1986/87 diskutierten meist deutsche Intellektuelle die Frage der „Einzigartigkeit“ oder der „Vergleichbarkeit“ des Holocaust. In der Cause Mbembe haben sich die Fronten, die Beteiligten und Diskussionsverläufe grundlegend gewandelt – aber die politischen und ethischen Einsätze bleiben die gleichen.

  • Michael Rothberg

    Michael Rothberg ist Professor für Holocaust Studies und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California in Los Angeles (UCLA). Im Dezember erscheint auf Deutsch sein Buch "Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“.

1986 und 1987 wurde die west­deut­sche Öffent­lich­keit zum Schau­platz einer drama­ti­schen Debatte über Vor- und Nach­teile des Verglei­chens. In der Debatte, die als „Histo­ri­ker­streit“ bekannt werden sollte, disku­tierten einige der promi­nen­testen Intel­lek­tu­ellen und Jour­na­listen – darunter Jürgen Habermas, Ernst Nolte, Michael Stürmer, Andreas Hill­gruber, Rudolf Augstein und viele andere – in führenden Zeitungen über die – so der Unter­titel der ersten Doku­men­ta­tion über die „Kontro­verse“ – „Einzig­ar­tig­keit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Juden­ver­nich­tung”. Zur Debatte stand, was es bedeu­tete, ein Ereignis, das als einzig­artig galt, mit einer anderen Geschichte beson­derer Gewalt, in diesem Fall der des Gulags, zu vergleichen.

Auf der rechten Seite des poli­ti­schen Spek­trums argu­men­tierte insbe­son­dere Nolte, dass die stali­nis­ti­schen Verbre­chen und eine angeb­liche jüdi­sche „Kriegs­er­klä­rung“ gegen Deutsch­land als „Ursprung“ von Hitlers Genozid zu verstehen seien – eine Erklä­rung, die offen­kundig eine apolo­ge­ti­sche Funk­tion hatte. Für die Linken gehörte dieser Versuch, den Holo­caust durch die Gegen­über­stel­lung mit den stali­nis­ti­schen Verbre­chen zu rela­ti­vieren, zum Bestreben in den konser­va­tiven Kohl-Jahren, die natio­nalen Narra­tive Deutsch­lands neu auszu­richten. Insbe­son­dere Habermas reagierte auf Noltes Geschichts­re­vi­sio­nismus mit der Diagnose, dass dies ein gefähr­li­cher neokon­ser­va­tiver Versuch sei, eine tradi­tio­nelle, von jeder Verant­wor­tung für den Völker­mord gerei­nigte natio­nale Iden­tität wieder­auf­leben zu lassen. In den darauf­fol­genden Jahren haben Historiker:innen inner­halb und außer­halb Deutsch­lands weiter daran gear­beitet, die über­ge­ord­nete Bedeu­tung dieser Kontro­verse für die Bundes­re­pu­blik und die Erin­ne­rungs­po­litik genauer zu verstehen.

Eine neue Erinnerungskultur

Während der Histo­ri­ker­streit in den vergan­genen fünf­und­dreißig Jahren ein Prüf­stein für Debatten über den Natio­nal­so­zia­lismus geblieben ist, hatte sich die Welt schon bald nach der anfäng­li­chen Kontro­verse drama­tisch verän­dert. Die Berliner Mauer fiel und die beiden Nach­fol­ge­staaten des „Dritten Reichs“ wurden in der neuen Berliner Repu­blik verei­nigt. Mit dem Ende des Kalten Krieges verschob sich die Bedeu­tung des Holo­caust: Er nahm eine zentrale Rolle in der Erin­ne­rungs­kultur ein, die wir heute als selbst­ver­ständ­lich ansehen, die aber – wie der Histo­ri­ker­streit zeigt – in den 1980er Jahren erst im Entstehen begriffen war.

Die neue Zentra­lität des Holocaust-Gedenkens in Deutsch­land, Europa, den USA und – in unter­schied­li­chem Ausmass – im globalen Bewusst­sein lässt sich leicht an ein paar exem­pla­ri­schen lieux de mémoire („Erin­ne­rungs­orten“) fest­ma­chen: die Eröff­nung des United States Holo­caust Memo­rial Museum in Washington D.C. und Steven Spiel­bergs welt­weite Film­sen­sa­tion Schind­lers Liste (1993); die Stock­holmer Erklä­rung von 2000, die das Gedenken an den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Völker­mord in den Mittel­punkt der euro­päi­schen Iden­tität rückte; und schliess­lich, nach jahre­langen Debatten und Kontro­versen, die Einwei­hung des riesigen Denk­mals für die ermor­deten Juden Europas im Zentrum von Berlin (2005). In der rasch wach­senden Holocaust-Gedächtniskultur der 1990er und frühen 2000er Jahre kann man den Sieg der Habermas’schen Perspek­tive sehen: Die Singu­la­rität des Holo­caust wurde mit einer kosmo­po­li­ti­schen Erin­ne­rungs­kultur und einem univer­sellen Menschen­rechts­re­gime verbunden, um genau jene Form eines engem Natio­na­lismus zu unter­laufen, die Habermas in der neokon­ser­va­tiven Posi­tion Noltes erkannte.

Ein Sprung ins Jahr 2020, und der intel­lek­tu­elle und poli­ti­sche Kontext hat sich erneut drama­tisch verän­dert. Obwohl das Holocaust-Gedenken seinen Status als Prüf­stein der ameri­ka­ni­schen, israe­li­schen, deut­schen und euro­päi­schen poli­ti­schen Kultur behalten hat, koexis­tiert es nun auf unbe­hag­liche Weise mit einem neuen, globalen Rechts­ruck. Der Brexit, die Wahl von Trump, der Aufstieg der AfD, die anhal­tende Herr­schaft Netan­jahus über die israe­li­sche Politik und die offen revi­sio­nis­ti­schen Regie­rungen in Polen und Ungarn sind nur einige der jüngsten Erschei­nungen, die zeigen, wie sehr sich der Kontext verän­dert hat, in dem wir heute über die Bedeu­tung der Vergan­gen­heit nachdenken.

Während die Vertei­di­gung Israels in der Rechten weit verbreitet ist, blühen dort, und häufig am glei­chen Ort, auch Anti­se­mi­tismus und Holocaust-Relativierung. Dass sich die Bedeu­tung des Holocaust-Gedenkens geän­dert hat, liegt jedoch nicht nur am Aufstieg der popu­lis­ti­schen Rechten. Indem der Ruf nach einer grös­seren Aufmerk­sam­keit für die Geschichte des Kolo­nia­lismus, der Skla­verei und des anti-schwarzen Rassismus in der Öffent­lich­keit immer lauter wurde, haben auch Strö­mungen, die mit der Linken verbunden sind, die Frage nach der Zentra­lität der Shoah verkom­pli­ziert. Mit anderen Worten: In den letzten Jahren konnte man eine – sowohl durch rechte als auch linke Einflüsse bewirkte – Verschie­bung dessen beob­achten, was nach dem Histo­ri­ker­streit und nach dem Kalten Krieg die Erin­ne­rungs­kultur defi­niert hatte.

In diesem verän­derten und span­nungs­ge­la­denen Umfeld hat sich in Deutsch­land etwas ereignet, das einige bereits als „Histo­ri­ker­streit 2.0“ bezeichnet haben: die Kontro­verse um das Werk des in Südafrika lebenden kame­ru­ni­schen Intel­lek­tu­ellen Achille Mbembe. Wie weit lassen sich nun diese beiden Kontro­versen über das Verglei­chen ihrer­seits verglei­chen? Ich möchte zeigen, dass die Causa Mbembe helfen kann, nicht nur der heutigen Politik des Verglei­chens auf die Spur zu kommen, sondern auch ein neues Licht auf den dama­ligen Histo­ri­ker­streit zu werfen.

Histo­ri­ker­streit 2.0

Mbembe, einer der welt­weit promi­nen­testen Theo­re­tiker von „Rasse“, Kolo­nia­lismus, Gewalt und mensch­li­chen Abgründen, sollte im August 2020 in Deutsch­land auf der Ruhr­tri­en­nale spre­chen. Der kultur­po­li­ti­sche Spre­cher der FDP-Landtagsfraktion, Lorenz Deutsch, versuchte Mbembes Auftritt mit einem offenen Brief zu verhin­dern, der eine Hand­voll Zitate aus Mbembes Werk enthielt, in denen der Holo­caust, die Apart­heid und die israe­li­sche Besat­zung Paläs­tinas erwähnt wurden. Auf der Grund­lage dieser kurzen und aus dem Zusam­men­hang geris­senen Auszüge beschul­digte Deutsch Mbembe der „antisemitische[n] ‘Isra­el­kritik’, Holo­caust­re­la­ti­vie­rungen und extremistische[n] Desin­for­ma­tion“. Deutschs Inter­pre­ta­tion von Mbembes Werk – die ich für tenden­ziös, partei­isch und irre­füh­rend halte –, wurde von Felix Klein, dem Beauf­tragten der Bundes­re­gie­rung „für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tismus“, aufge­griffen. Deutsch und Klein verlangten, dass Mbembe von der Ruhr­tri­en­nale ausge­laden werde, da dieser angeb­lich den Holo­caust profa­ni­siere, Israel dämo­ni­siere und die BDS-Kampagne unter­stütze (eine gewalt­freie Kampagne, die das Ende der Besat­zung, die Rück­kehr der Flücht­linge und die Gleich­be­rech­ti­gung der Paläs­ti­nenser fordert). Mbembe behaup­tete, „kein Mitglied oder Unter­stützer des BDS“ zu sein, aber selbst eine mögliche Berüh­rung mit der Bewe­gung reicht im heutigen Deutsch­land aus, den Ruf von jemandem zu schä­digen – was auch Peter Schäfer, der Direktor des Jüdi­schen Museums Berlin, im vergan­genen Jahr erfahren musste.

Weil jetzt wieder die Singu­la­rität des Holo­caust im Zentrum einer hoch­po­li­ti­schen Debatte steht, ist „Histo­ri­ker­streit 2.0“ ein nach­voll­zieh­bares Kürzel für die aktu­elle Kontro­verse. Das sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, wie sehr die neue Debatte von der alten abweicht – und diese sogar in ein neues Licht rückt. Wie beim ursprüng­li­chen Histo­ri­ker­streit, warfen auch hier promi­nente Intel­lek­tu­elle ihr Gewicht in die Waag­schale und wurden scharfe Trenn­li­nien gezogen. Fast voll­ständig verän­dert hatte sich jedoch die perso­nelle Beset­zung (wahr­schein­lich nur Micha Brumlik hat an beiden Debatten teil­ge­nommen): Während die Betei­ligten am Histo­ri­ker­streit von 1986/87 sich in erster Linie auf eine Kohorte deut­scher männ­li­cher Intel­lek­tu­eller beschränkte, die die Nazi­zeit erlebt hatten, bezog die jüngste Debatte die Nach­kriegs­ge­nera­tionen ein und war auch promi­nent mit Frauen besetzt, darunter Aleida Assmann, Susan Neiman und Eva Illouz. Darüber hinaus war die Debatte inter­na­tio­naler geworden, nicht nur wegen der Betei­li­gung von Mbembe selbst, sondern auch, weil sich eine Reihe israe­li­scher Intel­lek­tu­eller sowie briti­scher und US-amerikanischer Wissen­schaftler – etwa der Autor dieses Beitrags – in die Diskus­sion einbrachten.

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Die promi­nente Rolle, die Israel in der Causa Mbembe spielt und die in der früheren Debatte keine Paral­lele hat, verweist auf zwei weitere Unter­schiede. Ange­sichts des breiten Konsenses in Deutsch­land, als Teil der deut­schen Verant­wor­tung hinter Israel zu stehen, war die klare Unter­schei­dung von rechts und links, die die frühere Debatte kenn­zeich­nete, in der neueren eini­ger­massen verwischt. Ich werde weiterhin von links und rechts, von fort­schritt­li­chen und konser­va­tiven Lagern spre­chen, obwohl zwei­fellos wahr ist, dass einige, die Mbembe kriti­sierten, sich als Linke verstehen, während mir keine Linken einfallen, die sich auf Noltes Seite gestellt hätten. Und schliess­lich zeigte der Bezug auf Israel, zusammen mit der Bedeu­tung, die Apart­heid und das kolo­niale Erbe in der Mbembe-Debatte hatten, inwie­weit die Geschichten, die hier verhan­delt wurden, weit über die Grenzen des euro­päi­schen Konti­nents hinausgehen.

Eine vorläu­fige Einschätzung

Auch wenn die Debatte noch nicht abge­schlossen ist, lässt sich jetzt schon fest­halten, dass 1986 der Akt des Verglei­chens eindeutig zum Arsenal der konser­va­tiven Denker gehörte, im Jahr 2020 hingegen von Konser­va­tiven verspottet und von Progres­siven wie Brumlik und Assmann vertei­digt wurde. Was hat sich geän­dert? Ich glaube nicht, dass es einen grund­le­genden Wandel der histo­ri­schen Metho­do­logie gegeben hat. Schließ­lich war der Vergleich schon immer zentral für die Geschichts­schrei­bung, auch wenn sich das Fach­ge­biet der verglei­chenden Völker­mord­for­schung gerade erst in den Jahren zwischen Histo­ri­ker­streit 1.0 und Histo­ri­ker­streit 2.0 entwi­ckelt hat. Eher müsste man sagen, dass sich die Erin­ne­rungs­kultur in diesen Jahren veränderte.

Denn tatsäch­lich ging es beim Histo­ri­ker­streit, wie Jeffrey Olick bemerkte, weniger um Geschichte als um Erin­ne­rung, d.h. um die Bedeu­tung der Vergan­gen­heit für die Gegen­wart. Bezeich­nen­der­weise waren die 1980er Jahre die Zeit, in der Bürger­initia­tiven für die Ausein­an­der­set­zung mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Erbe wegwei­send waren und dazu beitrugen, das zu schaffen, was heute als „deut­sches Modell“ der Erin­ne­rung und Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung bekannt ist. Seit den 1990er Jahren ist die Aufar­bei­tung jedoch zur offi­zi­ellen Staats­po­litik geworden und hat ihre aufrüh­re­ri­sche Qualität verloren.

Mit der Konso­li­die­rung der offi­zi­ellen Holocaust-Gedächtniskultur in den zwei Jahr­zehnten nach der Wieder­ver­ei­ni­gung drangen andere Fragen an die Ober­fläche, die in den Debatten der 1980er Jahre nicht zur Sprache gekommen waren. Vor allem gab es neue Vergleichs­punkte. Zwar ist die Gegen­über­stel­lung von Natio­nal­so­zia­lismus und Stali­nismus, zumin­dest in Osteu­ropa, nach wie vor ein heißes Thema. Doch in anderen Teilen der Welt – und auch in Deutsch­land – stehen kolo­niale Gewalt, Skla­verei und allge­meiner: anti-schwarzer Rassismus heute in den Diskus­sionen um die Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ganz oben auf der Tagesordnung.

Während Mbembe selbst den Holo­caust nur selten mit kolo­nialem Rassismus vergleicht und seine wich­tigsten Texte wohl auch nicht als Beiträge zum Problem des kultu­rellen Gedächt­nisses versteht, wurde in der Debatte um sein Werk und anläss­lich seiner Ausla­dung häufig auf diese Themen Bezug genommen. Der Vergleich von kolo­nialer Gewalt mit dem Völker­mord der Natio­nal­so­zia­listen hat – wie ich in meinem Buch Multi­di­rek­tio­nale Erin­ne­rung zeige eine Tradi­tion, die bis in die frühen Nach­kriegs­jahre zurück­reicht. Aber der Akti­vismus nami­bi­scher und Schwarzer deut­scher Aktivist:innen hat ihn inzwi­schen zu einer unver­meid­li­chen, wenn auch immer noch häufig margi­na­li­sierten Verweis in den öffent­li­chen Debatten in Deutsch­land gemacht.

Es ist genau diese Verschie­bung der Erin­ne­rungs­kultur weg von der allein bila­te­ralen Gegen­über­stel­lung Natio­nal­so­zia­lismus vs. Stali­nismus hin zu einem offe­neren und globa­leren Rahmen des Verglei­chens, die den Unter­schied zwischen den beiden histo­ri­schen Debatten ausmacht. Aus der Perspek­tive der post­ko­lo­nialen Kritik und einer globa­li­sierten Erin­ne­rungs­kultur wirft die Causa Mbembe daher ein erhel­lendes Licht auf den Histo­ri­ker­streit 1.0und die Grenzen der in den 1980er Jahren arti­ku­lierten progres­siven Posi­tion. Habermas‘ expli­zites Ziel bei der öffent­li­chen Verur­tei­lung von Nolte und anderen Konser­va­tiven war der Schutz dessen, was er „die größte intel­lek­tu­elle Errun­gen­schaft unserer Nach­kriegs­zeit“ nannte: „die vorbe­halt­lose Öffnung der Bundes­re­pu­blik gegen­über der poli­ti­schen Kultur des Westens“. Für Habermas bedeu­tete dies, sich einen „Verfas­sungs­pa­trio­tismus“ zu eigen zu machen und „verbind­liche univer­sa­lis­ti­sche Verfas­sungs­prin­zi­pien“ zu bejahen. Der US-amerikanische Lite­ra­tur­kri­tiker Vincent Pecora war einer der wenigen frühen Kommen­ta­toren, der fest­stellten, dass Habermas’ „Rhetorik auf subtile Weise dazu dient, […] den Westen von seiner eigenen offen­sicht­li­chen Mitschuld nicht nur an den deut­schen Kriegs­ver­bre­chen, sondern auch an dem langen Narrativ der west­li­chen Impe­ri­al­herr­schaft frei­zu­spre­chen“. Ohne den Wert der Verfas­sungs­prin­zi­pien, die Habermas im Rück­blick auf eine faschis­ti­sche Diktatur arti­ku­liert hatte, in Abrede stellen zu wollen, muss gesagt werden, dass ein vorbe­halt­loses Bekenntnis zum „Westen“ für dieje­nigen hohl klingen muss, deren Gesell­schaften Jahr­hun­derte euro­päi­scher und US-amerikanischer impe­rialer Herr­schaft erfahren haben.

Jenseits aller Vergleiche: Die Frage der Verantwortung

Hinter der Kontro­verse um den Vergleich lauern noch wich­ti­gere Fragen: Das Problem war nie das Verglei­chen als solches, das Problem war die poli­ti­sche und histo­ri­sche Verant­wor­tung. Eine Gegen­über­stel­lung von Gulag und Ausch­witz ist an sich nicht undenkbar. Doch wie sie jemand macht und warum: Darin liegt in ethi­scher und poli­ti­scher Hinsicht der sprin­gende Punkt. Ein Denken in ethi­schen und poli­ti­schen Begriffen zeigt sowohl Konti­nui­täten als auch die Umkeh­rung der Posi­tionen, die Konser­va­tive und Progres­sive in den beiden Debatten einge­nommen hatten. Wo der Histo­ri­ker­streit 1.0 ein Versuch Noltes und andere Konser­va­tiver war, die Verant­wor­tung für den Völker­mord der Natio­nal­so­zia­listen zu rela­ti­vieren, so stellte der Histo­ri­ker­streit 2.0 den Versuch von Kriti­kern Mbembes dar, die Verant­wor­tung dafür zwar zu über­nehmen, sie aber gezielt dazu einzu­setzen, um weitere Verant­wort­lich­keiten und ihre ethi­schen und poli­ti­schen Impli­ka­tionen zu vermeiden. Insbe­son­dere die Vertei­di­gung der Einzig­ar­tig­keit des Holo­caust und die Über­wa­chung der Grenzen dessen, was seltsam genug als „Isra­el­kritik“ bezeichnet wird, tragen dazu bei, die Verant­wor­tung für andere deut­sche Gräu­el­taten wie den Völker­mord an den Herero und Nama und allge­meiner die Betei­li­gung am Kolo­nia­lismus zu verdrängen und von der deut­schen Verstri­ckung in die Enteig­nung der Paläs­ti­nenser abzu­lenken. Gerade diese Verstri­ckung – zunächst gekenn­zeichnet durch die Entste­hung eines neuen Flücht­lings­pro­blems in Paläs­tina – hat Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler  Herr­schaft“ fest­ge­halten, einer Studie, die als eine der ersten eine kolo­niale Herkunft der Nazi­ver­bre­chen nahelegte.

Die verän­derte Haltung der Linken zur Vergleich­bar­keit unter­scheidet sich von jener der Rechten grund­le­gend: In der Mbembe-Affäre begrüßte die Linke den Vergleich, statt wie im ursprüng­li­chen Histo­ri­ker­streit davor zu warnen. Doch diese Vertei­di­gung des Vergleichs mit der kolo­nialen Vergan­gen­heit bedeu­tete für sie keine Verschie­bung in der Frage der Verant­wor­tung für den Holo­caust. Die progres­sive Posi­tion wie jene von Assmann und Brumlik zielt nicht darauf ab, Deutsch­land von dem in den 1980er Jahren entstan­denen Erinnerungs- und Verant­wor­tungs­re­gime zu befreien. Viel­mehr lässt sie sich davon inspi­rieren, um den Blick für weitere Verstri­ckungen zu öffnen. Die Logik der progres­siven Posi­tion ist kein Null­sum­men­spiel und kein Entweder-Oder; sie ist eine Erwei­te­rung der deut­schen Erin­ne­rungs­kultur, die auch das Poten­zial für eine multi­di­rek­tio­nale Revi­sion der Erin­ne­rung jenseits des Rest-Eurozentrismus birgt.

Das auf beiden Seiten begrenzte Terrain des Vergleichs im Histo­ri­ker­streit 1.0 deutet auf den produk­tiven Fort­schritt hin, der in der neuen Debatte über einen primär natio­nalen Rahmen hinaus erzielt wurde. Die Gegen­über­stel­lung der Versionen 1.0 und 2.0 – sowie die in Deutsch­land und anderswo anhal­tenden, breit geführten Diskus­sionen über die Erin­ne­rung an den Holo­caust, Kolo­nia­lismus, Skla­verei und Israel/Palästina – verdeut­licht die Notwen­dig­keit, Erin­ne­rung mit Soli­da­rität und histo­ri­scher Verant­wor­tung zu verbinden, d.h. mit den ethi­schen und poli­ti­schen Verpflich­tungen, wie öffent­liche Formen des Geden­kens sie voraus­setzen. Jenseits des Verglei­chens liegt daher in jedem Fall die Verstri­ckung der Intel­lek­tu­ellen in die Geschichten, über deren Vergleich­bar­keit sie streiten. Verein­facht ausge­drückt kann man sagen, dass der ursprüng­liche Histo­ri­ker­streit eine Ausein­an­der­set­zung der Deut­schen über die beson­dere Verant­wor­tung Deutsch­lands für den Holo­caust beinhal­tete. In den neuen Diskus­sionen sind die Teil­nehmer nicht alle Deut­sche, und die Geschichten, um die es geht, sind mehr als euro­pä­isch. Weit davon entfernt, die Verwick­lung der Teil­nehmer in histo­ri­sche und gegen­wär­tige Unge­rech­tig­keiten zu verwäs­sern, schärft diese Erwei­te­rung des Vergleichs­feldes jedoch die Frage nach der Verant­wor­tung. Der neue Histo­ri­ker­streit ist eine Kontro­verse nicht nur für Deut­sche und Euro­päer – es ist aber auch eine, der sie sich nicht entziehen können.

 

Über­set­zung (leicht gekürzt): sh./phs.
Photo-credit für das Porträt von M. Roth­berg: David Wu, UCLA Alan D. Leve Center for Jewish Studies