimmen gewannen im Laufe der Zeit, u.a. in Folge eines Beschlusses des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Ober­hand. Dennoch wurde deut­lich, dass es einer weit verbrei­teten „Intui­tion“ zu entspre­chen scheint, dass Menschen mit Behin­de­rung mit zu den ersten Kandidat:innen gehören, die uns in den Sinn kommen, wenn über die Ratio­nie­rung von Gesund­heits­leis­tungen disku­tiert wird.

Nun sind Menschen mit Behin­de­rung nicht erst unter den Bedin­gungen der Pandemie zu einer beson­ders vulner­ablen Gruppe geworden. Viel­mehr hat die Pandemie wie unter einem Brenn­glas komplexe Vulnerabi­li­täten sichtbar gemacht, die bereits zuvor jenseits der Aufmerk­sam­keit einer brei­teren Öffent­lich­keit exis­tent waren. Was aber bedeutet „Vulnerabi­lität“?

Zum Begriff der Vulnerabilität

Der Begriff der Vulnerabi­lität wurde im 19. Jahr­hun­dert als medi­zi­ni­scher Fach­be­griff einge­führt. Abge­leitet vom latei­ni­schen Wort vulnus „Wunde“ bzw. vulnerare „verwunden“ bedeutet Vulnerabi­lität heute in einem allge­meinen und weiten Sinn „Verwund­bar­keit“ oder „Verletz­bar­keit“. Während ursprüng­lich eine Verletz­bar­keit des Körpers gemeint war, wird der Begriff heute mit Blick auf die Erschüt­ter­bar­keit, Störungs­an­fäl­lig­keit, Krisen­haf­tig­keit und Gefähr­det­heit nicht nur einzelner Menschen, sondern auch bestimmter sozialer Gruppen, poli­ti­scher Systeme, poli­ti­scher Systeme, tech­ni­scher Infra­struk­turen, der globalen Ökologie und anderem verwendet. Das macht deut­lich, dass die Bezeich­nung Vulnerabi­lität in den vergan­genen Jahr­zehnten eine beein­dru­ckende Karriere gemacht hat.

Betrachten wir die Verwen­dung des Wortes in den Human­wis­sen­schaften und der Philo­so­phie, dann wird zum einen deut­lich, dass hier eine Verwen­dungs­weise im Vorder­grund steht, die die Fragi­lität, Zerbrech­lich­keit und Endlich­keit der körper­li­chen bzw. leib­li­chen Exis­tenz des Menschen betont. Dieses Verständnis impli­ziert zum anderen eine Abkehr von einem primär als souverän, abge­grenzt und von seiner Auto­nomie und Hand­lungs­mäch­tig­keit her gedachten Subjekt­be­griff und eine Hinwen­dung zu Topoi wie Bezo­gen­heit, Rela­tio­na­lität, Ange­wie­sen­heit und Abhän­gig­keit des Subjekts. Ebenso bedeutsam ist auch, dass Vulnerabi­lität nicht einseitig als indi­vi­du­elle Eigen­schaft verstanden wird, die durch Resi­lienz abzu­fe­dern oder zu über­winden wäre. Vulnerabi­lität erklärt sich mit anderen Worten nicht allein durch eine onto­lo­gi­sche Gefähr­det­heit und Zerbrech­lich­keit mensch­li­cher Körper, sondern auch durch die nicht hinter­geh­bare Sozia­lität der Menschen, ihr Einge­bet­tet­sein in psycho­so­ziale, gesell­schaft­liche, poli­ti­sche und ökono­mi­sche Struk­turen, die gleich­zeitig Lebens­mög­lich­keiten eröffnen oder verschließen und die einzelnen Menschen schützen oder gefährden können. Solche Struk­turen setzen Menschen in Abhän­gig­keit von ihrer konkreten Lebens­wirk­lich­keit und sozialen Lage sehr unter­schied­li­chen Möglich­keiten des Verletzt­wer­dens aus. Zugleich gewähren sie sehr unter­schied­li­chen Möglich­keiten, die Risiken, denen die Menschen ausge­setzt sind, zu kompen­sieren. Daher gibt es auch im Hinblick auf die Vulnerabi­lität erheb­liche Ungleich­heiten, die nicht indi­vi­du­ellen, sondern sozialen Ursprungs sind. Das aber bedeutet, dass Vulnerabi­lität ohne die Berück­sich­ti­gung von Macht- und Gewalt­ver­hält­nissen sowie der Subjekt­po­si­tionen, die Menschen darin einnehmen bzw. zuge­wiesen bekommen, nicht ange­messen verstanden werden kann.

Verlet­zungs­mäch­tige Gefahrenlagen

Über­tragen wir dieses Verständnis von Vulnerabi­lität auf Menschen mit Behin­de­rungen, dann wird einer­seits deut­lich, dass die Pandemie eine Reihe von zusätz­li­chen Gefähr­dungen hervor­ge­bracht und sich für diesen Perso­nen­kreis als beson­ders verlet­zungs­mächtig erwiesen hat. Ande­rer­seits zeigt sich, dass sich ihre bereits prekäre Lage ledig­lich zuge­spitzt hat und sich so für einen sekun­den­kurzen histo­ri­schen Moment stärker als zuvor dem Bewusst­sein der Öffent­lich­keit aufge­drängt hat. Sichtbar wurde eine Preka­rität, die schon lange exis­tiert. Das lässt sich anhand einer ganzen Reihe sehr unter­schied­li­cher Phäno­mene belegen, von denen hier nur einige wenige genannt und kurz erläu­tert werden sollen.

Zunächst einmal ist die Praxis der präna­talen Diagnostik (PND) zu nennen. Ohne Zweifel gibt es unter­schied­liche Gründe und Motive, eine PND durch­zu­führen. Außer Zweifel steht indessen, dass es sich um eine gesell­schaft­liche Praxis handelt, die der syste­ma­ti­schen Suche nach Fehl­bil­dungen dient und zur Folge hat, dass die meisten Schwan­ger­schaften, bei denen es zu einem posi­tiven Befund kommt, abge­bro­chen werden. In einem Bericht des Büros für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung beim Deut­schen Bundestag aus dem Jahr 2019 heißt es: „Die Abbruch­raten nach präna­talen Befunden hängen vom jewei­ligen Befund ab; für die Triso­mien 21, 13 und 18 liegen sie erhe­bungs­über­grei­fend bei deut­lich über 85 %.“ Wie der Bericht konsta­tiert, offen­baren diese Zahlen „zum einen eine hohe Bereit­schaft, präna­tale Diagnostik zur Iden­ti­fi­ka­tion chro­mo­so­maler Aberra­tionen zu nutzen, und zum anderen eine hohe Bereit­schaft, Schwan­ger­schaften mit solch einer Diagnose abzubrechen“.

Darüber hinaus dürfte die Inter­pre­ta­tion nicht zu weit herge­holt sein, dass sich in diesen Zahlen die offen­sicht­lich immer noch weit verbrei­tete Ansicht arti­ku­liert, Behin­de­rung sei, was nicht sein soll. Entspre­chend gelten Maßnahmen zur Präven­tion von Behin­de­rungen, sei es durch PND oder durch syste­ma­tisch durch­ge­führte Unter­su­chungen sowie entspre­chende Präven­ti­ons­pro­gramme im Kindes­alter, nicht nur als legi­time Maßnahmen, sondern viel­fach als Inbe­griff eines verant­wor­tungs­vollen Gesundheitsbewusstseins.

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Merk­wür­di­ger­weise wird nur selten bemerkt, dass die Hoch­schät­zung der Präven­tion im Wider­spruch zu einem sozi­al­mo­ra­li­schen Postulat steht, das in einem großen Teil west­li­cher Gesell­schaften als zustim­mungs­pflichtig ange­sehen werden dürfte: das Postulat, dass Menschen mit Behin­de­rungen gerade als gleich­wer­tige Mitbürger:innen anzu­er­kennen sind und so weit wie möglich in die Gesell­schaft inklu­diert werden müssen. Der Präven­ti­ons­ge­danke folgt demge­gen­über einer entge­gen­ge­setzten Logik. Indem er mit binären Unter­schei­dungen wie unauf­fällig und auffällig, erwünscht und uner­wünscht operiert, erzeugt er hier­ar­chi­sche Diffe­ren­zie­rungen, die das inklu­sive Gebot der Gleich­wer­tig­keit unter­laufen und Behin­de­rungen als uner­wünschte Eigen­schaften oder Dispo­si­tionen markieren und über­haupt erst als Gegen­stände des Wissens hervorbringen.

In der Folge produ­ziert das Präven­ti­ons­dis­po­sitiv Effekte, die auf sehr unter­schied­liche Weisen den sozialen Status der betrof­fenen Menschen verän­dern und sie an prekäre Posi­tionen bindet. Während die selek­tive Praktik der Präna­tal­dia­gnostik unwei­ger­lich mit der Option verknüpft ist, das Leben mit einer Behin­de­rung von vorne­herein zu verhin­dern, zielen die Präven­ti­ons­prak­tiken des Kindes­al­ters darauf ab, mögliche Behin­de­rungen früh­zeitig zu erkennen, zu unter­binden und zu mini­mieren. Von hier aus gesehen drängt sich der Verdacht auf, dass das viel­fach wieder­holte Postulat, es sei normal, verschieden zu sein, in Bezug auf Menschen mit Behin­de­rungen in unserer Gesell­schaft weiterhin eine kontra­fak­ti­sche Behaup­tung bleibt.

Die „ableis­ti­sche“ Gesellschaft

Trotz aller unbe­streit­baren posi­tiven Entwick­lungen, die etwa in Folge der 2006 verab­schie­deten UN-Konvention über die Rechte behin­derter Menschen ange­stoßen wurden, zeigen Forschungen in den Disa­bi­lity Studies, dass wir in einer „ableis­ti­schen“ Gesell­schaft leben. Fiona Kumari Camp­bell, die diesen Begriff geprägt hat, versteht hier­unter „ein Netz­werk von Über­zeu­gungen, Prozessen und Prak­tiken, die eine eigen­tüm­liche Art von Selbst und Körper produ­zieren (den corpo­realen Stan­dard), der als perfekt, spezies­ty­pisch und deshalb essen­ziell und voll­wertig mensch­lich proji­ziert wird. Behin­de­rung wird so zu einem vermin­derten Zustand des Mensch­seins geformt“. Ableismus bewirkt, dass bestimmte Menschen aufgrund fähig­keits­be­zo­gener Merk­male (die im Falle vieler Behin­de­rungen diagnos­tisch objek­ti­viert werden können) als auf nega­tive Weise anders- oder fremd­artig wahr­ge­nommen werden. Dies hat zur Folge, dass die Fokus­sie­rung auf die tren­nenden Unter­schiede die Wahr­neh­mung von Ähnlich­keiten und verbin­denden Gemein­sam­keiten über­la­gert. Die Wirk­mäch­tig­keit des Ableismus zeigt sich darin, dass bestimmte Menschen gerade nicht eine will­kom­mene Hete­ro­ge­nität verkör­pern, sondern eher als beun­ru­hi­gend, viel­leicht sogar bedroh­lich wahr­ge­nommen werden. Ihre Gegen­wart verwischt scheinbar klare Grenzen zwischen Erwünschtem und Uner­wünschtem, stellt vertraute Maßstäbe, Konven­tionen und Norma­li­täts­er­war­tungen in Frage und droht, diese außer Kraft zu setzen.

Die sinn­lich erfahr­bare Präsenz von Menschen mit Behin­de­rungen wirkt wie die Konta­mi­na­tion einer Ordnung, die der Ableismus uns als eine natür­liche erscheinen lässt. Das ist nach Auffas­sung von Tobin Siebers, der sich mit dem Thema Behin­de­rung aus kultur­wis­sen­schaft­li­cher Perspek­tive befasst hat, der Grund dafür, dass Bestre­bungen zur Schaf­fung barrie­re­freier und damit poten­ziell inklu­siver öffent­li­cher Räume immer noch ein ganzes Ensemble an Wider­ständen und Abwehr­re­ak­tionen auslösen. Diese reichen von den bereits erwähnten selek­tiven Prak­tiken im Rahmen der Schwan­ger­schafts­vor­sorge über subtile affek­tive Aver­sionen, eine zähe Selbst­be­haup­tung sozi­al­dar­wi­nis­ti­scher Denk­muster und die Bezweif­lung des voll­wer­tigen Mensch­seins von Menschen mit geis­tiger Behin­de­rung bis hin zu unver­min­dert exis­tie­render struk­tu­reller und physi­scher Gewalt.

Anlass zur Sorge

So sehr also die Pandemie Menschen mit Behin­de­rungen kurz­fristig in den Fokus der Aufmerk­sam­keit gerückt hat, so deut­lich und unab­weis­lich ist auch, dass es sich unab­hängig davon um eine Gruppe handelt, deren Exis­tenz in vielerlei Hinsichten eine unver­än­dert prekäre und gefähr­dete ist. Es ist unbe­stritten, dass sich die Lebens­si­tua­tion von Menschen mit Behin­de­rungen in den vergan­genen fünfzig Jahren zum Teil erheb­lich verbes­sert hat. Zugleich leben wir in einer Zeit, in der univer­sale Werte welt­weit zuneh­mend in Frage gestellt werden und sich immer häufiger der Hass auf alles arti­ku­liert, was anders ist. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass auch Menschen mit Behin­de­rungen in Zukunft wieder zuneh­mend an den Rand der Gesell­schaft gerückt oder auf die eine oder andere Weise ausge­schlossen werden.